III

»Anita? Komm, Mädchen, steh auf!«

Sie war völlig durchgefroren. Sie lag mit dem Gesicht nach unten auf einer kalten, harten Fläche.

Sanfte, aber starke Hände halfen ihr hoch, sodass sie sich aufsetzen konnte.

Sie öffnete die Augen. Die Nachtschwester kniete neben ihr und hielt sie an den Schultern fest. Anita befand sich wieder in der Toilette des Krankenhauses.

»Was ist passiert?«, fragte sie.

»Du warst kurz ohnmächtig, Anita«, sagte die Krankenschwester. »Schaffst du es oder soll ich jemanden rufen?«

»Nein, ich glaube, ich kann allein aufstehen.« Sie rappelte sich hoch, wobei sie sich auf die Schulter der Krankenschwester stützte.

»Du hättest jemanden rufen sollen, als dir auf einmal schwindlig wurde«, sagte die Schwester und musterte sie forschend.

»Hab ich nicht«, sagte Anita. »Mich schwindlig gefühlt, meine ich. Wie lange bin ich denn schon hier drin?«

»Höchstens zehn Minuten«, sagte die Schwester. »Du hast so lange gebraucht, dass ich dachte, ich sehe besser mal nach. Musst du immer noch?«

»Was?«

Die Krankenschwester deutete mit dem Kopf auf die Toilettenkabinen.

Anita schüttelte den Kopf, dann schaute sie zum Fenster. Es war geschlossen und verriegelt.

Sie lachte überrascht auf.

Alles hatte so real gewirkt.

Sie sah sich im Spiegel an.

Keine Flügel.

Natürlich nicht!– Bist du völlig durchgedreht?

»Zurück ins Bett«, sagte die Schwester. Sie legte einen Arm um Anita. »Was ist denn das?«, rief sie da und zog den Arm zurück. »Dein Schlafanzugoberteil ist ja kaputt.«

Anita erschrak. »Was meinen Sie damit?«

»Da sind zwei lange Risse«, sagte die Krankenschwester und strich mit dem Finger über den zerfetzten Stoff. »Wie dumm. Das muss passiert sein, als du hingefallen bist.«

Anita warf einen Blick auf die Krankenschwester. »Da haben sich meine Flügel durchgebohrt«, sagte sie.

Erstaunen stand der Krankenschwester ins Gesicht geschrieben. »Na, das erklärt natürlich alles«, sagte sie. »Sollen wir zurück ins Bett?«

»Ist da denn irgendwas auf meinem Rücken?«

Die Schwester lächelte. »Du hast keine Flügel, wenn du das meinst.«

»Nein. Irgendwas. Rote Schrammen?«

Die Krankenschwester untersuchte Anitas Rücken durch die Risse im Oberteil. »Nein, nichts«, berichtete sie. »So glatt wie ein Babypopo.«

Anita drehte sich zu ihr und sah ihr direkt in die Augen. »Woran merkt man eigentlich, dass man verrückt wird?«, fragte sie leise.

Die Krankenschwester musterte sie eine ganze Weile. »Du hast einen anstrengenden Tag hinter dir«, sagte sie. »Komm, wir bringen dich jetzt zurück in dein Bett.« Sie führte Anita aus der Toilette und durch die Station zu ihrem Bett.

Anita suchte den Blick der Krankenschwester. »Wollen Sie mir nicht die Wahrheit sagen?«

»Natürlich– wenn ich kann«, sagte die Schwester.

»Kommt Evan wieder in Ordnung?«

Die Krankenschwester betrachtete sie nachdenklich. »Die Ärzte wundern sich ein bisschen, dass er noch nicht aufgewacht ist«, gab sie schließlich zu. »Man hat eine CT bei ihm gemacht, und soweit man sehen kann, fehlt ihm nichts.«

»Eine CT

»Eine Computertomografie, das heißt, dass sie sich sein Gehirn ganz genau angeschaut haben. Und damit ist so weit alles in bester Ordnung, aber er scheint einfach noch nicht aufwachen zu wollen.«

Anita schluckte. »Ich habe mal irgendwo gehört, je länger jemand im Koma liegt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass irgendwas in seinem Kopf nicht mehr funktioniert.«

»Das ist grundsätzlich richtig«, sagte die Schwester. »Aber dein Freund liegt nicht im Koma. Er schläft nur tief und fest.« Sie lächelte. »Er kann jede Minute aufwachen.«

»Wirklich?«

Die Krankenschwester nickte. »Wirklich.« Sie schlug die Decke zurück, damit Anita ins Bett klettern konnte. »Heute ist dein Geburtstag, nicht? Wir haben bei Evans Sachen etwas gefunden, was dich vielleicht interessiert. Warte kurz.«

Wenige Minuten später kam sie mit einem kleinen Päckchen zurück. Sie zog den Vorhang um Anitas Bett zu und schaltete das Lämpchen über dem Bett an.

Das Päckchen war in rotes Papier gewickelt und ein kleines Geschenkkärtchen hing daran.

Für Anita. Ich wünsche dir den glücklichsten aller Geburtstage. Alles Liebe, Evan.

»Das wollte er mir bestimmt gestern geben«, sagte Anita leise. Sie drehte und wendete das Päckchen in den Händen. »Vielleicht sollte ich mit dem Auspacken warten, bis er aufgewacht ist.«

»Ach, ich glaube nicht, dass er etwas dagegen hätte«, sagte die Krankenschwester. »Na komm, mach auf!«

Vorsichtig pulte Anita das Klebeband ab und schlug das scharlachrote Einwickelpapier auseinander. Innen lag ein schwarzes Schächtelchen. Sie nahm den Deckel ab. Darunter kamen erst mal nur weißer Stoff zum Vorschein.

Unter mehreren Schichten Seidenpapier entdeckt sie schließlich einen Anhänger, der an einer filigranen Kette hing. Der Anhänger hatte die Form einer lang gezogenen Träne, war bernsteinfarben und schimmerte im Licht.

Anita biss sich auf die Lippe. Sie nahm die Kette aus der Schachtel, sodass der Anhänger hell schimmernd in der Luft hing.

»Der ist aber schön!«, sagte die Krankenschwester.

»Ja«, flüsterte Anita, »zauberhaft.«

Sie hielt sich den Anhänger vors Gesicht. Tief im Herzen des bernsteinfarbenen Tränentropfens konnte sie dunkles Licht sehen, das wie eine eingeschlossene Flamme zuckte.

»Könnten Sie mir bitte helfen?«

Sie beugte sich vor und die Krankenschwester machte hinten den Verschluss zu. Der Anhänger lag warm auf Anitas Haut. Ein starker Drang überkam sie, bei Evan zu sein– und sei es nur für ein paar Sekunden.

»Ich muss mich unbedingt bei ihm bedanken, auch wenn er mich nicht hören kann«, bat sie. »Kann ich zu ihm, mich zu ihm setzen? Nur für ein oder zwei Minuten.«

»Morgen Früh gern«, sagte die Krankenschwester. »Vielleicht ist er dann sogar wieder auf den Beinen.« Sie lächelte auf Anita hinunter. »Aber jetzt versuch zu schlafen.«

Anita ließ sich in die Kissen sinken und umschloss den Anhänger mit ihrer Hand. Die Krankenschwester deckte sie zu und schlüpfte durch den Vorhang hinaus.

Anita fielen die Augen zu, ihre Lider waren bleischwer.

Nun gute Nacht! So süß ist Trennungswehe, ich rief’ wohl gute Nacht, bis ich den Morgen sähe.

Als Anita aufwachte, war es noch immer still und dunkel. Sie hielt den Bernsteinanhänger immer noch fest umklammert und lächelte, als es ihr auffiel. Evans tolles Geschenk. Sie tastete nach der Uhr auf dem Nachtkästchen. Das Leuchtziffernblatt zeigte, dass es erst halb sechs Uhr früh war, aber sie war merkwürdigerweise munter.

Sie richtete sich auf und schaltete die Lampe über dem Bett an. Ein heller Lichtschein flutete auf sie herab.

Sie wusste nicht recht, was sie von den Abenteuern der vergangenen Nacht halten sollte. Das war alles ganz schön verrückt gewesen: Flügel und ihre Flug über die nächtliche Stadt. Allerdings fühlte sie sich nicht so, als würde sie verrückt werden. So etwas merkte man doch, oder?

Sie nahm ihr neues Buch vom Nachttisch, legte es vor sich hin und streichelte das weiche Leder. Sobald sie sich einen guten Füller zugelegt hätte, würde sie alles aufschreiben, woran sie sich von dem Flug erinnern konnte. Ob das wirklich geschehen war oder nicht, spielte dabei eigentlich keine Rolle– es war einfach total irre gewesen.

Sie schlug die erste Seite auf. Die elfenbeinfarbenen Blätter waren dick und sahen aus als wären sie aus handgeschöpftem Papier.

Sie blätterte die erste Seite um.

Das letzte Mal, als sie nachgesehen hatte, waren das Buch leer gewesen, da war sie sich absolut sicher. Doch waren die Seiten gefüllt: schwarz auf weiß hoben sich die Buchstaben, die in einer altertümlichen Schnörkelschrift gedruckt waren, vom Papier ab.

Elfen wandeln Elfenpfade,
in Bernstein gefangen, doch leicht wie Licht.
Die Sterblichen in ihrer Welt,
geschlagen von Blindheit,
sehen sie nicht.

Nur eine kann in beide Welten,
jüngste Tochter derer sieben,
zusammen mit dem einzig Wahren,
Hand in Hand in tiefem Lieben.

Anita hatte keine Ahnung, was die Worte bedeuten sollten, aber sie erinnerten sie an Shakespeare.

Sie fühlte sich seltsam entrückt und fern der Realität. »Bestimmt träume ich schon wieder«, murmelte sie. »Genau wie heute Nacht.«

Lächelnd blätterte sie um.

Da stand noch mehr. Viel mehr.

An diesem Tage ward Prinzessin Tania geboren, als siebente Tochter unseres ruhmreichen Königs Oberon und unserer viel gepriesenen Königin Titania. Im ganzen Königreich läuteten überall die Glocken angesichts der frohen Kunde.

Das klang fast wie ein Märchen, aber die Sprache war so altertümlich und blumig, dass ein Kind sie wohl nur schwer verstand. Vielleicht ein Märchen für Erwachsene?

Stirnrunzelnd las Anita weiter. Es folgten ausführliche Beschreibungen von den Feierlichkeiten und den Besuchen wichtiger Persönlichkeiten sowie endlose Einzelheiten über die ersten Tage im Leben der Neugeborenen. Allmählich verschwamm die Schrift vor Anitas Augen. Sie gähnte und ihr fiel das Buch aus den Händen. Doch mit einem Schlag war sie wieder hellwach, als die Seiten sich plötzlich wie von selbst umblätterten. Mit weit aufgerissenen Augen sah sie zu. Erst ein paar Dutzend Seiten später hörte das Buch wieder auf. Es war der Anfang eines neuen Kapitels.

Am Tag vor ihrem sechzehnten Geburtstag traf Prinzessin Tania alle Vorbereitungen für ihre anstehende Vermählung mit dem jungen Lord Gabriel Drake von Castle Weir. Sie war froh und glücklich, denn er stammte aus einer vornehmen Familie, sah gut aus und hatte vollendete Manieren.

Ah, das klang schon spannender. Anita machte es sich wieder gemütlich und las weiter.

Am Abend vor ihrem Hochzeitstag streute man Rosenblütenblätter und versprühte den Duft von Sandelholz und Nachtkerze auf Prinzessin Tanias Bett, auf dass ihre Träume gesegnet seien. Dann ließ man sie allein, damit sie ein letztes Mal in ihrem Schlafgemach aus Kindertagen schlafen konnte.

Lächelnd las Anita, wie Tania mit einer roten Rose in der Hand, die ihr Verlobter ihr geschenkt hatte, auf ihrem großen Himmelbett saß und glücklich aus dem Flügelfenster hinaus auf den Vollmond schaute.

In der stillen Stunde vor Mitternacht klopfte es leise an Prinzessin Tanias Tür. Es war ihre Schwester Prinzessin Rathina, die gekommen war, um ihr in den letzten Augenblicken Gesellschaft zu leisten. Sie redeten miteinander, waren gar lustig und vergnügt, aber ihr Glück ward zerstört, als Prinzessin Tania mit einem Mal spurlos aus ihrem Gemach verschwand.

Anita blinzelte überrascht. Sie las die Passage ein zweites Mal, um sicherzugehen, dass sie nichts missverstanden hatte.

Nein– Prinzessin Tania war tatsächlich verschwunden.

Prinzessin Rathina war zutiefst bestürzt ob des Verschwindens ihrer geliebten Schwester und sie lief von Raum zu Raum und weckte alle mit ihrem Rufen auf. Bald war der ganze Palast auf den Beinen und die schreckliche Kunde von Prinzessin Tanias Verschwinden ward von Gemach zu Gemach, von Zinne zu Zinne und Turm zu Turm weitergetragen, bis sie selbst in die abgelegensten Ecken des Großen Palastes gedrungen war.

Anita blätterte weiter.

Als der Tag anbrach– jener Tag, an dem eigentlich seine Vermählung hätte stattfinden sollen– kniete der junge Lord Drake vor König Oberon nieder und schwor, dass er nicht rasten noch ruhen würde, ehe er seine verlorene Liebe gefunden hätte, auch wenn seine Suche sieben mal siebzig Jahre dauern sollte.

Und das war’s. Damit endete die Geschichte unvermittelt auf der Hälfte der Seite. Anita schlug die nächste Seite auf und die übernächste und die überübernächste, aber mehr kam nicht. Das restliche Buch war leer. Sie las den letzten Absatz noch einmal und fragte sich, ob sie irgendetwas nicht mitbekommen hatte.

Plötzlich sprach eine leise, sanfte Männerstimme die Worte laut mit, die sie las. Überrascht blickte Anita auf. Die Stimme schien ganz in ihrer Nähe zu sein. Doch da war niemand.

»Wer bist du?«, flüsterte sie.

Keine Antwort.

»Was passiert hier?«

Stille.

»Ich habe keine Angst«, sprach Anita in die Luft. »Ich möchte nur wissen, was hier vorgeht.«

Da schien eine andere Stimme ihre Worte fast wie ein Echo zu wiederholen. »Was geht hier vor?«

Doch das war nicht mehr die Männerstimme, sondern eine forsche, gedämpfte Frauenstimme.

»Keine Ahnung, Schwester. Gerade eben war er noch hier.« Diese zweite Stimme erkannte Anita: Es war die Krankenschwester, die ihr vom Boden der Toilette aufgeholfen hatte.

»Ich sehe mal in der Männertoilette nach«, sagte die erste Frauenstimme. »Weit kann er nicht gekommen sein.«

Anita hörte, wie sich Schritte aus dem Zimmer entfernten. Sie legte ihr Buch beiseite, schlüpfte aus dem Bett und zog den Vorhang auf. Die Nachtschwester stand am Fuß von Evans Bett. Die Decke war zurückgeschlagen. Das Bett war leer.

Anita durchfuhr jähe Freude. Evan war aufgewacht! Ihm ging es also gut. Vor Erleichterung wurde ihr ganz schwindelig.

Sie tapste zur Krankenschwester.

»Wo ist er?«, fragte sie.

Die Schwester sah sie an. »Pst, wir wollen doch nicht alle aufwecken«, sagte sie. »Und du solltest um diese Zeit eigentlich im Bett liegen.«

»Ich will Evan sehen«, sagte Anita. Sie schaute sich um. Bestimmt war er irgendwo ganz in der Nähe. »Wo ist er?«

Bevor die Krankenschwester antworten konnte, hörte man das Klappern von Absätzen auf dem Fußboden. Die Stationsschwester kam auf sie zu. »In der Toilette ist er nicht«, berichtete sie. »Ich bleibe hier auf der Station. Versuchen Sie ihn zu finden– Beeilung, bitte. Es geht schließlich nicht, dass Patienten unbeaufsichtigt im Krankenhaus herumwandern.«

Die Schwester nickte und verschwand im dämmrigen Korridor.

Anita starrte die Stationsschwester an. Wo war Evan?

»Wir werden ihn finden, keine Sorge«, sagte die Stationsschwester. »Und in der Zwischenzeit solltest du wieder ins Bett gehen.«

Bereitwillig ließ sich Anita zurückführen, aber sie war zu aufgeregt, um schlafen zu können.

Sie lehnte sich gegen die Kissen, umklammerte den Bernsteinanhänger und wartete darauf, dass Evan an ihrem Bett auftauchen und alles wieder in Ordnung sein würde.

Drei Stunden später saß Anita noch immer aufrecht im Bett und starrte mit dem Anhänger in der Hand auf die gegenüberliegende Wand.

Evan hatte man noch immer nicht gefunden.

Die irische Krankenschwester setzte sich auf ihre Bettkante und ergriff Anitas freie Hand.

»Wo ist er?«, murmelte Anita. Verwundert sah sie die Krankenschwester an. »Wo kann er nur stecken?«

»Keine Sorge«, sagte die Schwester. »Weit kann er nicht sein. Keines seiner Kleidungsstücke fehlt.«

»Vielleicht liegt er ja irgendwo bewusstlos«, sagte Anita. »Er könnte sich verletzt haben.«

»Mal nicht den Teufel an die Wand«, rügte die Schwester sie. »Ich vermute, dass er beim Aufwachen erst mal etwas orientierungslos war und halb benommen losgeschlurft ist. Die Polizei ist informiert, damit sie Ausschau nach ihm hält, falls er wider Erwarten das Gebäude verlassen haben sollte. Wenn er in der Krankenhauskleidung auf den Straßen herumirrt, wird man ihn bald finden und zurückbringen.«

Anita biss sich auf die Lippen. »Hoffentlich.«

Die Krankenschwester stand auf. Sie lächelte. »Sie werden ihn finden, mach dir keine Sorgen.« Damit ging sie.

Anita blickte ihr nach und versuchte, sich nicht vorzustellen, wie Evan verwirrt und mit Schmerzen im Krankenhaus herumlief, vielleicht mit so heftigem Kopfweh, dass er nicht mehr klar denken konnte.

Sie schaute zum Fenster auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers.

Draußen schien die Sonne.

Aber Anita konnte sich nicht ablenken, solange Evan da draußen nach einem schweren Unfall in der Gegend herumstolperte. Er könnte hinfallen und sich was tun oder vor ein Auto laufen.

Anita schüttelte den Kopf. Sie musste nur fest daran glauben, dass man Evan sicher und wohlbehalten finden würde– dass er zu ihr zurückgebracht und alles wieder gut werden würde.

Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen. Plötzlich bemerkte sie jedoch einen wandernden schwarzen Fleck hinter ihren geschlossenen Augenlidern.

Sie runzelte die Stirn. Statt zu verwischen und weiter zu verblassen, schien der verschwommene Lichtfleck kleiner zu werden, sich zu verändern und Gestalt anzunehmen.

Der Fleck wurde zu der schwarzen Silhouette einer Person, die hinter Anitas Augenlidern stand. Zwar konnte man ihre Gesichtszüge nicht erkennen und sie war nur zweidimensional, aber es handelte sich ganz eindeutig um den Umriss eines Menschen– eines Mannes.

Evan?

Die Gestalt kam näher und streckte die Hand nach ihr aus.

Mit angehaltenem Atem öffnete Anita die Augen.

Nein, es war nicht Evan.

Der Mann stand ungefähr zwanzig Meter von ihr entfernt und trug die Art Kleidung, die sie im Schultheater verwendeten, Kleidung aus der Zeit von ElisabethI.: einen langen schwarzen, pelzbesetzten Umhang, ein Wams und eine Kniehose aus dunkelrotem Stoff sowie kniehohe Lederstiefel. Lächelnd machte er eine Verbeugung. Er sah gut aus, mit hohen Wangenknochen, tief liegenden Augen und dunklen Haaren, die er sich aus dem Gesicht gekämmt hatte. Anita konnte sehen, dass er nur ein paar Jahre älter war als sie selbst.

Doch seltsamerweise war das Bild körnig und leicht verschwommen wie auf einem schlechten Video und Anita konnte durch den Mann hindurch die Wand sehen.

»Kommt zu mir.«

Das war dieselbe tiefe, melodische Stimme, die laut aus dem Buch vorgelesen hatte. Außerdem sprach er seltsam altmodisch.

»Wer sind Sie?«, flüsterte sie kaum hörbar.

»Kommt zu mir und alles wird offenbart.« Das Bild des jungen Mannes flackerte und verschwand kurz ganz. Ein drängender Ton schlich sich in seine Stimme. »Wir haben nur wenig Zeit, Mylady– kommt her zu mir.«

Überzeugt, dass sie wieder träumte, stieg Anita aus dem Bett.

Sie ging auf ihn zu, aber obwohl sich seine Beine nicht bewegten, glitt er von ihr weg.

Jetzt streckte er beide Hände nach ihr aus.

Sie tapste über den kalten Fußboden, doch erneut wich er zurück.

Sie folgte ihm zum Ende der Station und bis zu einer Tür, hinter der das Fernsehzimmer lag. Der Mann schwebte geradewegs durch die geschlossene Tür hindurch.

»Kommt zu mir.«

»Ich versuch’s ja.«

Sie öffnete die Tür zum Aufenthaltsraum. Bei ihrem Eintreten schauten ein paar Leute desinteressiert auf. Den Mann jedoch würdigte niemand auch nur eines Blickes, obwohl er direkt vor dem Fernseher stand.

Er glitt jetzt rückwärts zu einer Tür, die auf einen kleinen Balkon führte.

Anita öffnete die Tür und trat in den Sonnenschein hinaus. Ein paar Stühle standen um kleine Plastiktischchen herum, aber es waren keine anderen Patienten draußen.

Die seltsame Gestalt war jetzt noch schwerer zu erkennen.

»Schenkt mir all Eure Aufmerksamkeit, Mylady.« Seine Stimme war nur noch ein leises Murmeln. »Ihr habt die Kraft dazu– Ihr müsst nach mir greifen. Verbannt alle anderen Gedanken aus Eurem Kopf. Nehmt meine Hand. Denkt an nichts anderes.«

Anita konzentrierte sich auf seine ausgestreckte Hand, ging auf ihn zu und diesmal glitt er nicht weg. Sie kam näher, den Blick auf seine Hand geheftet.

Das passiert alles nicht wirklich, sagte sie sich.

Das war zwar nicht so aufregend wie ihr Traum vom Fliegen, aber trotzdem ging etwas Faszinierendes von dem gut aussehenden jungen Mann aus, und sie war neugierig, wohin er sie brachte.

Nur ein paar Meter trennten sie noch.

»Kommt, Mylady«, drängte er sie wieder. Er beugte sich zu ihr, streckte seinen Arm aus und griff mit den Fingern nach ihr.

Mit letzter Anstrengung machte sie einen Satz nach vorn. Ihre Hände berührten sich.

Triumphierend schrie er auf, packte ihr Handgelenk und zog sie so ruckartig zu sich heran, dass Anita beinahe von den Füßen gerissen wurde und einen leisen Schmerzensschrei ausstieß.

Während sie vorwärtsstolperte, löste sich vor ihren Augen der Klinikbalkon und der Rest des Krankenhauses auf. Tiefe Dunkelheit hüllte sie ein.

»Wo bin ich?« Anitas Stimme hallte in ihren Ohren wider.

»Zu Hause, Mylady«, sagte der Mann und hängte ihr seinen Umhang um die Schultern, um ihren Schlafanzug zu bedecken. »Euer langes Exil hat ein Ende.«

Anita wandte sich ihm zu. »Tut mir leid«, sagte sie. »Für wen genau halten Sie mich eigentlich?«

»Ihr seid Prinzessin Tania, die siebte Tochter von König Oberon und Königin Titania«, verkündete er.

Sie lächelte schief. Entweder war das der lebhafteste Traum, den sie jemals hatte– oder sie wurde nun doch komplett verrückt.

»Verstehe«, sagte sie. »Und Sie sind…?«

Er machte eine tiefe Verbeugung. »Ich bin Gabriel Drake, Herzog von Weir.«

Das Buch mit dem Ledereinband! Sie befand sich mitten in dem Märchen! Gabriel Drake war der Mann, der die verschollene Prinzessin heiraten sollte.

»Das ist ja cool«, sagte Anita. »Echt schade, dass ich jeden Moment wieder im Krankenhaus aufwachen werde.«

»Ihr schlaft nicht.« Er drehte sie sanft am Ellbogen herum. »Hier, seht Euren Geburtsort: den Königspalast des Elfenreiches.«

Sie standen auf einem hölzernen Kai, der auf einen breiten Fluss hinausging. Auf der anderen Uferseite lag unter blaugrauem Himmel mit filigranem Sternenmuster ein riesengroßer Palast, der sich nach links und rechts so weit erstreckte, wie sie nur sehen konnte. Jeder Raum, jeder Turm, jede Mauer war mit Tausenden von Lichtern geschmückt, die sich im glitzernden Fluss spiegelten.

Auf dem Fluss schaukelten mit Laternen behängte Boote auf und ab.

Musik wehte über das Wasser: der Klang von Harfen, Flöten und Tamburinen, dazu Gesang und Gelächter.

Zu ihrer Linken ragte eine kunstvolle, schmale, weiße Steinbrücke mit schön geschwungenem Bogen aus dem Wasser, an beiden Seiten stand je ein hoher Turm. Die Brücke war auf der ganzen Länge mit flackernden Fackeln erleuchtet, sodass der Bogen sich im kräuselnden Wasser spiegelte.

Augenblicklich wusste Anita, wo sie war: Das waren derselbe Fluss und dasselbe Schloss, die sie vergangene Nacht auf ihrem Flug gesehen hatte. Nur dass jetzt alles unzerstört und voller Leben war.

Genau, wie sie es in Erinnerung hatte.

»Ja!«, hauchte sie. »So muss alles aussehen.«

»Erlaubt mir, dass ich Euch geleite, Mylady.« Gabriel Drake reichte ihr seine Hand und Anita ließ sich von ihm zur Brücke führen.

Dort stieg sie die wenigen Steinstufen hinauf und ging Hand in Hand mit dem jungen Lord über den Fluss. Der Duft der Blumen, die in Körben an der Brücke hingen, stieg ihr in die Nase. Einige Gerüche kannte sie: Ihre Mutter war eine leidenschaftliche Gärtnerin und dekorierte das Haus oft mit frischen Schnittblumen. Unter einigen fremden Düften konnte Anita Gemshorn, Nachtkerze und Mondblume ausmachen.

Sie warf einen Seitenblick auf Gabriel Drake. Er sah sehr gut aus, auch wenn die tief liegenden silbrigen Augen ein bisschen beunruhigend waren. Flüchtig ging ihr die Frage durch den Kopf, warum er so glücklich wirkte. Dann fiel ihr ein, dass es bestimmt daran lag, dass er seine lang verschollene Braut gefunden hatte.

Sie überlegte, wohin dieser erstaunliche Traum sie wohl als Nächstes führen würde. Hoffentlich nicht zum Altar. Sie war nicht allzu scharf darauf, einen Wildfremden zu heiraten– auch wenn der ziemlich attraktiv und alles nur ein Traum war.

»Wie soll ich Sie ansprechen?«, fragte sie ihn. »Herzog? Eure Lordschaft? Mr Drake?«

Er hob kaum merklich eine Augenbraue. »Nennt mich Euren ergebensten Diener.«

»So kann ich Sie doch wohl kaum die ganze Zeit anreden.«

»Einst nanntet Ihr mich einfach Euren Geliebten«, sagte er.

Sie rümpfte die Nase. »Ich glaube nicht, dass ich Sie so nennen kann, wenn du nichts dagegen hast.– Ich bin doch eine Prinzessin, oder?«

»Fürwahr.«

»Äh, das nehme ich mal als ein Ja«, sagte Anita. »In diesem Fall werde ich Gabriel sagen.« Sie runzelte die Stirn. »Das ist alles echt unfassbar«, sagte sie. »Ich meine: Man muss sich hier nur mal umsehen! Wer hätte gedacht, dass ich so eine lebhafte Fantasie habe und mir so was ausdenken kann?«

»Das Königreich und Herrschaftsgebiet Eures gnädigen Vaters besteht bereits seit ewigen Zeiten, Mylady«, sagte Gabriel.

»Tja, wenn du das sagst.«

Auf der anderen Seite der Brücke führte ein Weg aus weißen Steinplatten zu einer hohen Mauer mit einem Torbogen, hinter dem ein quadratischer Innenhof lag. Als sie ihn durchquerten, fiel aus hundert Fenstern Licht auf sie. Gabriels Stiefel hallten auf dem Kopfsteinpflaster. Er führte Anita eine kurze Treppe hinauf und durch einen weiteren Torbogen.

Nun gingen sie einen von Kerzen erleuchteten Gang mit Eichenvertäfelung und hohen Fenstern entlang.

An den Wänden hingen lauter Gemälde: Porträts von schönen Leuten in prächtigen Kleidern. Anita fiel auf, dass die Kinder auf den Bildern feine, glänzende Flügel hatten, genau wie sie in ihrem anderen Traum. Die Erwachsenen dagegen waren flügellos.

Durch geschlossene Türen konnte sie Musik und Stimmen hören, aber der Korridor selbst war leer.

Sie kamen an einer Reihe von Zimmern vorbei, die von Kronleuchtern erhellt und mit solch exquisiten Möbeln, eleganten Statuen, edlen Teppichen und Kunstwerken ausgestattet waren, dass Anita das Gefühl hatte, sie ginge durch ein Museum.

»Also, wenn ich gewusst hätte, dass ich so was träumen kann, hätte ich echt mehr Zeit im Bett verbracht«, sagte Anita, dann fügte sie, an Gabriel gewandt, hinzu: »Wohin gehen wir eigentlich?«

»Zur Großen Halle, Mylady.«

Er ging mit ihr durch eine niedrige Tür, hinter der eine schmale Wendeltreppe lag. Oben befand sich eine weitere Tür, durch die man Gelächter und fröhliche helle Musik von Saiteninstrumenten hörte.

»Klingt so, als würde jemand eine Party feiern«, sagte Anita.

»Das ist das Fest des Weißen Hirsches.«

Gabriel stieß die Tür auf und schlagartig wurde es lauter. Dann geleitete er Anita zu einer hohen Empore, von der aus man auf einen großen Saal mit einem weiten, kunstvoll gewölbten Holzdach und dunkel getäfelten Wänden mit Wandteppichen blicken konnte. Flackernde Kerzen steckten zwischen den Wandteppichen in Haltern und zwei Kronleuchter, ebenfalls mit Kerzen bestückt, hingen an der Decke. Anita betrachtete das Treiben unter sich. Der Saal war voller Leute, alle in wunderschöner elisabethanischer Kleidung. An der entfernten Seite des Saals stand ein langer, breiter Tisch mit Tabletts, Schüsseln und Schalen voller Speisen. Es roch nach Braten. In der Ecke sah Anita eine kleine Musikkapelle, die auf sonderbaren, altmodischen Instrumenten spielte. In der Mitte des Tisches standen zwei Throne unter einer scharlachroten Markise. Ein Mann und eine Frau saßen nebeneinander darauf.

Der Mann trug ein pelzbesetztes schwarzes Wams mit weißer Stickerei und Puffärmeln mit Schlitzen, unter denen das weiße Hemd hervorschaute. Um den Hals hatte er eine weiße Krause und auf dem goldenen Haar saß eine schlichte weiße Krone mit schwarzen Juwelen. Er hatte einen kurz geschnittenen Vollbart, hohe schräge Wangenknochen und kluge, durchdringende blaue Augen.

Die Frau trug ein hellblaues Kleid mit weiß bestickter Spitze auf dem Mieder und langen geschlitzten Ärmeln. Die hohe Halskrause ihres Kleides funkelte, als wären weiße Juwelen eingenäht. Sie war unglaublich schön, hatte strahlend grüne Augen, schneeweiße Haut und leuchtend rote Lippen. Auf den Locken ihrer hochgesteckten roten Haare saß eine Krone aus weißem Kristall, ebenfalls mit schwarzen Steinen besetzt, die im Kerzenschein silbrig blitzten.

Während Anita so von oben auf sie hinunterschaute, hatte sie das Gefühl, als würde sie am Rand eines großen dunklen Ozeans der Erinnerungen taumeln.

Am Tisch saßen noch ein paar weitere Leute, aber die meisten tanzten. Die Schritte waren langsam und kompliziert: Die Männer und Frauen bewegten sich in einem raffinierten Muster aufeinander zu und wieder voneinander weg, ohne jemals zu stocken.

Außerdem gab es dort unten einen großen Steinkamin, aber darin brannte kein Feuer, sondern die Feuerstelle war mit Vasen voller Blumen gefüllt.

»Wie schön«, flüsterte sie.

Da erregte eine einsame, reglose Gestalt ihre Aufmerksamkeit. Es war ein Mann.

Er saß seitlich vom Kamin auf einem Schemel. Die Ellbogen hatte er auf die Knie gestützt und den Kopf in den Händen, als würde er die Festlichkeiten um sich herum gar nicht wahrnehmen. Er hatte langes goldenes Haar und trug ein grünes Wams sowie grüne Kniehosen, die mit gelber Stickerei verziert waren. Doch irgendetwas war an ihm– etwas an der Art, wie sich seine Haare lockten, oder an seiner Haltung–, was Anita zu kennen meinte.

»Wer ist das?«, fragte sie und beugte sich weit über das Geländer, sodass sie Gabriel ihre Hand entziehen musste. »Der kommt mir so bekannt vor.«

Kaum hatte sie Gabriel ganz losgelassen, änderte sich schlagartig alles.

Im Saal herrschte jetzt nur noch ein trübes Dämmerlicht. Die Tänzer hatten sich in Luft aufgelöst, die Musik stoppte abrupt. Der Bratenduft war verschwunden, der lange Tisch leer, genau wie die Stühle und die zwei Throne. Es wehte kalt von unten hoch, die Luft roch nach feuchtem Moder und Verwesung.

Das einzig verbleibende Licht kam von ein paar gelben Kerzen auf dem Kaminsims.

Und die einzige Person, die sich noch im Saal befand, war der Mann in Grün.

Während Anita ihn von oben anstarrte, hob er den Kopf und blickte zu ihr hoch. Im flackernden Licht sah sie sein Gesicht.

Es war Evan.