XIX

Tania konnte gerade noch ausweichen als der Morgenstern nur Zentimeter von ihrem Schädel entfernt niedersauste. Sie spürte, wie sie mit der Wange über rauen Stein schrammte, als sie über den Boden rollte.

Mit einem wütenden Brummen hob der Wachmann abermals seine Hiebwaffe. Tania trat mit dem Fuß nach ihm, doch obwohl sie ihn traf, regte er sich nicht. Abermals holte er mit dem Morgenstern aus und wieder verfehlte er sie nur um Haaresbreite.

Als sie gerade zu dem Schwert hinüberkriechen wollte, trat er ihr mit dem Stiefel auf den Fußknöchel. Tania schrie auf vor Schmerzen und versuchte ihr Bein zu befreien. Sie streckte sich in Richtung Schwert, so weit es nur irgendwie ging… Sie konnte es mit den Fingern berühren, doch sie bekam es einfach nicht richtig zu fassen.

Sie drehte sich auf den Rücken. Der Wachmann hatte den Morgenstern über den Kopf geschwungen, um erneut zuzuschlagen.

Tania trat blitzschnell mit ihrem freien Fuß nach seinem Schienbein. Er heulte auf und taumelte rückwärts, wodurch ihr Knöchel freikam. Sofort stürzte Tania sich auf das Schwert und packte es mit beiden Händen. In dem Moment in dem sie es hochgehoben hatte, raste der Morgenstern auf sie nieder. Tanias Arm zitterte unter der Wucht des Schlags– aber die scharfe Schwertklinge hatte den Streitkolben in zwei Teile gespalten. Die abgetrennte Kugel fiel neben ihr zu Boden und der Wachmann stürzte und prallte gegen die Wand.

Tania rappelte sich auf. »Hau ab!«, rief sie und fuchtelte mit dem Schwert vor ihm herum. »Sonst schlage ich dir den Kopf ab. Wirklich, das tue ich!«

Der Wachmann beäugte sie argwöhnisch, immer noch den Stumpf seines Streitkolbens in der Hand. Tania machte mit dem Schwert eine Bewegung auf ihn zu. Sofort streckte er die Hand aus und rief irgendwelche Worte, die sie nicht verstand. Daraufhin schossen bernsteinfarbene Blitze aus seinen Fingern.

Instinktiv hielt Tania das Schwert vor sich, um die Lichtblitze abzuwehren. Diese trafen Funken sprühend auf die Klinge, wo sie augenblicklich zischend verlöschten.

Der Wachposten fluchte, drehte sich hastig um und floh. Die rote Flamme seiner Fackel wurde schon bald von der Dunkelheit verschluckt. Tania hörte noch, wie seine Schritte über die kalten Steinplatten hämmerten, dann herrschte Stille.

Tania holte tief Luft. Sie hatte keine Ahnung, ob sie im Notfall wirklich Gebrauch von dem Schwert gemacht hätte. Sie wandte sich wieder dem Bernsteingefängnis zu. Edric starrte sie immer noch an und sie fragte sich, ob er gesehen hatte, wie sie für ihn gekämpft hatte?

Früher oder später würde sie das herausfinden.

Sie überprüfte die Seidenwickel um ihre Hände– ihre Haut war immer noch geschützt. Dann ergriff sie das Schwert.

»Sachte, sachte«, flüsterte sie. Sie hatte erlebt, welche Wirkung Isenmort auf die Verliestür und auf den Morgenstern der Wache gehabt hatte. Sie musste das Bernsteingefängnis zerschlagen, ohne Edric dabei zu verletzen.

Sie führte das Schwert nahe an die Kugel heran und berührte vorsichtig die Oberfläche des Bernsteins mit der Metallspitze.

Ein greller Blitz schoss aus dem Schwert und erleuchtete den Gang. Tania kniff die Augen zusammen und taumelte zurück, das Schwert in ihren zitternden Händen. Plötzlich vernahm sie ein Geräusch, das wie Flügelschlagen klang.

Dann schlug ihr ein glühendheißer Luftschwall entgegen, der sie von den Beinen riss.

Schwer atmend landete sie auf dem Boden, das Schwert lag in einiger Entfernung. Die Laterne war umgestürzt, aber glücklicherweise brannte sie noch. Tania nahm sie in die Hand und kauerte sich hin. Heißer bernsteinfarbener Rauch kroch durch den Gang und raubte Tania die Sicht. Der Gestank war so atemberaubend, dass sich ihr der Magen umdrehte. Trotzdem rappelte sie sich auf und watete langsam in den Rauch hinein.

Edric lag zusammengerollt auf dem Boden.

Sie kniete sich neben ihn. »Edric?«

Keine Reaktion.

Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Edric?«

Er stöhnte leise und seine Lider bewegten sich.

Er lebte.

Sie stellte die Laterne ab und bemühte sich, ihn aufzurichten. Es gelang ihr immerhin, ihn in eine sitzende Position zu bringen, wobei sein Kopf schwer an ihrer Schulter lehnte.

Sie legte ihre Wange an sein Haar. »Edric?«, sagte sie. »Du musst mir helfen. Ich schaffe das nicht alleine.«

Seine Stimme war so leise, dass sie sie kaum hörte.

»Tania?«

Ein freudiger Schauder durchfuhr sie. »Ja! Ja– ich bin’s«, hauchte sie. »Ich habe dich aus dem Bernsteingefängnis befreit– aber wir sind noch im Verlies und es ist ein weiter Weg hinaus.« Sie umarmte ihn fest. »Ich würde dich ja tragen, wenn ich könnte, aber es geht nicht. Du musst aufwachen.«

Er hob den Kopf und blickte ihr mit seinen braunen Augen ins Gesicht. »Doch still… was schimmert durch… das Fenster dort?«, murmelte er. »Es ist der Ost… und Julia ist meine Sonne.«

Sie lächelte. »Das stimmt nicht ganz«, sagte sie sanft. »Romeo sagt: und Julia die Sonne, nicht meine Sonne.«

»Das werde ich wohl nie hinkriegen.« Er setzte sich auf, wobei er vor Schmerzen stöhnte.

»Bist du verletzt?«, fragte sie daraufhin und sah ihn ängstlich an.

»Nur etwas steif«, sagte er. »Und durchgefroren.« Er lächelte sie an. »Ich habe gesehen, wie du mit der Wache gekämpft hast«, sagte er. »Mit dir verscherze ich es mir lieber nicht.«

»Das hast du gesehen?«

Edric nickte. »Ich konnte mich da drinnen zwar nicht bewegen, aber ich war trotzdem hellwach.« Seine Stimme bebte. »Das macht den wahren Schrecken des Bernsteingefängnisses aus: Dein Gehirn funktioniert die ganze Zeit über und du schläfst nie– nicht mal für einen kurzen Augenblick.«

Sie starrte ihn an. »Ich habe hier viele weitere Gefängnisse gesehen. Einige davon sahen ziemlich alt aus. Sicher leben die Leute dort drin nicht mehr.«

Er lächelte schief. »Ein Häftling lebt im Bernstein weiter, ist aber für immer gefangen.«

»Sollten wir dann nicht versuchen die anderen zu befreien?«

»Oberon würde niemand ohne guten Grund einsperren«, sagte Edric. »Diese Leute sind zu gefährlich, um frei zu sein. Der König von Lyonesse und viele seiner unheilvollsten Ritter sind hier eingekerkert– und sie waren die schlimmsten Feinde, die das Elfenreich je gesehen hat.«

Lyonesse? Den Namen hatte Tania schon mal gehört. Dann fiel es ihr ein: »Sancha hat ein Buch über die Kriege von Lyonesse gelesen«, sagte Tania. »Sind diese Männer Kriegsgefangene?«

»Ja«, bestätigte Edric. »Der Krieg währte tausend Jahre– und das Elfenreich wurde beinahe unterjocht, doch schließlich gelang es Oberon, den König zu besiegen. Darum dürfen diese Männer nie wieder in die Freiheit entlassen werden.« Er sah sie an. »Die Wache wird Verstärkung holen. Wenn wir nicht einem ganzen Trupp gegenüberstehen wollen, sollten wir zusehen, dass wir hier rauskommen.«

Tania legte seinen Arm um ihre Schultern und half ihm auf die Beine. Sie schlang einen Arm um seine Taille, mit der anderen Hand hielt sie die Laterne. Er war etwas wacklig auf den Beinen, aber immerhin konnte er stehen. Er machte vorsichtig ein paar Schritte, doch blieb er sofort wieder stehen. Er sah aus, als würde er gleich zusammenbrechen.

Erschrocken blickte sie ihn an. Wie sollte sie ihn so den ganzen langen Weg zurück bis zum Adamantin-Tor bringen?

Sie hatte keine andere Wahl. Es musste gehen.

»Komm«, sagte sie aufmunternd. »Dann wollen wir mal.«

Er legte seinen Arm um ihre Schultern und stützte sich schwer atmend auf sie.

»Hier entlang«, sagte sie und zeigte in die Richtung, aus der sie gekommen war. Sie beschloss, ihm nicht zu sagen, wie weit es war.

»Nein«, sagte er. »Es ist genau die andere Richtung.«

Sie runzelte die Stirn. »Woher weißt du das?«

»Ich konnte es sehen, als sie mich hergebracht haben«, erklärte er ihr.

»Oh ja, natürlich.« Sie wandte sich um und gemeinsam gingen sie Schritt für Schritt den Gang entlang. Das war dieselbe Richtung, in die der Wachposten gerannt war. Sie hoffte, dass sie nicht geradewegs in eine Schar bewaffneter Wachen liefen.

Edric konnte nur sehr langsam gehen, manchmal stützte er sich mit seinem ganzen Gewicht auf Tania. Zuerst sprachen sie noch miteinander, aber nach kurzer Zeit verstummte er.

Vor sich sah Tania Licht. Eine schwarze Steintür stand weit offen: das Adamantin-Tor.

»Ich fasse es nicht«, flüsterte sie und hätte fast laut aufgelacht. »Ich muss einen totalen Umweg gelaufen sein.«

»Ich muss… mich… ausruhen«, murmelte Edric.

»Jetzt nicht«, sagte sie. »Wir haben es fast geschafft, Edric. Aber bald.« Sie half ihm durch die Tür in den fackelerleuchteten Gang.

»Eden?« Sie sah sich um. Der Gang war leer. Das war nicht gut– sie hatte auf Edens Hilfe gezählt um Edric herauszubringen. Die Gabe ihrer Schwester, die Wachen mit einer zarten Berührung in Schlaf zu versetzen, wäre wirklich hilfreich gewesen. Sie hoffte nur, dass Eden nicht von Gabriels Wachen überrumpelt und gefangen genommen worden war oder gar von Gabriel persönlich.

»Dann müssen wir es eben allein schaffen«, sagte Tania. Ihr wurde plötzlich bewusst, dass sie das Schwert im Verlies liegen gelassen hatte. Sie war so beschäftigt damit gewesen, Edric in Sicherheit zu bringen, dass sie es vergessen hatte– nicht dass sie es überhaupt hätte tragen können, mit Edric, den sie stützen musste, und der Laterne in der anderen Hand.

Sie warf einen Blick zurück. Konnte sie es riskieren, Edric hier allein zu lassen, während sie ins Verlies zurückging, um es zu holen?

Sie schüttelte den Kopf. Nein– jetzt, da sie Edric endlich gefunden hatte, würde sie ihn nicht noch einmal verlassen. Sie mussten es also ohne Schwert schaffen.

Sie hoffte nur, dass sie sich an den Weg in Edens Gemächer erinnern konnte. Durch eine Tür, einen Korridor entlang, dann eine lange Treppe hinauf. Noch eine Tür? Stimmte das? Ach, hätte sie doch besser aufgepasst!

Mit einem Mal erklangen Schritte auf dem Gang, die näher kamen. Tania erstarrte und hielt den Atem an– sie hatten keine Möglichkeit zu fliehen, denn Edric war völlig erschöpft.

Die Schritte kamen näher. Nicht das laute Stampfen von Stiefeln, sondern rasche, leichte Schritte. Eine Gestalt kam auf sie zu. Tania sah ein rotes Kleid, lange schwarze Haare, ein vertrautes Gesicht.

»Rathina!«

Ihre Schwester rannte los. »Tania– wie schön!«, sagte sie. »Mir war so bang, als du verschwunden bist. Wahrhaftig, ich freue mich, dass du wohlbehalten zurückgekehrt bist. Keine Angst, ich habe Eden getroffen, sie hat mir alles erzählt. Geschwind, ich werde dir helfen. Wir müssen hier raus, bevor die Wachen kommen.«

Sie legte sich Edrics freien Arm um ihre Schultern und so trugen ihn die beiden Schwestern beinahe durch den Gang.

»Wo ist Eden denn?«, fragte Tania.

»Keine Ahnung«, antwortete Rathina. »Sie sagte nur, ich solle herkommen und dir helfen. Dann musste sie schnell fort, um etwas zu erledigen.« Rathina sah Tania an. »Ihr Haar, Tania, hast du ihr Haar gesehen: Es war schlohweiß!«

Tania nickte. »Ja, ich hab’s gesehen«, sagte sie.

»Dabei ist es immer kohlrabenschwarz gewesen«, flüsterte Rathina. »So etwas habe ich noch nie gesehen.«

Sie gelangten zu der Holztür, die in den fackelerleuchteten Gang führte, und schafften es, sich zusammen mit Edric hindurchzuzwängen. Tania machte sich zunehmend Sorgen, denn mit jedem Schritt schien er schwächer zu werden.

»Wir brauchen irgendein Versteck«, sagte sie zu Rathina. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich den Weg zu Eden finde.«

»Ich weiß etwas Besseres«, sagte Rathina. »Ich kenne einen geheimen Ort, wo uns keiner findet.«

»Edric ist krank«, sagte Tania. »Wir brauchen Hopies Hilfe.«

»Sobald wir in Sicherheit sind, werde ich sie holen«, sagte Rathina. Sie lächelte. »Keine Angst, kleine Schwester, ich werde dich führen.«

Rathina führte sie einen ganz anderen Weg als den, den Eden genommen hatte. Tania verlor rasch die Orientierung, aber sie war sehr erleichtert, als sie die dunklen Gänge und Treppen hinter sich gelassen hatten.

Edric war zwar in der Lage, einen Fuß vor den anderen zu setzen, aber er atmete schwer. Selbst mit Rathinas Hilfe war sich Tania nicht sicher, ob sie ihn noch viel länger stützen konnte.

»Wir sind fast da«, sagte Rathina keuchend. »Siehst du die Tür?« Sie deutete auf einen kleinen Torbogen vor sich. »Das wird eure Zuflucht sein, während ich Hilfe hole.«

»Gott sei Dank«, stieß Tania hervor.

Rathina sah sie an. »Verzweifle nicht, liebe Schwester, bald ist alles vorbei.«

Die Tür führte in eine kleine fensterlose Kammer mit schmucklosen weißen Wänden und spärlicher Möblierung. Rathina zeigte auf eine weitere Tür am oberen Absatz einer kurzen Treppe.

»Dieses Gemach ist unser Ziel«, sagte sie.

Sie zerrten Edric die Stufen hinauf und Rathina öffnete die Tür.

Als Tania in den unbeleuchteten Raum trat, hatte sie den Eindruck, als wäre er riesengroß, als öffneten sich Wände und Decke in unbekannte Weiten.

»Wo sind wir?«, wollte Tania wissen.

Bevor Rathina etwas erwiderte, schloss sie die Tür hinter sich.

Ein Schlüssel drehte sich klickend im Schloss und plötzlich lastete Edrics gesamtes Gewicht auf Tania.

»Im Lichtsaal«, sagte Rathina mit ungewohnter Schärfe in der Stimme. »Du hast dich deiner Bestimmung schon zu lange entzogen, Tania– aber du kannst sie nicht länger verleugnen.«

Fassungslos setzte Tania Edric auf dem Boden ab und lehnte ihn mit dem Rücken gegen die Wand. Dann richtete sie sich auf und leuchtete ihrer Schwester mit der Laterne ins Gesicht. Rathina stand mit dem Rücken zur Tür und lächelte düster, ihre Augen funkelten wie Diamanten.

»Wovon redest du?«, fragte Tania.

»Kannst du das nicht erraten?« Rathina streckte den Arm aus. »Siehe da, dein Bräutigam wartet schon!«

Bernsteinfarbenes Licht breitete sich plötzlich in der Dunkelheit aus und Tania fuhr herum.

Das Licht stammte von einem Kessel auf einem niedrigen Podest. Daneben stand Gabriel Drake und lächelte Tania triumphierend an. Sie bemerkte, dass seine Augen dunklen Teichen glichen, in denen silberne Funken glitzerten, und ihr schauderte.

»Wie schön, Mylady«, sagte er. »Noch nie musste ein Bräutigam so lange auf seine widerspenstige Braut warten.«

Das schimmernde Licht aus dem Kessel reichte zwar nicht aus, um die Wände und die hohe Decke zu beleuchten, aber Tania wusste dennoch, wo sie war: Dies war der Saal, den Gabriel ihr im Handspiegel gezeigt hatte. An diesem Ort wurde die erste Zeremonie einer Elfenhochzeit vollzogen hatte: das Ritual der Vereinigung der Hände.

Sprachlos blickte Tania zu Rathina hinüber. Sie konnte nicht glauben, dass ihre eigene Schwester sie derart hintergangen hatte. Statt ihr und Edric zur Flucht zu verhelfen, hatte Rathina sie beide geradewegs in die Falle geführt.

Rathina hielt ihrem Blick stand. »Habe ich nicht gesagt, dass es klug wäre, Gabriels Wünsche zu erfüllen?«, sagte sie. »Du wärst niemals freiwillig mit mir gekommen, so musste ich dich hierherbringen.«

Tania starrte zu Gabriel hinüber, der auf sie wartete. Es gab keinen Ausweg, keine Möglichkeit zu fliehen. Edric war zu geschwächt, Rathina bewachte die Tür und Gabriel Drake beherrschte die Mystischen Künste und würde jeden Fluchtversuch zu verhindern wissen.

Gabriel streckte ihr nun auffordernd seine Hand entgegen.

Da erklang plötzlich eine sanfte Frauenstimme an Tanias Ohr, und flüsterten ihr leise ins Ohr:

»Erinnere dich an das Gedicht…«

Ein Schauder überlief sie. Sie kannte diese Stimme.

Obwohl es unmöglich schien, war sie sich ganz sicher: Es war die Stimme ihrer Mutter, Königin Titanias.

An das Gedicht erinnern…? Nur eine kann in beide Welten, jüngste Tochter derer sieben, zusammen mit dem einzig Wahren, Hand in Hand in tiefem Lieben.

Auf einmal hatte Tania keine Angst mehr. Sie wusste, was sie zu tun hatte.

Sie stellte die Laterne ab, schritt mit hoch erhobenem Kopf und festem Blick auf Gabriel zu. Ohne zu zögern trat sie in das glänzende bernsteinfarbene Licht. Die Luft über dem Kessel flirrte über der brodelnden bernsteinfarbenen Flüssigkeit.

»Bist du sicher, dass du das willst?«, fragte sie ruhig. »Bist du dir wirklich ganz sicher?«

Gabriel hob den gläsernen Krug, den sie früher schon im Spiegel gesehen hatte, und tauchte ihn in den Kessel.

»Von ganzem Herzen«, sagte er.

»Na«, sagte Tania, »dann lass es uns tun.«

Da ertönte ein gedämpfter Schrei und Tania wandte sich um. Edric hatte sich auf die Knie erhoben und starrte sie entsetzt an. »Nein!«, stieß er hervor. »Tania, nicht!«

»Mach dir keine Sorgen, alles wird gut«, versprach sie. »Rathina hat Recht– es ist mein Schicksal. Ich bin ihm fünfhundert Jahre lang ausgewichen, aber das ist jetzt vorbei. Vertrau mir, es ist das Beste.«

»Eine kluge Entscheidung, Mylady«, sagte Gabriel sanft.

Tania drehte sich wieder um, denn sie konnte Edrics entsetzten Blick nicht ertragen. Sie konnte ihm nicht erklären, warum sie das tat– noch nicht. Sie wickelte die Seide von ihren Händen, dann hielt sie den Arm über den Kessel.

Sie unterdrückte den Ekel, als Gabriels Hand die ihre umschloss. Als er den Krug über ihre Hände hielt, schlich sich ein triumphierendes Lächeln auf sein Gesicht. Sie sah weg.

Sie spürte, wie die warme Flüssigkeit über ihre vereinten Hände lief.

Ihre Finger kribbelten. Das seltsame Prickeln breitete sich rasch in ihrem Arm bis zur Schulter hinauf aus.

Einen Herzschlag später spürte sie, wie etwas ihre Haut von innen versengte. Es war, als würden sich ihr Körper und Geist verflüssigen und mit dem Körper und Geist von Gabriel Drake verschmelzen. Mit angehaltenem Atem blickte sie ihm ins Gesicht. Aber es war nicht mehr sein Gesicht, sondern ihr eigenes, das sie über den glühenden Kesselinhalt hinweg anstarrte. Ihr Gesicht und sein Gesicht– ihre Augen und seine Augen– vermengten sich, verschmolzen miteinander, wurden eins.

In diesem Augenblick erkannte sie das volle Ausmaß seines Strebens– sie sah es so klar wie die Bilder im Handspiegel.

Sie sah, wie Gabriel eine glänzende Waffe aus Isenmort aus der Welt der Sterblichen ins Elfenreich brachte und den König damit erstach. Wie Oberon zusammensackte und zu seinen Füßen starb. Dann bestieg Gabriel den Thron und beschuldigte andere des Mordes am König.

Sie sah, wie er sich zum Tyrannen über das ganze Elfenreich aufschwang. Schließlich würde er die Elfenarmeen in die Welt der Sterblichen führen, um seine Schreckensherrschaft auszuweiten.

Und Tania wurde bewusst, dass es ihm dank ihrer Gabe, zwischen beiden Welten hin- und herzuwandeln, gelingen würde, all diese schrecklichen Taten umzusetzen.