24
Jonathan stand völlig neben sich, das Gesicht kreidebleich, aschfahl.
Nachdem die Berge von Papierkram erledigt waren, nahm Decker den Arm seines Bruders und ging mit ihm nach draußen zum Parkplatz, auf dem der Van stand. Als er Jons zitternde Hände sah, bot Decker sich an zu fahren. Jonathan lehnte dies ab und nahm auf dem Fahrersitz Platz. Minutenlang saßen sie schweigend da und starrten vor sich hin.
Jonathans Augen waren rot vom Weinen. »Was für ein Monster tut so etwas?«, sagte er leise.
Decker wusste keine Antwort. Schuldgefühle quälten ihn. Er hätte Shayndie mit Waffengewalt befreien und Donatti erschießen, sich mehr auf seinen Instinkt als auf diesen Scheißkerl verlassen sollen.
»Was ist das für ein Gott, der solche Ungeheuer erschafft?«, fragte Jonathan.
»Ich werde fahren«, bot Decker erneut an.
»Es geht schon«, antwortete Jonathan. »Danke, dass du gekommen bist.«
»Ich wollte nur.« Decker spürte den Drang, auf das Armaturenbrett einzuschlagen, klopfte aber schließlich nur darauf herum. »Es tut mir Leid, dass ich euch im Stich gelassen habe. Die ganze Familie.«
»Das hast du nicht, Akiva. Sei nicht albern.«
»Was weißt du schon!«
Jonathan wandte sich zu ihm, wartete auf eine Erklärung. »Ich hätte es besser machen können.« Decker wirkte beschämt.
»Das glaube ich einfach nicht. Wenn uns einer im Stich gelassen hat, dann Gott. Wir sind nur Bauern für ihn - kleine Schachfiguren, die Er auf Seinem Spielbrett, das man das Universum nennt, herumschiebt.« Seine Lippen bebten. »Nicht dass ich Seine Weisheit anzweifeln würde. Aus diesem Grund sprechen wir das Baruch Dayan Emet (Gelobt sei der gerechte Richter). In der Theorie glaube ich jedes Wort. Aber ich bin nur ein Mensch. fehlbar. von Gefühlen geleitet. Und im Moment bin ich sehr wütend auf Ihn.«
Tränen rannen über seine Wangen.
»Nicht nur du, Bruderherz.« Decker sank in den Sitz zurück. »Nicht nur du.«
Weitere Zeit verging. Schließlich ließ Jonathan den Motor an und legte den Rückwärtsgang ein. »Wohin jetzt?«
»Während du die Papiere unterschrieben hast, hab ich Micky Novack erreicht. Ich soll ihn in einem Restaurant treffen.« Decker sah auf den Zettel. »Am Broadway zwischen der 114. und 115. Straße... vielleicht auch zwischen der 115. und der 116.« Er nannte ihm die genaue Adresse. »Das dürfte nicht länger als eine Stunde dauern. Danach werde ich Rina und Hannah in eurer Wohnung abholen und sie zum Flughafen bringen.«
»Wann fliegen sie?«
»Irgendwann nach neun. Es ist ein Linienflug. Ab La Guardia.« Auf Deckers Uhr war es sechs. »Wird das zu knapp?«
»Angenommen, du bist um sieben dort fertig. Man braucht mindestens eine Dreiviertelstunde bis hinaus nach La Guardia, wenn der Verkehr nicht zu dicht ist.« Ein Seufzer. »Ja, das wird zu knapp.«
»Gib mir eine halbe Stunde mit Novack.«
»Weißt du was«, schlug Jonathan vor, »ich setze dich ab, fahre schnell in meine schul, höre den Anrufbeantworter ab und n ehme die Post mit. Dann komme ich zurück und hol dich wieder ab. Dafür sollten die dreißig Minuten gerade reichen.«
»Klingt gut.«
»Ja, in der Theorie klingt immer alles gut.«
Novack erhob sich, als Decker das Deli betrat. Der Laden war so klein wie ein Kiosk, voll gestopft mit einem halben Dutzend linoleumbezogener Tische samt Stühlen mit rissigen Kunstlederpolstern. Es gab auch einen Tresen mit Barhockern. Alle Plätze waren besetzt. Es war nach Dienstschluss, und der Detective hatte den Anzug gegen Flanellhemd und Jeans getauscht. Seine Finger waren fettig von den Pommes frites, die er knabberte. Ein halb aufgegessenes Cornedbeefsandwich lag auf dem Teller, daneben zwei Essiggurken. Decker setzte sich ihm gegenüber, zwängte sich da hinein, wo eigentlich kein Platz mehr war. Er begann zu schwitzen, lockerte daraufhin seine Krawatte und öffnete die obersten Hemdknöpfe.
»Sie schwitzen ja. Geht es Ihnen nicht gut?«, fragte Novack.
»Ich glaube, mein Blutzuckerspiegel ist zu niedrig.« Sein Blick fiel auf Novacks halbes Sandwich. »Der Laden ist wohl nicht koscher, was?«
»>Auf koschere Art.< Das zählt nicht, ich weiß. Es gibt hier ein paar vegetarische Sachen. Ich glaube, die Graupensuppe mit Pilzen ist vegetarisch.«
»Die wird's tun.«
»Kaffee?«
»Wunderbar.«
Novack winkte die Kellnerin herbei - eine dürre ältliche Frau namens Alma. Fünf Minuten später stand eine dampfende Tasse Suppe vor Deckers Nase. Es schmeckte noch besser, als es roch. Dazu gab es frisches Roggenbrot mit einer dicken Körnerkruste. Decker fühlte sich wie im Himmel, auch wenn er langsam essen m usste.
Novack hatte sein Sandwich aufgegessen und bestellte sich als Nachspeise eine Tasse Kaffee und ein großes Stück Apfelkuchen. »Was zum Teufel ist mit Ihrem Gesicht passiert?«
Decker erzählte ihm die Geschichte mit dem Schläger.
Novack schaute skeptisch. »Zeigen Sie den Kerl an?«
»Er ist weggelaufen. Ich hätte ihn ja verfolgen können, aber mir drehte sich alles.«
»Das sieht ziemlich schmerzhaft aus.«
»Es tut weh, aber es ist halb so schlimm. Meine Frau weiß noch nichts davon.«
Novack kratzte sich an der Wange. »Begeistert wird sie nicht gerade sein. Also, wenn ich an ihrer Stelle wäre, würde ich denken, dass Sie vielleicht nicht so ganz die Wahrheit sagen. Dass jemand Sie angegriffen hat, und Sie versuchen, Ihre Frau zu schonen - oder vielleicht versuchen, ihr etwas zu verheimlichen. Oder vielleicht allen etwas zu verheimlichen, mich inbegriffen?«
Ein mahnender Blick.
Decker gab sich lässig. »Wenn jemand hinter mir her gewesen wäre, Novack, hätte ich jetzt eine Kugel im Kopf.«
Novack überlegte. Wahrscheinlich stimmte es. »Wir müssen ehrlich zueinander sein, Pete.«
»Absolut«, log Decker.
»Ja, absolut.« Novacks Tonfall wirkte zynisch, aber er hakte nicht weiter nach. »Sie kommen also gerade von der Polizei in Fort Lee?«
Eigentlich aus dem Leichenschauhaus von Bergen County. Wissen die da, was sie tun?«
»Ja, Bergen bekommt die Leichen zum Teil von uns, es ist ja gleich über die Brücke. Ich will nicht behaupten, dass der Park a ls Abladeplatz für Leichen dient - das Gelände wird ständig überwacht, weil es viele Besucher dort gibt -, aber es ist ein weitläufiges Areal, und das ist nicht das erste Mal, dass dort eine Leiche gefunden wurde.« »Gibt es eine abteilungsübergreifende Zusammenarbeit?«
»Im Idealfall, ja. Aber in der Praxis kommt es darauf an, wer die Ermittlungen leitet.«
»Ein gewisser Martin Fiorelli.«
»Den Namen hab ich schon mal gehört, aber ich hatte noch nicht das Vergnügen, mit ihm oder überhaupt der Polizei von New Jersey zusammenzuarbeiten. Ich kenne ein paar Leute, die mit denen zu tun hatten. Ich will niemanden mies machen oder so, aber die kleineren Polizeibehörden glauben immer, das NYPD würde auftauchen und alles an sich reißen. Das mag in manchen Fällen gerechtfertigt sein; wir haben einige echte Nervensägen. Aber das ist noch lange kein Grund, Informationen zurückzuhalten. Es wäre für mich nämlich von großem Interesse zu erfahren, ob die ballistische Untersuchung eine Übereinstimmung ergibt schließlich sieht es so aus, als würde es sich um dieselbe Vorgehensweise handeln.«
»Der einzelne Schuss in den Kopf war auf dem Identifizierungsfoto zu erkennen, aber sie wurde auch in die Brust getroffen«, sagte Decker.
»Tatsächlich? Haben Sie das selbst gesehen?«
»Nein, ich habe am Tatort den Bericht des Leichenbeschauers überflogen. Ich wollte, ich hätte mehr Zeit gehabt, ihn zu studieren, aber ich war zu sehr damit beschäftigt, mich um meinen Bruder zu kümmern.«
»Wie geht es ihm?«
»Nicht besonders.« Decker aß den letzten Löffel Suppe. Nun fühlte er sich besser. »Keinem von uns geht es besonders gut.« »Das kann ich mir vorstellen.« Novack schüttelte den Kopf.
»Ich weiß nicht, wie lange die Leiche schon dort lag, und frage mich, ob das Mädchen nicht zur gleichen Zeit wie Ephraim umgebracht wurde.«
»In dem Bericht stand, der Tod sei etwa zwei bis vier Stunden vor dem Zeitpunkt eingetreten, an dem sie gefunden wurde.«
»Sie war also noch warm?«
»Ja.«
»Wie schrecklich. Keine Totenst.«
»Nicht die Spur«, kam ihm Decker zuvor. »Keine erkennbare Leichenblässe.«
An die Stelle des Schocks traten bei Decker nun Schuldgefühle. Warum in aller Welt hatte er diesem Dreckskerl vertraut! Vielleicht konnte er ihn verhaften lassen? Aber mit welcher Begründung?
».ganz klar, dass das Mädchen Zeugin von irgendetwas wurde. Vielleicht entkam sie, wurde aufgespürt und ermordet.«
Konzentrier dich, Decker! »Oder vielleicht hing sie von Anfang an mit drin.«
»Sie hat ihrem Onkel etwas angehängt?« Novacks Gesicht verriet, dass er ihm das nicht abkaufte.
»Möglicherweise galt es ihr«, tastete sich Decker vor. »Der Onkel war zur falschen Zeit am falschen Ort.«
»Er war der Drogenabhängige«, entgegnete Novack.
»Der seit über zwei Jahren clean war.« Decker signalisierte der Kellnerin, ihm noch eine Tasse Kaffee zu bringen. »Wir wissen es ganz einfach nicht.«
»Wir wissen es nicht?« Novack sah ihn kühl an. »Sie sind jetzt also Ehrenmitglied der Mordkommission des 28. Reviers? Ich dachte, Sie wollten weg und hätten sich schon längst verabschiedet. «
»Also, ich will ja niemandem zu nahe treten, aber ich dachte, wenn ich schon von so weit her komme, dann bleibe ich lieber noch eine Weile.«
»Wie lange?«
»Am Freitag bin ich weg.«
Die beiden Männer mus terten einander.
»Ehrlich, Mick. Am Freitag bin ich weg. Ich muss zu meinen Eltern. Sie sind bestimmt schon sauer, weil ich meinen Besuch um zwei Tage verschoben habe.«
»Und warum?« Novack kratzte sich am Kopf. »Worum geht's Ihnen, Pete?«
»Ich habe versagt. Ich will noch einmal von vorn anfangen, jetzt, wo ich ein bisschen mehr über die Familiendynamik weiß.«
»Erzählen Sie mir die Einzelheiten, Pete«, forderte Novack ihn auf. »So etwas macht einen ermittelnden Detective sehr froh.«
»Also gut, hören Sie zu. Ich weiß, dass Chaim sich über die Beteiligung seines Bruders am Geschäft ärgerte. Aber vielleicht hatte er ja einen Grund für seine Feindseligkeit.«
»Zunächst einmal: Woher wissen Sie, dass er sich ärgerte?«
»Als das mit Shayndie bekannt wurde, war ich gerade dabei, dem alten Herrn einen Kondolenzbesuch abzustatten. Ich sprach mit dem Vater über Ephraim. Versuchte, freundlich zu sein. Ephraim war tot, aber Minda und Chaim ließen noch immer kein gutes Haar an ihm. Übrigens war Chaim sehr besorgt wegen möglicher Diebstähle.«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich hatte bei Ephraims Beerdigung eine Unterhaltung mit dem Ladenpersonal. Man erzählte mir, dass Chaim sich Gedanken wegen möglicher Diebstähle machte. Ephraim war für die Lagerhaltung zuständig. Vielleicht hat er geklaut. Sind Sie einmal die Unterlagen durchgegangen, die in Ephraims Wohnung lagen?«
»Ich hab etwa die Hälfte davon überflogen. Nur Inventarlisten. Sagt mir alles nichts, weil ich keinen Vergleich habe. Ich kann nicht feststellen, ob am Inventar herummanipuliert wurde oder nicht. Glauben Sie, Chaim hat jemanden angeheuert, um seinen Bruder Ephraim zu beseitigen, weil er gestohlen hat?«
Decker dachte über diese Frage nach.
Es wäre nicht das erste Mal in der jüdischen Geschichte, dass ein Bruder gegen den anderen kämpfte. Brudermord kam in der Bibel häufig vor. Kain und Abel. Isaak und Ismael. Jakob und Esau. Joseph und seine Brüder. Im Buch Genesis war der Hass unter Geschwistern eher die Regel als die Ausnahme.
»Ja, warum nicht?«
»Weil es leichter gewesen wäre, ihn zu feuern, Decker.«
»Dann war es vielleicht umgekehrt. Chaim hat das Geschäft bestohlen, und Ephraim hat ihn erwischt, nachdem der alte Herr dem jüngeren Sohn die Lagerhaltung übertragen hatte. Vielleicht ärgerte es Chaim, dass Ephraim so gut dastand, vor allem, weil er sich selbst schon jahrelang in den Läden abrackerte und Ephraim erst sehr viel später dazukam. Außerdem könnte Chaim den Diebstahl damit gerechtfertigt haben, dass er sich einredete, der Laden würde ihm ohnehin gehören. Wenn er jemanden bestahl, dann doch nur die Versicherung.«
Novack horchte auf. »Chaim hat fingierte Ansprüche geltend gemacht?«
»Das dürfte leicht zu überprüfen sein.«
»Stimmt«, meinte Novack. »Wenn etwas an diesen neuen Informationen dran ist, dann gibt es also Juden, die kein Problem damit haben, einen Betrug zu begehen. Aber wenn Chaim seinen Bruder umlegen wollte, warum brachte er dann s eine eigene Tochter in Gefahr? Warum erledigte er Ephraim nicht in dessen Wohnung oder als dieser seine Drogenhöhle verließ - als er allein war? Warum tat er es, wenn er doch wusste, dass Ephraim gerade an diesem Tag mit Shayndie etwas unternehmen wollte?«
»Genau diese Frage beschäftigt mich«, antwortete Decker. »Die einzige Antwort, auf die ich komme, ist die, dass man den Verdacht von sich ablenken kann, wenn man seine eigene Tochter in Gefahr bringt. Als Bruder des Opfers wird die Polizei gegen einen ermitteln, vor allem dann, wenn man zusammengearbeitet hat. Wenn aber die eigene Tochter auch zum Opfer wird, tja, dann wird sie sich eher zurückhalten.«
»Wollen Sie damit sagen, dass Chaim seine eigene Tochter in Gefahr gebracht hat, um Ephraim daran zu hindern, seinem alten Herrn zu verraten, dass Chaim den eigenen Laden bestahl?«
»Ich behaupte nicht, das hieb- und stichfest beweisen zu können. Ich zeige nur Möglichkeiten auf.«
»Seien Sie nicht gleich eingeschnappt, Lieutenant.« Novack trank seinen Kaffee aus. »Wir stehen auf der gleichen Seite. Vielleicht haben Sie ja noch Hunger.« Wieder winkte er der Kellnerin. »Er möchte noch eine Tasse Suppe, Alma.«
»Ich muss in zehn Minuten weg«, warf Decker ein.
»Machen Sie schnell!«, rief Novack der Kellnerin nach.
»Zwei Blocks von hier ist ein McDonald's, wenn es so schnell gehen muss«, grummelte Alma beleidigt und verschwand.
Decker beugte sich über den Tisch und sprach leise. »Vielleicht hat Chaim die Killer dafür bezahlt, den Bruder umzulegen, aber das Mädchen laufen zu lassen. Vielleicht gibt es deshalb keine Beweise dafür, dass Shayndie im Hotel war. Sie ließen sie laufen. Aber irgendetwas ging schief.«
»Was zum Beispiel?«
»Keine Ahnung. Vielleicht sollte sie in Panik nach Hause l aufen und ihrem Vater alles erzählen. Dann wären sie zusammen zur Polizei gegangen.. Vielleicht hätte Chaim sich eine Geschichte ausgedacht, die das Geschehen erklärt und zugleich den Verdacht von ihm abgelenkt hätte. Aber stattdessen rastete Shayndie aus und tauchte unter. Und da verloren die Killer die Nerven. Sie trauten ihr wohl nicht über den Weg, also machten sie sie ausfindig und legten sie auch um. Aber das gehörte nicht zum ursprünglichen Plan.«
Novack antwortete nicht gleich. »Sie war Zeugin des Kidnappings. Also musste man sich um sie kümmern.«
»Genau.«
»Und warum brachte Ihr Bruder Sie ins Spiel?«, wollte Novack wissen.
»Ich hab mich mit meinem Bruder darüber unterhalten. Vielleicht hatte ich nur eine Vorzeigefunktion. Durch mich konnte Chaim allen überzeugend demonstrieren, dass ihm wirklich etwas an der Sache lag. Dabei können Chaim und Minda mich in Wirklichkeit nicht ausstehen und haben mir nur Steine in den Weg gelegt.«
»Interessant.«
Die zweite Tasse wurde so heftig auf den Tisch gestellt, dass die Suppe über den Rand schwappte.
»Essen Sie«, sagte Novack. »Sie müssen was zu sich nehmen.«
Während Decker die Suppe löffelte, dachte er über Donatti nach. Der Mord erschien ihm zu schlampig für die Handschrift dieses Mistkerls. Und warum hätte er Decker gegenüber zugeben sollen, dass sie bei ihm war? Warum um Gottes willen ließ er ihn zu ihr, um mit ihr zu reden - um sie dann umzubringen?
Um ihn von der Fährte abzubringen?
Wenn Donatti der Täter war, dann war er prahlerisch und l eichtsinnig geworden, und das passte nicht zu ihm. Dieser Mann war eiskalt.
Novack spekulierte: »Vielleicht hat Chaim Sie ins Spiel gebracht, weil er einiges von Ihnen wollte. Erstens: Sie konnten eher als er herausbekommen, was die Polizei wusste. Sie würden es ihm berichten, und er konnte dann überlegen, wie er weiter vorgehen sollte. Oder zweitens: Shayndie war verschwunden, und er brauchte Sie, um sie zu aufzuspüren.«
»Klingt plausibel.« Decker sah auf seine Armbanduhr. Er hatte nur noch zwei Minuten, bis Jonathan ihn abholen kam. »Irgendwas über Virgil Merrin herausbekommen?«
»Er war acht Jahre als Lieutenant bei der Polizei in Charleston beschäftigt. Davor jobbte er eine ganze Weile herum... meist bei der texanischen Polizei. So was ist immer ein bisschen merkwürdig, außer wenn einer damit eine Strategie verfolgt. Nun ja, man verbessert sich ständig, bis man irgendwo die Nummer eins ist. Scheint, als hätte er Erfolg gehabt.«
»Ich hab ihn heute in einem Tattlers gesehen, Mike.«
»Interessant.« Novack hob die Augenbrauen. »Was haben Sie denn in einem Tattlers zu suchen?«
»Das ist eine lange Geschichte. Ich war dort mit Jonathan.«
»Dem Rabbi?«
»Ja.«
»Sieh mal einer an.«
»Er wollte mich in einem Lokal treffen, wo niemand aus der jüdischen Gemeinde von Quinton auftauchen würde.« »Das sagen alle.«
»Vielleicht ist mein Bruder ja auch ein geiler Bock. Aber darum geht es hier nicht. Hier geht's um Virgil Merrin. Er schien dort Stammkunde zu sein.«
»Ich werde weiterforschen.«
»Danke. Sie sind sehr hilfsbereit.«
»Ja, das stimmt. Ich bin ein bisschen blöd, wenn Sie's genau wissen wollen.«
»Ich glaube, ich hab's mir bei ihm verscherzt. Bei Merrin«, sagte Decker. »Ziemlich sicher sogar.«
»Wie das?«
Decker berichtete es ihm.
»Das war unklug. Warum haben Sie das getan?«
»Es kotzte mich an. wie er sich aufführte. Ich war auch stinksauer, dass er davon ausging, ich wär so wie er.«
»Decker, wenn Sie seine Hilfe wollen, dann müssen Sie ihn davon überzeugen, dass Sie beide etwas gemeinsam haben.«
»Ja, ich weiß, das war unklug von mir. Ich hab in letzter Zeit viele Dummheiten gemacht.«
»Dann sollten Sie vielleicht damit aufhören, ehe Sie Probleme kriegen, die über ein blaues Auge hinausgehen.« Novacks Warnung war mit Freundlichkeit verbrämt. »Vor allem, wenn Sie mir irgendeinen Scheiß auftischen und behaupten, ein anonymer Anrufer hätte Ihrem Bruder zu verstehen gegeben, Sie sollten >von der Bildfläche verschwinden<. Das hört sich nicht allzu gut an.«
»Das hat er nicht Jonathan gesagt, sondern Chaim. Jonathan hat nie mit diesem Kerl gesprochen.«
»Es könnte also sein, dass Chaim lügt.«
»Mit Sicherheit.« Decker runzelte die Stirn. »Wenn irgend so ein Irrer glaubt, er könnte mich einschüchtern, dann hat er sich gewaltig geschnitten.«
»Womit könnte man Sie denn einschüchtern?«, fragte Novack.
»Vielleicht durch eine Waffe an der Schläfe.« Decker zuckte die Achseln. »Vielleicht nicht einmal damit. Aber ganz b estimmt durch eine Waffe an der Schläfe meiner Frau.« Es lief ihm eiskalt über den Rücken. »Ich werde aufatmen, wenn sie hier weg ist.«
»Wann fliegt sie?«
Decker sah auf seine Armbanduhr. »Ich bringe sie jetzt gleich zum Flughafen.« Er zog zwei Zwanziger heraus. »Reicht das?«
»Ist viel zu viel. Auf der Rechnung steht nur achtzehn fünfzig.«
»Der Rest ist Trinkgeld.«
»Einundzwanzig Dollar fünfzig?« Novack lachte. »Das ist mehr als der übliche Tarif für einen Blowjob.«
»Alma sieht aus wie achtzig«, bemerkte Decker. »Aber wenn sie willig ist, Novack, gebe ich Ihnen einen aus.«
»Achtzig ist ein bisschen alt«, fand Novack, »aber es hat auch seine Vorteile. Ich glaube, Alma trägt ein Gebiss. Schon mal von 'ner Zahnlosen einen geblasen bekommen?«
»Hatte noch nie das Vergnügen.«
»Die reine Freude.« Novack grinste.
»Ja, Zahnlosigkeit ist gar nicht so übel.«
Schweigen.
Dann brach Novack in schallendes Gelächter aus. Decker tat es ihm gleich.
Novack zeigte glucksend mit dem Finger auf ihn. »Ich hab Sie drangekriegt.« »Leck mich, Novack.«
Decker sprach ein wenig zu laut. Alma eilte zu ihnen. »Irgendwelche Probleme, Detective Novack?«
»Alma, dieser Herr hat Ihnen gerade einundzwanzig Dollar fünfzig Trinkgeld gegeben.«
Die alte Dame lächelte breit und entblößte ihre dritten Zähne.
»Danke. Sie haben den Tag gerettet. Wenn Sie das nächste Mal kommen, kriegen Sie eine Extraportion.«
Decker wusste, dass sie freundlich sein wollte, aber es wirkte nicht überzeugend. Er dankte ihr und ging.