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Wenn Donatti etwas mit dem Mord zu tun hatte, war es ihm jedenfalls nicht anzumerken. Andererseits hatte Chris es immer gut verstanden, Dinge zu verbergen, also konnte Decker sich nicht leisten, ihn völlig als Täter auszuschließen. Ganz offensichtlich bevorzugte Donatti Jugendliche - Teenager, die er kontrollieren und manipulieren konnte. Schließlich musste er seine Mädchen irgendwo auftreiben, und solange Shaynda verschwunden blieb, war jeder mit einer Vorliebe für junge Mädchen verdächtig. Decker hatte im Dreck gerührt - nun musste er abwarten und sehen, was an die Oberfläche gespült wurde.
Während er zu Fuß den Riverside Drive entlangging, zog er seinen Mantel enger um sich und steckte die Hände in die Taschen. Der Himmel über ihm war rußig grau und umschloss den Hudson River wie eine verbeulte Rüstung. Ein scharfer Wind raute die Oberfläche des Flusses auf. Decker fühlte die beißende Kälte in seinem Gesicht. Als er ein Taxi sah, winkte er es heran. Doch dann wurde ihm plötzlich klar, dass er überhaupt nicht wusste, wohin er wollte.
Der Fall war festgefahren, und es gab keine neuen Spuren -was hielt ihn also noch hier in Manhattan? Und dennoch, genau wie Rina prophezeit hatte, widerstrebte es ihm, die Sache einfach hinzuschmeißen. Warum benahmen die Liebers sich ihm gegenüber plötzlich so feindselig? War es der ständig zunehmende Stress oder wurde ihnen langsam bewusst, dass auch Decker keine Wunder vollbringen konnte? Ein echter Profi wäre wieder nach Quinton gefahren und hätte die Familie zur Kooperation gezwungen. Aber genau da lag das Problem: Die Liebers gehörten zur Familie. Und da die Beziehung zu seinem Halbbruder noch nicht sehr gefestigt war, wollte Decker das s ensible Vertrauensverhältnis, dessen Aufbau zehn Jahre gedauert hatte, nicht gefährden.
Langsam gingen ihm die Alternativen aus, aber er verfügte noch immer über eine Karte, auf die er setzen konnte. Da er sowieso in Manhattan war, würde er Leon Hershfield einen Besuch abstatten. Der Anwalt beschäftigte sich mit einem Fall, der überall in den Medien Beachtung fand, und da Hershfield am Samstag nicht arbeiten konnte, lag es für Decker nahe, dass er ihn mit großer Wahrscheinlichkeit am Sonntag in seiner Kanzlei antreffen würde.
Er nannte dem Taxifahrer die Adresse auf der Fifth Avenue und rief Hershfield auf seinem Mobiltelefon an. Der Anwalt schien nicht gerade begeistert, Deckers Stimme zu hören, aber er war klug genug, auf seinen Wunsch einzugehen. Zwanzig Minuten später öffnete Hershfield ihm die Tür zu seinem Büro, wie immer tadellos gekleidet - dieses Mal sportlich, mit einem Kamelhaarsakko, grauer Hose, einem weißen Hemd und roter Krawatte. Nicht der übliche Brioni- oder Kiton-Anzug, aber immer noch angemessen für einen millionenschweren, prominenten Anwalt.
»Dem Rastlosen schlägt keine Stunde«, sagte er, als er die Tür hinter Decker schloss. »Setzen Sie sich. Möchten Sie eine Tasse Kaffee?«
»Nein, danke.«
Nach einem schnellen Blick auf seine teure goldene Armbanduhr meinte er: »Wir haben beinahe Mittag. Wie wär's mit einem Essen? Ich wollte mir gerade etwas bestellen. Der Broughder-Fall ist ziemlich zeitaufwändig. Wer hat heute überhaupt noch Zeit auszugehen? Aber es würde mich freuen, wenn ich Ihnen ein Sandwich oder einen Bagel bestellen könnte.«
Decker lächelte. Hershfield hatte soeben mehrere versteckte Botschaften an ihn gesandt: Ich bin ein viel beschäftigter Mann, ich habe Verpflichtungen und stehe unter Zeitdruck. Und jetzt kommen Sie auch noch daher. Ich hab auf meine Uhr geschaut. Ich stoppe Ihre Zeit.
»Nein, vielen Dank. Ich wollte Sie nur ganz kurz stören. Vielen Dank, dass Sie sich überhaupt Zeit für mich nehmen.«
Botschaft angekommen, und zwar laut und deutlich.
Hershfield lehnte sich in seinem Bürosessel zurück. »Und, wie geht's Ihnen?«
»Ich hab mich schon mal besser gefühlt.«
»Der Jetlag?«
»Natürlich spielt das auch eine Rolle.« Schweigen.
»Machen Sie zufriedenstellende Fortschritte?« »Nein.«
»Das tut mir Leid.«
»Das ist zum Teil der Tatsache zuzuschreiben, dass ich im Dunkeln tappe.« Decker leckte sich die Lippen. »Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, nicht sehr erwünscht zu sein.«
»Polizisten verteidigen ihr Territorium.«
»Ich meinte nicht die Polizei, Mr. Hershfield, sondern Ihre Klienten. Irgendwie habe ich den Eindruck, dass es gewissen Leuten Leid tut, dass ich da hineingezogen worden bin. Der Himmel weiß, warum sie mich überhaupt angerufen haben.«
»Anfängliche Panik?« »Möglicherweise.«
»Dann wäre es vielleicht das Beste, sich zu verabschieden.«
Die Geschwindigkeit, mit der Hershfield reagierte, machte Decker nachdenklich. Wahrscheinlich hatten die Liebers Kontakt mit Hershfield aufgenommen und ihn vielleicht sogar gebeten, ihnen Decker vom Hals zu schaffen. »Obwohl ich auch sagen muss«, entgegnete Decker, »dass es mir schwer fällt, die Angelegenheit nicht weiterzuverfolgen. Ich habe diesen... meine Tochter sagt, man bezeichnet es als >Zygarnic-Effekt<. Es ist eine Art krankhaftes Verlangen danach, Dinge zu Ende zu bringen. Zumindest behauptet das meine Tochter.« »Kinder lieben es, ihre Eltern zu kategorisieren.«
»Meine Frau sagt etwas Ähnliches. Es muss also ein Körnchen Wahrheit darin stecken.«
»Mag sein. Aber wenn es sich um ein krankhaftes Verlangen handelt, kann sich eine derartige Verbissenheit äußerst schädlich auswirken.«
»In meinem Beruf ist sie sehr nützlich.«
»Das kann ich mir vorstellen.« Hershfield lächelte. »Und was ist mit Ihren New Yorker Kollegen? Als wir uns das letzte Mal sahen, sagten Sie, dass Sie mit ihnen Kontakt aufnehmen und ein paar Fragen stellen wollten.«
»Sie waren sehr kooperativ.«
»Freut mich zu hören. Halten Sie sie auch für ausreichend kompetent?«
»Ja. Sie sind gut. Eigentlich sogar sehr gut. Motiviert.«
»Also, warum überlassen Sie den Fall nicht ihnen? Im Gegensatz zu Ihnen tappen die nicht im Dunkeln. Die haben ihre Quellen und ihre Verbindungen. Warum weiteren Ärger riskieren? Die Familie würde es sowieso nicht zu schätzen wissen.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Wir Juden sind nun einmal so, nu?« Jetzt gab er sich nicht nur verschwörerisch, sondern auch noch populistisch. »Vielleicht sollten Sie wirklich Ihre Zelte hier abbrechen, bevor Sie ganz in dem Fall untergehen.«
Decker sah ihn prüfend an. »Ganz untergehen?«
»Es ist genauso, wie Sie sagten, Lieutenant. New York ist ein Moloch. Wenn Sie nicht von hier sind, haben Sie keine Chance.
Und selbst wenn Sie von hier wären, würden Sie im Treibsand versinken. Dazu kommt noch der Faktor Chassidim. Wenn Sie der Ansicht sind, dass die Cops gute Arbeit leisten, dann würde ich Ihnen dringend raten abzureisen, bevor Sie in etwas hineingezogen werden, mit dem Sie nicht fertig werden.«
Decker starrte ihn an. »Ich bin hier nicht erwünscht.«
»Nehmen Sie es nicht persönlich.«
»Wem trete ich hier auf die Zehen? Minda kann mich nicht ausstehen, das ist offensichtlich - aber ich glaube, dass es nicht allein das ist.«
Hershfield zuckte die Achseln. »Ich kann Sie gut leiden. Schließlich verbindet uns einiges. Wir sind beide frum jiddim, die versuchen, die Welt für einen Haufen Schwarzhüte zu retten, der uns für gojim hält. Warum also seine Nase in irgendwelchen Dreck stecken, nur damit die Leute einem hinterher vorwerfen, dass man stinkt?«
»Das ist nun mal mein Beruf - die Nase in Dinge zu stecken, die einen nichts angehen.«
»Aber in diesem Fall werden Sie nicht dafür bezahlt, Lieutenant. Sie vergeuden wertvolle Urlaubstage. Und wenn Sie glauben, dass Sie sich mit diesen Leuten versöhnen können, selbst wenn alles vorbei ist, dann haben Sie sich getäuscht. Sie kennen unser Volk lange genug, um zu wissen, dass es nichts als Probleme mit sich bringt, für Juden zu arbeiten. Ich werde dafür bezahlt. Aber aus welchem Grund tun Sie sich das an?«
Die anonyme Beschwerde hätte von jedem kommen können, von Chaim bis hin zu den Cops und sogar zu Donatti, der ebenfalls Hershfields Dienste als Anwalt in Anspruch nahm. Und wenn es Chris war, dann schob Hershfield wahrscheinlich die Liebers vor, um den Verdacht von ihm abzulenken. Decker gab keine Antwort.
»Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«, fragte Hershfield.
»Ja, es gibt tatsächlich noch etwas. Als wir uns das erste Mal begegneten, fragten Sie meinen Bruder, ob Mr. Liebers Geschäfte eine Durchgangsstation für die Geldwäsche von Drogendollars sein könnten. Wissen Sie etwas darüber, was mir nicht bekannt ist?«
»Lieutenant, wenn Sie in dieser Richtung recherchieren wollen, habe ich nichts dagegen.«
»Ich brauche Ihre Erlaubnis nicht.«
»Nein, Mr. Decker, das stimmt.« Hershfields Miene verhärtete sich. »Schauen Sie, Mord ist eine schreckliche Sache. Und ich mache mir wirklich Sorgen wegen des jungen Mädchens. Aber solange sie nicht gefunden wird - wie auch immer -, muss die Familie Lieber geschützt werden. Das ist der Grund, warum sie mich engagiert haben. Das ist es, was ich zu tun versuche und warum ich die Familie aufgefordert habe, nicht mit Ihnen zu sprechen, bevor wir nicht genau wissen, was hier Sache ist.«
Decker starrte ihn an.
»Es ist nur zu ihrem Besten«, fuhr Hershfield fort. »Ich weiß, dass Sie nur Ihren Job machen wollen, Lieutenant, aber das gilt auch für mich.«
»Sie behindern meine Ermittlungen.«
»Nein, Lieutenant, ich bin nur ein sehr guter Strafverteidiger.« Wieder ein schneller Blick auf die Uhr. Decker stand auf. »Keine Sorge, ich gehe schon.«
»Seien Sie nicht so verbittert, Lieutenant. Ich hörte, dass Sie einen sehr angenehmen Schabbes hatten, dass Ihre Söhne Sie übers Wochenende besucht haben und die ganze Familie zusammen war. Vielleicht sollten Sie dies als den wahren Zweck Ihrer Reise in Erinnerung behalten.«
»Möglicherweise haben Sie Recht«, lächelte Decker. »Vielen Dank für Ihre Zeit.«
»Gern geschehen.«
Decker schloss die Tür hinter sich und überlegte, dass nur sehr wenige Menschen den genauen Ablauf seines Schabbes kannten und nur zwei von ihnen einen Grund gehabt hätten, Hershfield zu informieren. Es war unwahrscheinlich, dass Jonathan seine Ermittlungen behindern wollte, also blieb nur Raisie. Die Frage war nur: Hatte sie Hershfield aus eigenem Antrieb angerufen oder im Auftrag ihres Bruders gehandelt?
Doch die wichtigere Frage lautete: Was machte es für einen Unterschied?
Er hätte gar nicht erst herkommen dürfen. Eigentlich sollte er dort sein, wo man ihn schon längst erwartete, in Gainesville, und etwas wirklich Sinnvolles tun, wie zum Beispiel seinem alten Herrn beim Neubau des Werkzeugschuppens zu helfen oder seiner Mutter die Wasserle itungen zu reparieren. Stattdessen tat er anderen Menschen Gefallen, die niemand wirklich wollte oder zu schätzen wusste.
Jetzt reichte es.
Zur Hölle mit Quinton.
Zur Hölle mit ihnen allen.