17
Von der Achtundvierzigsten aus schlenderte Decker Richtung Süden, den Mantel eng vor der Brust übereinander geschlagen, die Hände tief in den Taschen vergraben. Zwanzig Blocks später stand er vor dem Gebäude, in dessen Untergeschoss sich die Emek-Refa'im-Gruppe traf, zu der auch Ephraim Lieber gehört hatte. Ein Gebäude wie jedes andere im Garment District, dem Herzen der New Yorker Textilbranche. Tagsüber wimmelte es in dem Viertel von Leuten, schwer beladene Kleiderständer wurden hin und her gerollt, überall gab es Läden und Passagen sowie Schaufenster der verschiedensten Modefirmen, deren Vertreter Großeinkäufern die Exklusivrechte an den neuesten Kreationen in der schnelllebigen Welt der Mode versprachen. Aber zu dieser späten Stunde waren die Straßen dunkel und still, die hohen Häuserblocks warfen Schatten auf den Asphalt, und durch die stahlgrauen Wolken brach trübes Mondlicht. Nur hier und da sah man ein Fenster, aus dem Neonlicht strahlte: Jemand legte eine Nachtschicht ein, um die Konkurrenz abzuhängen.
Da ihn nichts weiter in diesem Teil der Stadt hielt, ging er langsam zurück in Richtung Norden. Vielleicht konnte er Sammy noch abfangen und mit ihm zusammen ein Taxi nach Washington Heights nehmen. Kurz nach neun erreichte er das Hotel. Bis zum Ende des Konzerts verblieben noch vierzig Minuten. Er setzte sich in ein nahe gelegenes Cafe und bestellte eine Kanne Kräutertee. Schließlich wollte er nicht draußen in der Kälte herumstehen.
Erst fünf Minuten nachdem ihm der Tee serviert worden war, fiel ihm auf, wie hirnverbrannt seine Idee war. Meine Güte, Sammy hatte eine Verabredung mit einem Mädchen. Decker war wahrscheinlich der Allerletzte, den er jetzt sehen wollte. Er trank noch einen Schluck, legte fünf Dollar auf den Tisch und g ing. An der Kreuzung Fünfundvierzigste und Achte winkte er ein Taxi heran.
»Was halten Sie davon, wenn wir uns die Fahrt teilen?«
Decker fuhr herum.
Der Mann war wirklich ein Phantom.
Diesmal hatte Donatti ein junges Mädchen bei sich. Sie sah aus wie fünfzehn, aber angesichts der Vorsicht, die er walten ließ, war sie wahrscheinlich eher achtzehn. Donatti öffnete die Wagentür, und Decker nahm Platz. Das Mädchen rutschte neben ihn, Chris folgte ihnen.
Sie hatte ein hübsches Gesicht, das kaum geschminkt und von dunklem Haar umrahmt war. So unschuldig ihr Gesicht war, so wenig traf das auf ihre Kleidung zu. Sie trug ein knappes rotes Top, einen Minirock aus Leder und Netzstrumpfhosen. Um die Schultern hatte sie eine Federboa geschlungen. Da sie keinen BH trug, waren ihre großen Brustwarzen deutlich zu erkennen. Klar in diesem Aufzug musste ihr ziemlich kalt sein.
Donatti nannte dem Fahrer eine Adresse. Niemand sagte ein Wort.
Während draußen die Häuserzeilen vorbeihuschten, spürte Decker, wie sich etwas an sein Bein drückte. Er rutschte ein Stück zur Seite, doch die Kleine war hartnäckig und schmiegte ihren Schenkel weiter gegen seinen. Als ihre Hand über seinen Oberschenkel wanderte und sich auf sein Knie legte, reichte es ihm.
Ihn packte die Wut. Er warf Donatti einen hasserfüllten Blick zu, sodass dieser die Hand seines Schützlings von Deckers Schenkel zog.
»Du nervst ihn, Schatz. Komm, wir tauschen die Plätze.« Als er sie mit Schwung über seine Beine hob, klatschte er ihr aufs Hinterteil. »Oh, mach das noch mal«, gurrte sie.
»Benimm dich«, sagte Donatti, »wir sind nicht zu Hause.« »Ach, und seit wann stört dich das?«
Diesmal bedachte er sie mit einem strengen Blick, und sie ließ sich in den Sitz zurückfallen, die Hände brav im Schoß gefaltet.
»Fahren Sie rechts ran«, befahl Donatti dem Taxifahrer. »Lassen Sie die Uhr laufen, und warten Sie auf mich.«
Der Fahrer nickte.
Donatti öffnete den Wagenschlag. »Steig aus. Ich bring dich zur Tür.«
»Wie, kommt er nicht mit rauf?«, fragte das Mädchen. »Nein.«
»Warum denn nicht?« »Darum.«
»Aber vielleicht würde er ja gern?« »Nein.«
»Kommst du mit hoch?« »Nein. Steig aus.« »Aber wieso denn nicht?«
»Raus.« Donatti war mit seiner Geduld am Ende. Er stieß die Tür weit auf und schubste sie aus dem Wagen. Sie fiel auf den Gehsteig, und noch bevor sie sich aufrappeln konnte, stand Chris über ihr, riss sie hoch und zerrte sie zur Eingangstür eines Apartmenthauses.
Als Decker sah, wie grob Chris mit dem Mädchen umsprang, musste er an sich halten. Schließlich war Shayndie nach wie vor verschwunden. Als Donatti und das Mädchen außer Hörweite waren, sagte der Fahrer: »Die Firma sieht es nicht gern, wenn man uns warten lässt.«
»Wenn Sie weiterfahren wollen, ich hab nichts dagegen«, entgegnete Decker.
Der Fahrer lachte auf. »Lieber nicht. Sie wissen doch, wer das i st, oder?« »Ja«, sagte Decker. »Sicher?«
»Christopher Donatti.«
»Ich dachte nur, ich erwähne das besser mal, für den Fall, dass Ihnen das nicht klar ist. Weil er doch gefragt hat, ob Sie sich das Taxi teilen wollten. Hätte ja sein können, Sie kennen ihn gar nicht.«
»Doch, ich kenne ihn. Danke.«
Decker warf einen Blick nach draußen. Das Mädchen schlang die Arme um Donatti und versuchte ihn zu küssen. Aber der drehte den Kopf weg und schob sie von sich. Zum Ausgleich für seine Grobheit gab er ihr noch einen Klaps aufs Hinterteil. Dann stieg er wieder ins Taxi und nannte dem Fahrer die Adresse seines Lofts.
Donatti legte den Kopf zurück und schloss die Augen. Er gab sich völlig unbekümmert. Decker kochte. Je mehr er nachdachte, desto wütender wurde er. Worauf legte Donatti es an? Er konnte ja wohl nicht so schwachsinnig sein, dieses Mädchen - dieses Kind - beauftragt zu haben, ihn zu verführen. Was also sollte das Ganze? Bloß ein kleines Spielchen, um zu sehen, wie Decker sich wand?
Langsam reichte es ihm. Möglicherweise wusste Donatti wirklich etwas, aber im Moment war Decker einfach zu wütend, um den Scheißkerl zu ertragen. Bei Chris konnte er nur mit Ruhe und Gelassenheit etwas erreichen. Er musste sich ein wenig Bewegung verschaffen, um sich zu beruhigen.
»Halten Sie da vorne!«, rief er dem Fahrer zu. Gut zwei Dutzend Blocks von Donattis Loft entfernt. Chris schlug die Augen auf und sah ihn an. »Hier muss ich raus«, sagte Decker noch mal. »Was, hier?«, fragte der Fahrer.
»Ja, hier. Fahren Sie jetzt sofort rechts ran.« Der Fahrer gehorchte.
Decker warf Donatti seinen Anteil am Fahrpreis in den Schoß. »Vielen Dank auch, Kumpel.« Er riss die Tür auf und sprang hinaus.
Decker setzte sich auf dem Riverside Drive Richtung Norden in Bewegung. Es dauerte über zwanzig Minuten, bis sich sein Herzschlag normalisiert hatte. Während er die nahezu menschenleere Straße am Hudson River entlangwanderte, sah er das Bild dieses herumgestoßenen und erniedrigten Mädchens vor sich und dabei hatte sie sich solche Mühe gegeben. Der Gedanke an all diese gebrochenen Seelen deprimierte ihn, aber was half es, mit ihnen zu leiden? Selbst wenn es in Deckers Macht gestanden hätte, sie dort herauszuholen, gab es hunderte, die nur darauf warteten, sofort ihren Platz einzunehmen.
Hier draußen, wo ihm ein strenger Geruch entgegenwehte, war es verdammt ungemütlich. Er näherte sich mit raschen Schritten der 135. Straße und musste allmählich entscheiden, ob er dem Fisch hinterherspringen oder die Leine kappen wollte.
Bisher war er Shayndies Aufenthaltsort keinen Schritt näher gekommen.
Instinktiv steuerte er auf das Gebäude zu, in dem Donatti wohnte, zögerte jedoch, dort auf den Klingelknopf zu drücken. Es konnte gut sein, dass Donatti mittlerweile genauso wütend war wie er - was bedeutete, dass Decker seine einzige Chance vermasselt hatte. Großartig!
Ohne dass Decker den Knopf berührt hatte, ertönte unvermittelt ein Summton.
Die Videoüberwachung des Büros: Donatti hatte auf ihn gewartet.
Decker betrat die Eingangshalle und nahm diesmal den Lift. Langsam und rumpelnd schob sich die Kabine nach oben. Mit e inem Summen öffnete sich die Tür zum Vorzimmer. Er ging durch den Metalldetektor, der aber nicht reagierte, wahrscheinlich weil Chris ihn abgeschaltet hatte. Die Tür zum Loft stand offen. Chris erwartete ihn mit zwei Gläsern Scotch, von denen er eines Decker anbot.
»Für mich nicht.«
Donatti rührte sich nicht und streckte ihm weiter das geschliffene Kristallglas entgegen. Ihre Blicke begegneten sich. Decker war klar, wenn er den Drink nicht annahm, konnte er gleich einpacken. Warum sollte er sich die Chance entgehen lassen herauszufinden, ob Donatti wirklich etwas wusste?
Sollte der Scheißkerl seinen kleinen Sieg doch bekommen. Er griff nach dem Glas.
Chris stieß mit ihm an, nahm die Flasche und öffnete die Tür zu seinem Büro. Wortlos betrat Decker den Raum. Chris folgte ihm, verschloss die Tür und schaltete den Abhörschutz ein. Er nippte an seinem Whisky und versuchte nach wie vor, Decker mit Blicken zu bezwingen. Doch diesmal würde Decker keinen Zentimeter weichen.
Donatti sprach als Erster. »Sie hat improvisiert. Sie werden doch nicht glauben, dass das Ganze meine Idee war.«
Decker ließ ihn nicht aus den Augen. »Was hatte sie denn überhaupt mit Ihnen zu schaffen?«
»Ich hab ihr aus der Patsche geholfen.«
»In die Sie als ihr Zuhälter sie erst gebracht haben.«
Donatti fand das witzig. »Wenn ich ihr Loddel gewesen wäre, wäre sie gar nicht erst in Schwierigkeiten geraten.« Er leerte seinen Scotch in einem Zug. »Kann ich was dafür, dass sie so eine schlechte Menschenkenntnis hat?«
Decker schwieg.
Donatti sagte: »Ich lege Wert auf ein gutes Verhältnis zu meinen ehemaligen Models.«
»Ehemalig?«
»Klar, sie ist mittlerweile neunzehn. Nicht mehr zu gebrauchen. Zu oft gesehen und zu alt.«
»Zu alt, mit neunzehn?«
»Ein Jahr, Decker«, sagte Donatti. »Zwischen achtzehn und neunzehn. Männer haben einen unersättlichen Appetit auf Muschis, so lange das Fleisch frisch ist. In unserer Branche ist die Fluktuation enorm hoch.«
»Wo kriegen Sie sie her?«
»Das ist mein Geheimnis. Was uns zum Anlass unseres Treffens bringt. Was ich Ihnen jetzt erzähle, darf niemals nach außen dringen. Kein Wort darüber. Weder zu Ihrer Frau noch zu Ihrem Anwalt oder Rabbi. Ein kleiner Versprecher könnte sich als äußerst gesundheitsschädlich erweisen.«
Decker gab keine Antwort.
»Schweigen genügt nicht. Ich brauche Ihr Wort.«
»Sie setzen ein ziemliches Vertrauen in mein Wort, Donatti.«
»Unbegründeterweise?«
Hinter dem Whiskyglas war Deckers Miene nicht zu erkennen.
»Wenn Sie mir nicht Ihr Wort geben, brauchen wir gar nicht weiterzureden.«
»Beichten Sie mir bloß keinen Mord, Chris.«
»Wer, ich?« Er grinste. »Hab ich nun Ihr Wort?«
Decker nickte.
»Ich erzähl Ihnen das nur, damit Sie die Kirche im Dorf lassen«, sagte Donatti. »Ich hab das Mädchen. Das heißt, Sie können sich ganz auf den Mord konzentrieren. Wenn die Bullen Ihnen gesagt haben, ich wär's gewesen, war das gelogen. Ich weiß nichts über die Sache. Wenn ich was rausfinde, geb ich's an Sie weiter.«
Er stand auf. Decker blieb sitzen. »Was soll das heißen? Sie haben das Mädchen?«
»Genau, was ich sage. Ich hab das Mädchen. Seit Freitag. Sie ist in Sicherheit. Mehr braucht Sie nicht zu interessieren.«
»Und was ist mit den Eltern... ?«
»Wenn ich sage, Sie dürfen mit niemandem darüber sprechen, dann meine ich auch niemanden. Ich dachte, das wäre klar.«
»Sie sind halb wahnsinnig vor Sorge.«
»Das kann schon sein. Aber sie fallen trotzdem unter den Begriff niemand, Decker!«
Schweigen.
Die verschiedensten Gedanken wirbelten Decker durch den Kopf. »Donatti - sie ist fünfzehn!«
»Das ist mir bekannt.« Er lächelte. »Deshalb dürfen Sie es ja auch niemandem sagen. Ich könnte dafür in den Bau wandern. Und da ich da schon mal war, weiß ich ziemlich genau, dass es mir dort nicht gefällt. Es wird langsam spät.«
»Haben Sie noch mehr Mädchen?«
Donatti sah ihn an. »Sie stellen eine Menge Fragen, Decker. Die Antworten könnten Sie in Konflikte bringen. Damit ist keinem von uns gedient.«
»Wie viele Mädchen haben Sie, Donatti?«
Chris gab keine Antwort.
Decker musste Donattis Vertrauen gewinnen, um mehr aus ihm herauszubekommen. Er traf eine wohl überlegte Entscheidung. »Ich schwöre, das bleibt unter uns.«
Donatti setzte sich wieder und goss sich noch einen Drink ein. »Im Moment sind es zwanzig. Wenn ich wollte, könnte ich hundert haben. Die meisten sind sechzehn und älter, aber es sind auch ein paar jüngere darunter.«
»Jungs auch?«
»Ja, doch, ein paar Schwuchteln hab ich. Wie die zwei Süßen, die mir bei den Aufnahmen zur Hand gehen. Die beiden sind über achtzehn, waren es aber nicht, als ich sie kennen lernte. Heteros kommen mir nicht ins Haus. Mit ein paar hab ich's mal probiert. nichts als Scherereien. Sie belästigten die Mädels und meinten ständig, sie müssten mir den Platz streitig machen. Wer die Oberhand behalten hat, können Sie sich ja denken. Nervensägen - allesamt.«
»Und Sie sind ihr Zuhälter.«
Donatti blickte zur Decke. »Zuhälter ist ein starkes Wort, Decker. Ich tu ihnen einen Gefallen. Und dafür tun sie mir einen. Die sind mir sogar so dankbar, dass sie es kaum abwarten können, mir einen Gefallen zu tun. Ich seh das so: Ich bin so eine Art letzter Bahnhof vor der Endstation, eine letzte Chance für sie, ihren Arsch zu retten und nicht bei einem der wirklich eiskalten Schweine zu landen. Manche kaufe ich den Arschlöchern sogar ab, wenn sie gut genug aussehen. Ich bring sie in Wohnungen unter, wo sie ihren Entzug machen können. Sie kriegen was zu essen, ein Dach über dem Kopf, Klamotten und Medikamente, falls sie welche brauchen. Ein Viertel haut nach ein paar Tagen ab, ein Viertel nach einer Woche. Wenn sie länger als zwei Wochen bleiben, hab ich sie. Dann sind sie abhängig.«
»Abhängig?«
»Nicht von Drogen. von mir. Ich mach ihnen klar, dass sie ohne meinen Schutz nicht überleben können«, erklärte Donatti geduldig. »Ich bin ein praktisch denkender Mensch, Decker. Ich schinde meine Rennpferdchen nicht. Ich will auf keinen Fall, dass sie ihren Sex verschleißen. Ich will sie frisch und knackig. Ein gesund aussehendes, junges, geiles Luder mit gespreizten Beinen macht an - eine sexuell missbrauchte Streunerin, die in der Ecke kauert, turnt ab.«
»Sie brauchen die Mädchen für Ihr Heft.«
»Genau darum geht's, Decker - wie komme ich an junge Mus chis für meine verschiedenen Unternehmen. Aber erst mal müssen sie achtzehn werden. Am liebsten wär's mir, wenn sie ihre Dienste nicht verscherbeln müssten, aber im Moment hab ich ein kleines Problem mit dem Cash-Flow, weil ich nämlich selbstständig arbeite. Wissen Sie, falls Sie in der Familie mal Bedarf haben, ist immer Geld für Sie da - aber es gibt eben keine Vermögensplanung. Wenn Joey nichts in der Tasche hatte, holte er es sich von dem, der gerade was besaß. Bei mir ist das anders. Ich will was mit Zukunft.«
»In den Regalen liegen aber ziemlich viele Männermagazine, Donatti.«
»Ganz zu schweigen von den Videos und interaktiven WebAngeboten. Und genau deshalb konzentriere ich mich auf Marktnischen. Nicht die Yuppies, die GQ oder Esquire lesen. Oder die Loser, die sich an den Silikontitten im Playboy oder Penthouse aufgeilen. Können Sie als älterer verheirateter Heterosexueller mit der Scheiße was anfangen?«
»Ich kaufe keine solchen Magazine, Donatti.«
»Weil sie Sie nicht ansprechen, Lieutenant. An wen wende ich mich? An biedere Familienväter in funktionierenden, aber langweiligen Ehen. An Männer, die nicht alles für eine lausige kleine Affäre aufs Spiel setzen wollen, aber aus deren Sexleben die Luft raus ist. Ein Haufen Verzweifelter. Sie vielleicht nicht, Decker, aber viele Typen aus dem Mittelstand haben es ganz gern, wenn man sie ein bisschen aufrichtet. Ich weiß, wovon ich rede. Ich hab selbst dreieinhalb Jahre Knast in einer beschissenen Ehe hinter mir. Ich weiß alles über Internet, Websites und Cyberpeepshows - dazu habe ich auch schon ein paar Ideen -, aber mit dem Laptop aufs Klo zu gehen, um sich einen runterzuholen, ist doch letztlich ziemlich unpraktisch. Was soll denn da die Frau denken?«
Decker schaute kopfschüttelnd zur Seite. »Sie haben wohl ein b isschen Marktforschung betrieben, Chris?«
»Heutzutage muss man sich schon was einfallen lassen. Im Augenblick bin ich noch im Versuchsstadium, experimentiere mit Ratgeberseiten oder speziellen Duftstoffen im Papier. Mit jungem Fleisch lässt sich ganz legal ein Haufen Geld machen. Ich will mit dreißig halb Harlem in der Tasche haben. Klar tun mir meine Mädchen Gefallen, aber ich bin kein rücksichtsloses Schwein. Das ist die Wahrheit. Glauben Sie mir, wenn ich wollte, könnte ich meine Mädels tagtäglich, sieben Tage die Woche rund um die Uhr beschäftigen. Der elfte September hat mehr als nur einen New Yorker in die Midlifecrisis gestürzt. Alles Männer, die gesehen haben, wie diese Hurensöhne in die Türme des World Trade Center krachten, und dachten, jetzt sei alles aus. Aber sie haben es überlebt, genauso wie ihre Schwänze, und seither ist ihr Hunger nach Sex, besonders nach frischen jungen Muschis, besonders groß.«
»Komisch, Donatti«, knurrte Decker. »Ich hab Helden gesehen, keine Perversen.«
»Wir sehen das, was wir sehen wollen«, konterte Donatti. »Ich weiß nur, dass im Moment die Nachfrage groß ist. In der momentanen Wirtschaftslage ist ein schneller Fick immer noch ein billiges Vergnügen. Also tun die Mädchen mir ein paar Gefallen mehr als sonst. Aber die Sklaverei ist in unserem Land abgeschafft. Gezwungen wird bei mir keine.«
»Kommt darauf an, wie Sie Zwang definieren.«
»Die Kids können jederzeit gehen. Aber wer geht, kann nicht wieder einsteigen. Wenn sie glauben, sie könnten es mit der großen bösen Welt da draußen aufnehmen - dann kann ich ihnen nur viel Erfolg wünschen.«
»Ein bisschen Einschüchterung kann ja nie schaden.«
»Es ist eine grausame Welt da draußen, Decker. Wenn das, was ich ihnen erzähle, sie vorsichtiger werden lässt - damit kann ich leben.«
Decker strich sich über den Bart. »Und Sie haben keine Angst, dass jemand mal auspacken könnte?«
»Meine Schützlinge reden nicht. Bisher habe ich eine Stillhaltequote von hundert Prozent. Ich bin eben sehr überzeugend.«
»Und falls doch mal jemand auspackt?«
Donatti schüttelte kaum merklich den Kopf. »Das ist nicht Ihr Problem.«
Decker schnaubte und wandte sich ab. Dann knallte er die Faust auf den Tisch.
»Ich weiß«, sagte Donatti, »Sie wollen mir die Scheiße aus dem Leib prügeln. Sie wollen meine hübsche, arrogante Fresse zu Brei schlagen und mir meinen Riesenschwanz abhacken, weil ich nämlich am Steuer sitze, Decker. Es war auch schon mal andersherum - da habe ich mich genauso gefühlt wie Sie jetzt. Aber inzwischen sind wir erwachsen. Sie müssen schlucken, Decker, so wie ich acht Jahre lang geschluckt habe. Wenn Sie ehrlich mit sich sind, müssen Sie zugeben, dass ich Ihnen ganz schön entgegenkomme. Immerhin haben Sie mein Leben ruiniert.«
Decker lachte trocken. »Dafür haben Sie sich aber gut erholt, Chris.«
»Einen Scheiß wissen Sie«, sagte Donatti wütend. »Ich hatte meinen Onkel überzeugt. Ich hatte sie überzeugt. Sie hätte mir gehören können, mit Haut und Haar - wenn Sie mir die Sache nicht vermasselt hätten.«
»Frauen sind keine Leibeigenen mehr, Donatti.«
»Ja, das glauben Sie«, fauchte Donatti. »Ich war so nahe dran!« Er markierte mit Zeigefinger und Daumen einen kaum erkennbaren Abstand. Dann lehnte er sich zurück und seufzte. »Sie wissen ja, wie das ist. Am versessensten ist man auf die, die einem durch die Lappen geht. Und ich war von Anfang an v ersessen auf sie.« »Besser für Sie«, sagte Decker.
»Sie meinen, besser für sie.« Donatti nahm einen großen Schluck Scotch. »Scheiß auf die Vergangenheit. Ich bin jetzt ein großer Junge. Okay, sie gehört mir nicht, aber ich miete sie. Und zwar auf Langzeitbasis. Außerdem ist Terry hier nicht das Thema. Also vergessen Sie Terry. Sie haben ganz andere Probleme. Und Ihr Problem ist im Moment bei mir einquartiert und fühlt sich da auch sehr wohl.«
Decker spürte, wie sein Blutdruck stieg, was die Sache nicht einfacher machte. »Ist sie unversehrt?«
»Absolut.«
»In welcher Verfassung befindet sie sich?«
»Aufgewühlt. So habe ich sie aufgelesen. Im Moment spricht sie nicht darüber. Mir soll es recht sein. Die Einzelheiten interessieren mich nicht.«
»Und was stellen Sie mit ihr an?«
»Ich lasse sie einfach ausruhen. Ich bin kein Zuhälter, aber wenn, würde ich in dem Zustand niemand arbeiten lassen. Viel zu instabil.«
»Das heißt, Sie geben ihr Kost und Logis, ohne irgendeine Gegenleistung?«
»Das trifft es ziemlich genau. Kann sein, sie ruht sich ein, zwei Tage aus, und ich sehe sie nie wieder. Das ist mein Risiko. Aber vielleicht möchte sie mir ja auch einen Gefallen tun. Ich bleibe mit allen meinen Mädels in Kontakt, Decker. Sie sind da draußen auf der Straße - manche verkaufen ihren Arsch auf eigenes Risiko, manche haben sogar ganz legale Jobs. Sie sind meine Augen und Ohren. Sie halten mich auf dem Laufenden, weil sie mir dankbar sind.«
»Weil sie Angst vor Ihnen haben?« »Das läuft auf dasselbe hinaus.«
»Ist sie in Sicherheit?«
»Ja, Shayndie ist in Sicherheit.«
Dass er das Mädchen beim Namen nannte, bewies Decker, dass die Geschichte stimmte. Er warf Donatti einen scharfen Blick zu. »Schlafen Sie mit ihr?«
»Ach was, noch nicht. Aber wenn sie lange genug bleibt, schon.« Donatti erwiderte den Blick. »Sex macht anhänglich.«
»Und was machen Sie mit den Jungen?«
»Wie ich schon sagte - Sex macht anhänglich.« Donatti lächelte viel sagend. »Haben Sie jetzt ein Problem, mit mir allein hier zu sitzen, Lieutenant?«
Decker zeigte ihm den Mittelfinger.
Donatti lachte. »Ich tu, was ich tun muss, damit der Laden läuft. Einen Kick gibt mir das nicht. Für meine Schützlinge -Mädchen wie Jungen - heißt Sex, sich auf den Rücken legen, die Augen zukneifen, stillhalten und Onkel George oder Daddy machen lassen. Aber ganz unter uns, viel lieber würde ich Ihre Frau ficken.«
Decker hatte den Jüngeren an der Gurgel, bevor der wusste, wie ihm geschah. Er schleuderte Donatti gegen die Wand, stemmte sich mit seinem ganzen Gewicht gegen ihn, sodass er sich nicht rühren konnte, und umklammerte seinen Hals. »Ich glaube, wir müssen ein paar grundsätzliche Dinge klären, Chris«, zischte er.
In diesem Moment hörte Decker ein Klicken und spürte, wie sich etwas Hartes zwischen seine Beine schob.
»Lassen... Sie... mich... los!«, röchelte Donatti.
Decker drückte stärker zu. »Na los, erschieß mich doch, du Hurensohn! Was hast du davon? Eine Menge Blut und Ärger am Arsch.« Dann aber lockerte er den Griff. »Meine Frau ist tabu. Verstanden?«
Die Waffe bohrte sich tiefer in Deckers Weichteile. Donattis Gesicht wurde immer roter, teils vor Wut und teils, weil er keine Luft mehr bekam. »Loslassen!«
»Verstanden?«
Schweigen. Sekunden vergingen. Schließlich hob Chris die Hände, in der Linken eine Double-Action-Automatik, wahrscheinlich eine Walther TPH.
Decker gab ihn frei. »Hier geht es ums Berufliche.« Er trat zurück und nahm Platz. »Lassen wir das Private aus dem Spiel.«
Donatti rappelte sich auf und drückte Decker die Pistole an die Stirn. »Manche Männer würden das als Kompliment auffassen.«
»Ich nicht.« Decker unterdrückte mit aller Kraft den Re flex zurückzuzucken. »Seien wir vernünftig: keine Übergriffe auf die Privatsphäre.«
Donatti hielt die Waffe eine weitere Minute auf ihn gerichtet, aber Decker tröstete sich mit dem Wissen, dass die Walther in Sachen Sicherheit als sehr zuverlässig gilt.
Endlich ließ Chris die Pistole sinken. Er räusperte sich und nahm einen großen Schluck Scotch. Dann begann er wie ein Tier im Käfig auf und ab zu gehen - erhitzt und rot im Gesicht, schnell und stoßweise atmend. Decker spürte, wie sein Herz pochte, aber er ballte die Fäuste und verbarg seine Wut hinter einer ausdruckslosen Miene. Sie waren wie zwei mit Adrenalin voll gepumpte Kampfstiere. Das Büro stank wie eine Boxhalle.
Als Donatti die Halbautomatik schließlich auf der Tischplatte ablegte, sagte er mit kehliger Stimme: »Tun Sie so was nie wieder. Nach den Erfahrungen mit meinem Vater und Joey reagiere ich extrem empfindlich auf Gewalt.«
Decker breitete die Hände aus. »Wenn Sie sich benehmen, benehme ich mich auch.«
»Weiß der Henker, warum ich mir diese Scheiße von Ihnen habe bieten lassen.«
»Weil ich nicht nur für Terry eine Vaterfigur bin, sondern auch für Sie, Chris. Setzen Sie sich doch wieder hin. Es ist vorbei. Ich würde sagen, wir sind quitt.«
Chris klopfte unschlüssig mit dem Fuß auf den Boden, nahm aber schließlich Platz. »Okay, Sie haben Ihren Tanz aufgeführt und ich meinen. Trotzdem können Sie sich bei mir bedanken, dass ich Ihre Eier verschont habe.«
»Schönen Dank auch.« Decker brauchte eine Weile, bis er wieder ruhig atmete. »Ich würde das Mädchen gern sehen. Shayndie.«
»Glauben Sie etwa, ich halte sie gegen ihren Willen fest?«
Genau das war Decker gerade durch den Kopf gegangen. Er misstraute Donatti, aber eine andere Quelle hatte er nicht. »Doch, ich glaube Ihnen. Trotzdem würde ich Shayndie gerne sehen.«
Donatti sah ihn skeptisch an.
»Das ist kein Hinterhalt, Donatti. Ich würde mir dann einfach ein bisschen weniger Sorgen machen. Nur Sie, das Mädchen und ich. Auch darauf haben Sie mein Wort.«
»Sie wollen ihr Fragen stellen.«
»Sie ist eine wichtige Zeugin für einen Mord. Ich könnte ein paar Hinweise gebrauchen.«
»Wenn Sie die Kleine in Panik versetzen, haut sie ab«, wandte Donatti ein. »Damit wäre keinem von uns gedient.« »Können wir nicht einfach mal sehen, wie's läuft?« »Solange ich sage, wo's langgeht.« »Wie Sie wollen, Boss.«
Donatti fuhr sich über seine kurz geschorenen blonden Locken. »Ich glaube, das lässt sich einrichten.« Er dachte lange nach. Dann nahm er einen Zettel, kritzelte etwas darauf und reichte ihn Decker. »Dort treffen wir uns morgen Abend so um elf, halb zwölf. Falls ich nicht auftauche, heißt das nicht, dass i ch Sie verarsche, sondern dass es zu riskant war. Hier wimmelt es zurzeit überall vor Bullen. Auf Schritt und Tritt hat man eine Streife an der Ferse.«
Decker las die Adresse. »Wo zum Teufel ist das?«
»Sie sind doch Detective. Kriegen Sie's raus! Und kommen Sie bloß nicht auf die Idee, mich beschatten zu lassen. Im Augenblick ist das Mädchen in Sicherheit. Aber wenn sie eine Belastung für mich wird, tu ich, was ich tun muss.« Donatti kratzte sich am Kopf. »Brauchen Sie ein Eisen?«
Decker blinzelte. »Sie meinen eine Schusswaffe?«
»Klar meine ich eine Waffe.« Er schob Decker die Walther über den Tisch. »Was dachten Sie denn? Eine Brechstange? Kann ich Ihnen auch besorgen, wenn Sie wollen.«
»Ich will keins von beiden.«
»Haben Sie denn was zum Schießen?«
»Nein, aber ich leg es auch nicht darauf an, mich in die Scheiße zu reiten. Sauber habe ich die besseren Karten.«
»Meinen Sie?«
»Ja, meine ich. Mit einer Pistole würde ich mich womöglich zu sicher fühlen.«
»Wie Sie wollen, Lieutenant.«
Diesmal erhob sich Decker. »Ich muss gehen. Wir sehen uns morgen. Und Sie kommen auch? Mit Shayndie?«
»Wenn's geht, komme ich. Und wenn Shayndie nicht schon abgehauen ist, bring ich sie mit. Wie ich Ihnen schon sagte - ich verfolge eine Politik der offenen Tür. Da weiß man nie.«
»Dort, wo sie ist. gibt es da Telefone?«
»Nein.«
»Das heißt, wenn sie jemanden kontaktieren wollte, müsste sie aus dem Haus.«
»Ohne meine Erlaubnis würde sie das nicht tun. Nicht, wenn s ie zurückkommen will.« »Haben Sie Wachen aufgestellt, Donatti?«
»Bei Ihnen klingt das gleich nach Gefängnis. Aber so würde ich das nicht sehen. Natürlich hab ich ein paar Leute, die mir zur Hand gehen; schließlich kann ich nicht die ganze Zeit dort sein. Ich muss mich ums Geschäft kümmern. Ihr kleiner Ausflug hat meinen Arbeitsplan schon ganz schön durcheinander gebracht.«
»Wo haben Sie Shayndie eigentlich aufgelesen?«
»Berufsgeheimnis. Wollten Sie nicht gerade gehen?«
Decker rührte sich nicht von der Stelle. »Ich weiß, das ist jetzt eine merkwürdige Frage... aber, wenn Sie herausfinden könnten, ob sie noch Jungfrau ist. Das würde mich vielleicht weiterbringen.«
Donatti lachte. »Soll das ein Witz sein?«
»Guter Gott, ich meine nicht, Sie sollen sie vögeln. Bitte tun Sie das nicht. Nein, ich meinte, vielleicht könnten Sie sie fragen oder. was weiß ich.«
»Ich krieg schon raus, ob einer sie aufgerissen hat.« Er zuckte mit den Achseln. »Sie verdächtigen den Onkel?« »Ist nicht auszuschließen.«
»Das kann gut sein. Die sind alle sexuell missbraucht worden. Und meine Tee-und-Trost-Tour kommt deshalb so ehrlich rüber, weil ich da selber durchmusste. Ich kenne ihren Schmerz aus erster Hand. Deshalb vertrauen sie mir. Sie kennen ja das Sprichwort, Decker: Mit Honig lockt man mehr Fliegen als mit Essig.«
»Und wenn es mit dem Honig nicht klappt, Donatti?« »Für den Fall hat Gott die Feuerwaffen erschaffen.«