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Es besteht vielleicht die winzige Möglichkeit, dass Novack anruft? Nicht dass Rina tatsächlich etwas gesagt hätte. Sie hatte ihm einfach nur einen dieser Blicke zugeworfen. Und ihre tatsächliche Frage lautete dann auch: »Soll ich die Flugtickets umbuchen?« Worauf Decker mit einem beleidigten »Nein, natürlich nicht« geantwortet hatte und aus der Tür verschwunden war, bevor sie sehen konnte, wie er rot wurde.
Jetzt marschierten sie - Novack und Decker - den Broadway entlang, zwischen 75. und 80. Straße. Die ganze Gegend pulsierte vor Leben, und es wimmelte von jungen Leuten, die all das nutzten, was die Upper West Side zu bieten hatte: Cafes, Restaurants, Bars und zahlreiche Geschäfte. Nicht solche überteuerten Boutiquen wie auf der Fifth oder Madison Avenue, sondern Drugstores, Buchhandlungen, Spirituosenläden und Lebensmittelgeschäfte. Es war ein kühler, feuchter Abend, und Decker trug einen dicken Mantel - ein altes, schweres Wollteil, das er vor fünfundzwanzig Jahren erstanden hatte, als er mit seiner ersten Frau im Winter in London Urlaub machte. Die Reise war eine Katastrophe gewesen, aber er hatte zumindest nicht ge froren.
Novack trug einen schwarzen Anorak. »Während Sie beim Schabbat-Gottesdienst den Herrn gelobt haben, war ich nicht untätig. Das ist natürlich mein Job. Ich wollte Ihnen nur versichern, dass hier nicht nur Schwarzröcke rumlaufen.«
Decker sah ihn überrascht an. »Warum sollte ich so etwas denken?«
Doch Novack wechselte das Thema: »Um noch mal auf die Geschichte mit der Toilette zurückzukommen - ich hab das überprüfen lassen. Auf dem Rand waren Spritzer. Ich hätte eigentlich selbst drauf kommen müssen. Natürlich ist es leichter, wenn man nur einen statt zwanzig Fälle gleichzeitig bearbeiten muss und sich die eigene Stadt nicht im Belagerungszustand befindet.«
»Absolut richtig«, pflichtete Decker ihm bei.
»Trotzdem hatte ich wegen dieser Geschichte ein schlechtes Gewissen. Aber so bin ich wenigstens in die Gänge gekommen -was so schlecht auch nicht ist. Also hab ich ein paar der Telefonnummern auf der Mappe, dieser Emek-Refa'im-Broschüre, angerufen. Es ging aber niemand ans Telefon. Und dann dämmerte es mir endlich.« Er schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. »Es ist Schabbes. Da geht keiner ans Telefon. Also hab ich es mit dem guten alten Telefonbuch probiert. und die Namen rausgesucht.«
»Das hört sich nach einer Menge Arbeit und viel Lauferei an.«
»Stimmt. Aber was soll's: Die Knicks spielen am Sonntag wieder - dann seh ich mir eben morgen das Spiel an. Also, diese ganze Geschichte war ziemlich verwirrend: Die Ortsgruppen treffen sich in der City, aber kein einziger der Namen ist in der City aufgeführt. Und dann ging mir schlagartig ein Licht auf: Das sind Chassidim, die wahrscheinlich genau wie Ephraim in Brooklyn wohnen, sich aber in der City treffen, weil sie nicht wollen, dass irgendjemand aus ihrem Viertel erfährt, dass sie ein Problem haben. Anonymität, verstehen Sie? Also hab ich im Brooklyn-Verzeichnis nachgeschlagen, und siehe da: Treffer! Da niemand ans Telefon ging, bin ich einfach hingefahren.«
Decker nickte. »Und was passierte dann, als Sie so einfach vor der Tür standen?«
»Man war nicht gerade erfreut, aber ich war diskret. Ich hab etwa drei, vier Männer abgeklappert. und eine Frau. Als dieser Typ namens Ari mir sagte, dass er Ephraim kenne, hat es mich fast umgehauen.«
»Wusste er, dass Ephraim ermordet worden ist?«
»Ja. Er war ziemlich aufgewühlt deswegen. Ich könnte nicht sagen, wer mehr Fragen gestellt hat, er oder ich. Na, wie auch immer, jedenfalls konnte er nicht offen reden - schließlich darf seine nette, kleine Frau nicht wissen, was Sache ist -, und deshalb hat er mich gefragt, ob wir uns nicht hier in einem koscheren Restaurant treffen könnten.«
»Hat er keine Angst, erkannt zu werden?«
»Er sagt, das sei kein Problem. Niemand würde ihn erkennen, weil er in Zivil käme. Ich nehm mal an, dass er damit eine andere Kleidung als die chassidische Tracht meint.«
»In Zivil?«, fragte Decker. »Hat er das so gesagt?«
»Hat er. Diese ganze Geschichte mit HaSchems Heer, dem Heer Gottes. ich schätze, diese Jungs nehmen die Sache echt wörtlich.«
Marvad Haksamim, der Name des Lokals, bedeutete auf Hebräisch »Fliegender Teppich«. Das ganze Restaurant war übersät mit Teppichen: Teppichen an den Wänden, auf dem Boden und ein riesiger Teppich unter der Decke, der das Lokal wie ein Zelt erscheinen ließ. Vor den Fenstern leuchteten bunte Lichterketten, und um die Tür herum hingen mehrere gerahmte Bilder von Jerusalem. Nichtsdestotrotz schmückten Stoffservietten und Tischtücher die mit Kerzen und frischen Blumen dekorierten Tische. Auch die Weinkarte konnte sich sehen lassen. Decker gönnte sich ein Glas Cabernet. Novack bestellte ein Bier.
Ari Schnitman, dessen Zivilkleidung aus einem schwarzen Polohemd, Jeans und Turnschuhen bestand, spielte mit einem Glas Mineralwasser. Statt der üblichen jarmulke oder dem schwarzen Hut ruhte eine gewirkte kippah auf seinem Kopf Aber da seine Haare sehr kurz waren, ließ sich die Kappe nicht mit Haarklemmen befestigen und drohte ständig bergab zu rutschen. Schnitman war Anfang dreißig, hatte einen sorgfältig g estutzten Bart, eine aschfahle Gesichtsfarbe und hellgrüne Augen hinter einer Nickelbrille. Sein Gesicht war schmal, genau wie seine Hände. Decker hatte ihn begrüßt, während er bereits saß. Ihm war klar, dass er Schnitman turmhoch überragen würde, sobald sie aufstehen und sich verabschieden würden.
In der Mitte des Tischs stand eine Vorspeisenplatte mit pikanten Mohren, Kartoffeln mit Zwiebeln und Essig, Oliven, Essiggemüse, Kichererbsenmus, Auberginensalat und Merguez, einer scharfen, vor Öl triefenden Wurst.
Niemand rührte die Platte an.
Schnitman war nervös. Seine Stimme ging kaum über ein Flüstern hinaus. Decker musste sich anstrengen, um ihn vor dem Hintergrund der Geräuschkulisse im Lokal überhaupt verstehen zu können. »Es ist nicht so, dass ich glaube, diese Tragödie hätte was mit Emek Refa'im zu tun. Ich weiß, dass das nicht der Fall ist. Aber diese Geschichte - abgesehen davon, dass sie furchtbar ist. ich mochte Ephraim, wirklich -. also diese Geschichte ist verheerend für die Moral.«
»Verheerend? Inwiefern?«, fragte Novack.
»Na ja. der Gedanke, dass er vielleicht rückfällig geworden ist. Ephraim hatte gerade erst sein Jubiläum gefeiert. er war seit zwei Jahren clean. Die Vorstellung, dass ein Rückfall nicht nur zwei Jahre harte Arbeit zunichte gemacht, sondern ihn auch das Leben gekostet hat. dieser Gedanke ist einfach schrecklich.«
»Sie glauben also, es war ein Drogendeal, bei dem was schief gelaufen ist?«, fragte Novack.
»Danach klang es jedenfalls. Ich habe gehört, dass die Polizei ihn nackt in einem Hotelzimmer gefunden hat und dass der Mord wie eine Exekution aussah.«
Weder Novack noch Decker reagierten darauf.
Schnitman ließ den Kopf in die Hände sinken. Dann blickte er w ieder auf. »Wer nie drogenabhängig gewesen ist, weiß nicht, wie schwer das Ganze für uns Abhängige ist. Ich sage deshalb >Abhängige<, weil wir vielleicht nicht mehr körperlich abhängig sind, aber unser ganzes Leben lang psychisch abhängig bleiben werden. Es ist eine Frage der Persönlichkeit. Die Sucht ist eine Krankheit, fast wie Aids. Sie ist immer da. Aber man lernt, damit umzugehen. Und wenn du sie nicht mit Respekt behandelst, bringt sie dich um.«
»Seit wann kam Ephraim regelmäßig zu den Treffen Ihrer Gruppe?«, fragte Decker.
»Seit dreieinhalb Jahren. Die beiden letzten Jahre war er clean wie ich schon sagte.«
»Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?«
»Beim letzten Treffen. Dienstagabend.«
»Und da war alles in Ordnung?«, fragte Novack.
»Ja, ja, natürlich.« Aber Schnitman wirkte plötzlich abweisend.
»Sind Sie sicher?«, hakte Decker nach. »Es gab nichts, was ihn beschäftigte?«
»Irgendetwas beschäftigt einen immer, wenn man abhängig ist.«
»Nichts Ungewöhnliches?«
»Er war. nervös.« Der junge Mann seufzte. »Aber das ist nichts Außergewöhnliches. Während der ersten Jahre ohne Drogen. da ist man ständig nervös.«
»Hören Sie, niemand hier möchte Ihnen unterstellen, Sie hätten nachlässig gehandelt oder etwas falsch gemacht«, versicherte Decker. »Wir stellen diese Fragen nur, weil wir Informationen brauchen. Wenn Sie uns sagen, dass er nervös wirkte, dann müssen wir natürlich fragen, was mit ihm los war.«
»Ich weiß es nicht. Obwohl ich ihn gefragt habe. ob ihn etwas beunruhigen würde. Ob er vielleicht Hilfe brauchte. Aber e r sagte, dass es nichts mit Drogen zu tun hätte. Dass es etwas Persönliches sei. Ich hab ihn gefragt, ob er darüber reden wolle, aber er sagte Nein, es wäre alles in Ordnung. Er hätte alles unter Kontrolle.« Schnitman stiegen Tränen in die Augen. »Ich schätze mal, er hatte nicht alles unter Kontrolle. Aber woher hätte ich das wissen sollen?«
»Das konnten Sie nicht wissen«, sagte Decker.
»Haben Sie irgendeine Idee, was das für private Probleme gewesen sein könnten?«, fragte Novack.
»Nein.«
»Vielleicht Geldprobleme?«
»Keine Ahnung. Eine der Regeln, auf die wir in den Gruppen großen Wert legen, lautet, nicht zu früh auf Bekenntnisse zu drängen. Denn das kann schwer wiegende Konsequenzen haben. Unser Entzugsprogramm ist gestaffelt; die Teilnehmer absolvieren es in ihrem eigenen Tempo. Und außerdem deutete nichts darauf hin, dass Ephraims Probleme irgendwie ungewöhnlich gewesen wären.«
Alle drei schwiegen.
Nach einer Weile fuhr Schnitman fort: »Aber offenbar müssen sie doch ungewöhnlich gewesen sein, sonst wäre das Ganze nicht passiert.« Er wischte sich über die Augen. »Ich werde mich mal waschen gehen.«
»Ich komme mit«, sagte Decker.
»Weiß jemand, wo hier die Örtlichkeiten sind?«, fragte Novack.
»Im hinteren Teil.«
Schnitman und Decker standen auf, um zum Waschbecken zu gehen. Wie erwartet, überragte Decker den anderen turmhoch, und Schnitman schien noch mehr in sich zusammenzusinken, als er den Größenunterschied bemerkte. Sie wuschen sich die Hände, sprachen den Segen, während sie warmes Pitabrot aßen, und gingen schweigend zurück zum Tisch, wo Novack aufstand und sich kurz entschuldigte.
Schnitman nahm sich ein Stück Fladenbrot aus dem Korb, tunkte es in das Kichererbsenmus und schob es mit der Paste in den Mund. »Ich hatte keine Ahnung, dass er wirklich in Schwierigkeiten steckte, Lieutenant. Er war nicht sehr... gesprächig. Außerdem schien alles in Ordnung zu sein. Ich habe es wirklich nicht gewusst!«
»Nein, das konnten Sie auch nicht.« »Das Ganze ist einfach schrecklich.«
»Ja«, sagte Decker. »Hat Ephraim je von seiner Nichte gesprochen?«
»Shayndie? Ja, ständig.« Schnitman bediente sich ein zweites und schließlich ein drittes Mal. Sein Appetit schien zurückzukehren. Er häufte Mohren, Oliven und Auberginensalat auf seinen Teller. »Sie war ein Ruhepol in seinem Leben, jemand, für den er ein Vorbild sein konnte. Er hat sie sogar mal zu einem Treffen mitgebracht, weil er ihr zeigen wollte, wozu Drogen führen. Ich denke, der Besuch hatte eine nachhaltige Wirkung auf sie. einige der Geschichten, die wir ihr erzählt haben. Sie war sehr still, aber man konnte sehen, dass sie das alles in sich aufnahm.«
Novack kam wieder an den Tisch. »Hab ich was verpasst?«
»Ephraim hat Shayndie einmal zu einem Emek-Refa'im-Treffen mitgenommen«, sagte Decker.
»Tatsächlich?« Novack nahm sich mehrere Wurststückchen. »Junge, ist die gut! Und scharf!« Er fächelte seinem halb geöffneten Mund Luft zu. »Wie hat das Mädchen auf das Treffen reagiert?«
»Ich war gerade dabei, das zu erzählen.« Weitere Mohren wanderten auf Schnitmans Teller, gefolgt von mehreren Löffeln Kartoffeln. »Sie war sehr still, aber auch sehr betroffen.«
»Hat sie sich mit einem der anderen Teilnehmer unterhalten?«, fragte Decker.
»Nein, ich glaube nicht. Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern. Wie ich schon sagte, sie war sehr still.«
»Vielleicht mit einer der Frauen?«, versuchte Decker es erneut.
»Ich kann mich nicht erinnern.«
»Könnten Sie sich mal erkundigen?«, fragte Novack.
»Natürlich, kein Problem.« Schnitman brach sich noch ein Stück Brot ab und häufte Auberginensalat darauf. »Ephraim.« Er kaute in Ruhe weiter. »So wie er es erklärt hat. hat er sie unter seine Fittiche genommen, weil sich sonst niemand in der Familie mit ihren Problemen beschäftigen wollte.« Er schob sich eine Olive in den Mund. »Die Menschen meiner Gemeinde. ich liebe sie wirklich. Aber manche der Haredi denken wirklich sehr engstirnig. Für einige von ihnen, für die wirklich ultraorthodoxen, ist es im Grunde gleich schlecht, ob man dem Gesang einer Frau - kol bischa - lauscht oder sich einen Schuss setzt. Natürlich wissen wir, dass man diese beiden Dinge weder physisch noch moralisch miteinander vergleichen kann, aber wenn man mit dieser Gedankenwelt nicht vertraut ist, kann man das unmöglich verstehen.«
»Meine Frau bedeckt ihr Haar«, sagte Decker.
Schnitman sah ihn überrascht an. »Oh. Aber Sie selbst sind nicht ultraorthodox.«
»Nein, und meine Frau auch nicht. Aber ich weiß, wovon Sie reden.«
Ein Kellner kam an den Tisch. »Wünschen Sie noch etwas?« Die drei Männer schüttelten den Kopf.
Daraufhin legte der Kellner die Rechnung auf den Tisch und g ing.
Schnitman betrachtete den Teppich unter der Decke. »Sie g ehören zu den modernen Orthodoxen. «
»Das sagt meine Frau auch«, erwiderte Decker. »Aber für mich ist auch das noch ziemlich religiös. Ich bin erst vor kurzem konvertiert... ein baal teschuwa.«
»Was heißt >vor kurzem<?«
»Vor zehn Jahren. Aber glauben Sie mir, das ist wirklich erst vor kurzem. «
Schnitman knabberte an seinem Fingernagel. »Die modernen Orthodoxen mögen uns nicht.« »Wie kommen Sie darauf?«
»Weil es eben so ist. Die halten uns alle für Faulenzer und Schmarotzer und Taugenichtse. Aber das stimmt nicht. Manche Menschen sind ausgebildete Ärzte, andere Anwälte und die meisten Haredi ausgebildete Gelehrte. Das ist es, was wir für wichtig halten - das Studium der Thora. Alles andere ist unwichtig.«
Decker nickte.
Schnitman blickte zur Seite. »Wahrscheinlich denken Sie, dass es arbeitende Menschen wie Sie sind, die es Menschen wie mir ermöglichen, den ganzen Tag zu studieren. Aber das ist genau der Weg, wie Sie Ihren schar mizwa, Ihren Platz im Himmel, erlangen.«
»Nein, Mr. Schnitman, ich erlange meinen Platz im Himmel falls er existiert -, dadurch, dass ich selbst gute Taten vollbringe. Ich bin dafür nicht auf andere Leute angewiesen.« Decker schaute dem Mann tief in die grünen Augen. »Hören Sie, Ari, lassen Sie uns doch einfach mal die minimalen Unterschiede zwischen uns vergessen. Denn von der Welt da draußen werden wir alle - Sie, ich, Detective Novack - in einen großen Topf geworfen, und zwar als diese verflixten Juden, die immer nur Ärger machen.«
»Das ist wohl wahr«, stimmte Novack zu.
»Dann schlage ich vor, dass wir einfach mal unsere Pflicht tun und herauszufinden versuchen, was mit Ephraim passiert ist, und dadurch vielleicht auch etwas über Shayndie erfahren.«
»Es tut mir Leid. Ich habe keine Ahnung, was mit den beiden geschehen ist!« Seine Stimme klang niedergeschlagen. »Ich habe Ihnen alles erzählt, was ich weiß.«
»Da bin ich mir nicht ganz sicher«, widersprach Novack. »Vielleicht haben Sie uns nicht alles gesagt, weil Sie möglicherweise glauben, dadurch einen Vertrauensbruch zu begehen oder etwas Ähnliches.«
»Nein, nicht wenn ein junges Mädchen vermisst wird. Und außerdem existiert zwischen mir und Ephraim kein Vertrauensverhältnis mehr, denn Ephraim ist tot.«
»Also können Sie mir antworten, wenn ich Sie nach Ephraims Sucht frage?«
»Seine Sucht?«
»Nahm er Haschisch, Alkohol, Koks...« »Kokain. Ephraim war kokainabhängig.« »Und.«
»Das war's. Nur Kokain.« »Geraucht oder geschnupft?« »Geschnupft.«
»Sind Sie sicher, dass Kokain seine einzige schlechte Angewohnheit war?«, fragte Novack.
»Sie meinen >Sucht<, Detective.«
»Also gut, >Sucht<. Hat er jemals davon gesprochen, dass er mit anderen Drogen experimentierte?«
»Nein. Nur Kokain. Das allerdings in extremen Mengen. Es gab eine Zeit, da brauchte er mehrere hundert Dollar pro Tag, um seine Sucht zu finanzieren.«
Novack pfiff durch die Zähne. »Das reicht für einen hübschen Schuldenberg.«
»Ja, er hatte Schulden«, sagte Schnitman. »Aber soweit ich weiß, war er dabei, sie zurückzuzahlen. Er erzählte sogar, dass es ziemlich gut klappte.«
»Vielleicht klappte es nur für ihn gut«, sagte Novack, »und nicht für die Leute, denen er das Geld schuldete.«
»Mag sein. Ich weiß es nicht.«
»Wäre es möglich, dass er das mit persönlichen Problemen< meinte?«, fragte Decker. »Vielleicht hatte er gewaltige Schulden?«
»Möglich. Ich kann auch nur raten.«
»Und Sie sind absolut sicher, dass er nichts anderes nahm?«, fragte Novack. »Beispielsweise Ecstasy?«
Plötzlich wusste Decker, worauf Novack hinauswollte. Die Tablette, die man in dem Hotelzimmer gefunden hatte - die Untersuchungsergebnisse mussten inzwischen vorliegen. Ob nun mit oder ohne Prägung, bei der Pille musste es sich um Ecstasy handeln.
»Er nahm nur Kokain, und das auch nur durch die Nase«, beharrte Schnitman. »Ephraim hätte niemals etwas in seinen Magen gelassen, das keine hechscher besaß.«
Eine hechscher war eine Koscherbescheinigung. Decker musste lachen. »Ich wusste gar nicht, dass es von Rabbinern überprüftes Kokain gibt.«
»Nein, natürlich gibt es das nicht.« Jetzt war Schnitman gekränkt. »Es klingt verrückt, aber einige der sehr religiösen Drogenabhängigen nehmen ihre Drogen nicht oral ein. Stattdessen spritzen sie sich das Gift ins Blut oder atmen die Dämpfe durch die Nase ein. Nur damit das Suchtmittel nicht ihre Lippen berührt. Ich weiß, dass das in diesem Zusammenhang eine lächerliche Vorschrift ist, aber in der Bibel steht lo tuchlu, dass man nichts essen darf, was nicht koscher i st.«
»Da steht aber auch, dass man es nicht berühren darf«, sagte Decker.
»Und deswegen benutzen sie Strohhalme, um sich das Zeug in die Nase zu ziehen!«, reagierte Schnitman wütend. »Sie können sich über uns lustig machen, Lieutenant, oder Sie versuchen, uns zu verstehen. Ja, wir sind nicht immer konsequent. Aber das geht Ihnen sicher genauso.«
»Sie haben Recht, Mr. Schnitman. Es tut mir Leid, wenn ich Sie gekränkt habe.«
»Ja, Sie waren sehr kooperativ«, sagte Novack. »Hier. Versuchen Sie doch mal die Wurst. Aber Vorsicht, die ist wirklich scharf.«
»Danke, ich passe.« Schnitman schob seinen Teller weg. »Ich muss langsam gehen.«
»Da sind Sie nicht der Einzige«, sagte Decker.
Nachdem die beiden das Tischgebet gesprochen hatten, reichte Novack Schnitman seine Karte. »Falls Sie noch irgendetwas hören sollten.«
»Dann rufe ich Sie an.« Schnitman holte seine Brieftasche hervor, legte die Karte hinein und nahm einen Zehndollarschein heraus.
Decker machte eine abwehrende Geste. »Lassen Sie nur, ich übernehme das.«
Doch Schnitman erwiderte: »Eine der ersten Regeln, die wir lernen, wenn wir unsere Probleme in Angriff nehmen, lautet, für alles selbst aufzukommen. Deshalb werde ich das bezahlen.«
»Das ist doch lächerlich«, widersprach Decker. »Wir haben Sie schließlich eingeladen. Die Rechnung geht auf uns.«
Novack nahm die Rechnung an sich. »Das hier ist eine Ermittlung in einem Mordfall. Sie sind ein Zeuge. Also was mich betrifft, soll doch die Stadt New York mein Sodbrennen b ezahlen.«
Decker knöpfte seinen Mantel zu, zog seine Handschuhe an und rieb die Hände gegeneinander. Er hatte seinen Schal vergessen, und der eisige Wind schnitt ihm ins Gesicht, während sie den Broadway entlanggingen. »Bei der Tablette handelte es sich um Ecstasy.«
»Ja, genau.«
»Also, wenn man Schnitman Glauben schenken darf, dann kann sie nicht von Ephraim stammen.«
»Meinen Sie ernsthaft, dass eine Koksnase sich von einem Kick abhalten ließe, nur weil das Rauschmittel nicht von einem Rabbiner abgesegnet ist?«
»So merkwürdig das auch klingen mag, Micky, aber das kann ich tatsächlich nachvollziehen.«
»Na ja, Sie sind wirklich näher dran als ich.«
Ein paar Minuten gingen sie schweigend nebeneinander her. Dann sagte Decker: »Wo würde sich ein Mädchen wie Shayndie in dieser Stadt verstecken?«
»Machen Sie Witze?«, fragte Novack. »Ich würde nicht mal im Traum daran denken, auch nur zu raten. Sehen Sie sich doch um. Eine Million Schlupflöcher allein in der City, durch die Jugendliche wie Shaynda verschwinden können.« Er ging ein paar Meter weiter und sagte dann: »Ich werd mich mal bei der Sitte umhören. Und beim Jugenddezernat. Aber erwarten Sie nicht zu viel.«
»Es ist wahrscheinlich noch zu früh, um sie auf dem Straßenstrich zu suchen«, sagte Decker.
»Stimmt, ein Zuhälter würde sie jetzt noch nicht losschicken.« Novack zuckte die Schultern. »Falls sie nicht zu Hause auftaucht und auch nicht unter irgendeinem Stein, dann finden wir sie ja vielleicht irgendwann auf der Straße. Das Einzige, was wir tun können, ist abwarten. So, mir reicht's für heute. Wo müssen Sie jetzt hin?«
»Zurück nach Brooklyn. Und Sie?«
»Queens, aber auf dem Revier wartet noch jemand auf mich.« Die beiden Männer blieben stehen. »Wir haben bei den Jugendlichen kaum eine Chance, Peter. Die Lokale wechseln ständig. Wenn wir endlich herausgefunden haben, wo die Kids stecken könnten, haben die schweren Jungs schon zugeschlagen und sie weggeschafft.«
»Falls Sie einen Informanten haben, könnte man den vielleicht befragen.«
»Niemand wird zugeben, dass er eine Fünfzehnjährige festhält. Darauf steht eine verdammt lange Haftstrafe. Die Jugendlichen brauchen jemanden mit Einfluss, jemanden, der sie vor den Cops verstecken und vor den Freiern beschützen kann. Diesen Stress tut sich kaum ein Zuhälter an, wenn gleichzeitig genügend Achtzehnjährige herumlaufen, die den Job freiwillig machen. Außerdem kommt noch hinzu, dass sich das Mädchen vielleicht vor einem Mörder versteckt. wer will sich schon so einen Ärger aufhalsen?«
Decker nickte.
»In L.A. muss das doch ähnlich laufen.«
»Ja, obwohl ich nicht bei der Sitte bin. Auch noch nie war, dafür aber sechs Jahre beim Jugenddezernat. Viele traurige Fälle.«
»Dann wissen Sie wahrscheinlich mehr darüber als ich. Wo habt ihr die Kids denn im Allgemeinen gefunden?«
»Normalerweise werden sie von Streifenbeamten aufgegriffen. Viele der Kinder waren total abgemagert und krank. Manchmal kamen sie von sich aus aufs Revier und baten um Hilfe, oder sie wollten, dass wir als Vermittler zwischen ihnen und ihren Eltern auftraten. Oder wir mussten helfen, sie v on einem misshandelnden Freund oder Stiefvater wegzubekommen.«
»Ja, es ist überall das Gleiche.«
»Ich kenne in L.A. den einen oder anderen Unterschlupf und, wenn ich nicht selbst weiterkomme, Leute, mit denen ich reden kann. Hier in Manhattan tappe ich völlig im Dunkeln.«
Inzwischen war es kurz vor elf, und es wurde immer kälter. Dennoch waren die Bürgersteige voll von zügig vorwärts strebenden Menschenmassen, die beim Atmen Dampfwolken ausstießen und dabei fast so viel Nebel produzierten wie der Fluss. Etwa die Hälfte der Geschäfte war noch geöffnet. Und auf den Straßen herrschte reger Verkehr.
»Ich weiß nicht viel über die hiesige Zuhälterszene, aber ich kenne jemanden, der Bescheid weiß. Wenn Sie glauben, dass Shayndie diesen Weg eingeschlagen hat, dann könnte ich ihn mal anrufen«, sagte Novack.
»Ich weiß nicht, welchen Weg sie eingeschlagen hat«, sagte Decker. »Ich greife einfach nach jedem Strohhalm, weil mir die Zeit davonläuft.«
»Wann reisen Sie denn ab?«
»Montag... oder vielleicht auch erst Dienstag.« Rina würde sich über ihn lustig machen. »Aber nur, wenn wir was rausfinden.«
»Wenn wir was rausfinden?«
Decker lächelte. »Nur, wenn ich das Gefühl habe, dass ich Ihnen vielleicht helfen könnte, Detective Novack.«
»Ah, schon viel besser.« Novack lächelte. »Nun, da Sie unter Zeitdruck stehen, werde ich mal sehen, ob wir uns morgen früh mit ihm treffen können.«
»Das wäre sehr gut. Denn sonst.« Decker streckte die Hände hoch. »Es könnte sein, dass sie die Stadt verlassen hat. oder in Quinton ist. Die Beamten dort versicherten, dass sie noch mal n ach ihr suchen wollen, aber der Polizeichef von Quinton klang nicht besonders zuversichtlich. Im Grunde war er alles andere als hilfsbereit.«
»Mit wem haben Sie gesprochen?«
»Virgil Merrin.«
Novack zuckte die Schultern. »Kenn ich nicht. Wir sind hier ein eigener Distrikt.«
»So langsam komme ich auch dahinter. Meinen Sie, wir können Ihren Informanten morgen ganz früh treffen?« »Ganz früh? Wie früh ist das?« »Acht, neun Uhr.«
»Da bin ich mir nicht sicher. Der Typ ist Ire. Und Samstagabend ist Pubzeit.«
»Sagen Sie ihm einfach, wenn er sich um acht mit mir trifft, dann kriegt er von mir eine Kiste seines Lieblingsbiers.«
Novack nickte. »Das ist eine gute Idee, Lieutenant Decker.«