I

Anita Palmer kam aus der Dusche, schnappte sich ein Handtuch und wickelte es sich um. Dann tapste sie zum beschlagenen Spiegel, wischte einen Streifen frei und betrachtete ihr Spiegelbild.

Die langen roten Haare klebten ihr am Kopf wie Seetang an einem Fels und umrahmten ihr herzförmiges Gesicht mit dem breiten Mund und den hohen Wangenknochen. Sie beugte sich vor und musterte ihre Augen. Die Iris war rauchig grün. Keine besonderen Auffälligkeiten.

Oder doch?

Sie beugte sich weiter vor.

Da waren tief in der grünen Iris Goldtupfer– genau die hatte sie gesucht.

Wenn man nur lange genug hinschaute, könne man Goldstaub in ihren Augen sehen, hatte Evan gesagt.

Anita grinste.

Goldstaub in ihren Augen.

Manchmal, wenn sie mit Evan zusammen war, glaubte sie fast wirklich, dass sie Goldstaub in den Augen hatte.

Sie runzelte die Stirn.

Ganz schön unheimlich– die Gefühle, die Evan Thomas in ihr auslöste.

In den letzten Wochen hatte sie dauernd an Evan gedacht, fast so, als hätte ihn jemand in ihr Hirn einprogrammiert. Ständig und überall sah sie sein Gesicht vor sich, sei es in der kreisenden Oberfläche eines frisch gebrühten Kaffees, im Wechselspiel von Licht und Schatten, in den Wolken oder hinter ihren geschlossenen Augenlidern.

Sie musste an ein paar Verszeilen aus dem Theaterstück denken, das sie gerade für die Aufführung am Schuljahresende probten. Shakespeares »Romeo und Julia«.

Im Geiste hörte sie Evans Stimme: »Doch still, was schimmert durch das Fenster dort? Es ist der Ost und Julia ist meine Sonne!«

Sie hatte gesagt: »Das stimmt aber nicht ganz, Evan. Romeo sagt: ›…und Julia die Sonne!– nicht meine Sonne.«

Lächelnd hatte er geantwortet: »Nein, du bist Julia und du bist ganz eindeutig meine Sonne.«

Dann hatte er ihr in die Augen geblickt und sie hatte das Gefühl gehabt, alles um sie herum drehe sich.

Sie lachte ihrem Spiegelbild zu und schüttelte den Kopf, um die Erinnerung zu vertreiben. Noch immer grinsend schlang sie sich das Handtuch um den Kopf und rubbelte sich das Haar trocken. Sie wollte nicht zu spät zu ihrem Treffen mit Evan kommen– nicht ausgerechnet heute!

Als sie mit dem Handtuch versehentlich die beiden schmerzenden Stellen am Rücken berührte, zuckte sie zusammen. Sie drehte sich so zum Spiegel, dass sie ihre Schulterblätter sehen konnte. Irgendetwas hatte sie dort gestochen. Gleich zweimal: Auf jedem Schulterblatt prangte ein leicht entzündeter roter Punkt. Und zwar schon seit ein paar Tagen. Sehr lästig, und noch dazu an so einer blöden Stelle, wo man kaum hinkam, um sich zu kratzen. Sie würde sich etwas anziehen müssen, was ihren Rücken bedeckte. Schließlich wollte sie auf keinen Fall, dass Evan dachte, sie hätte Flöhe.

Wieder blickte sie in den Spiegel.

Liebte sie Evan wirklich– oder brachte sie das nur mit ihrer Rolle in dem Theaterstück durcheinander? Nein, sie war sich sicher, dass da mehr war. Sie hatte gleich so ein seltsames Flattern im Bauch gespürt, als sie die Rolle der Julia bekam– und während der Probenwochen war das Kribbeln immer stärker geworden, je besser sie ihn kennenlernte.

Sie dachte an das Casting zurück. Dass Evan überhaupt dort aufgetaucht war, hatte alle überrascht. Er war erst seit sechs Monaten an der Schule und hatte eher zurückhaltend gewirkt. Jedenfalls nicht wie der Typ, der sich um die Hauptrolle in einem Theaterstück bewarb. In der Klasse war er freundlich, aber er hatte keine engen Freunde und seine Mitschüler hielten ihn eher für einen Einzelgänger. Niemand hatte ihn bis jetzt zu sich nach Hause eingeladen und an Wochenenden hatte er nicht mit ihnen herumgehangen oder war auf irgendwelchen Partys erschienen.

Anita konnte sich noch ganz genau daran erinnern, wie sie Evan zum ersten Mal gesehen hatte. Es war am Tag ihres Schulausflugs zum Hampton Court Palace in Richmond im Westen Londons gewesen.

Was für ein seltsamer Tag! Sie wusste, dass man es Déjà-vu nannte, wenn man lebhafte Erinnerungen an einen Ort hatte, an dem man eigentlich noch nie gewesen war. Doch genau dieses Gefühl hatte sie sofort beschlichen, als der Bus auf den Parkplatz gefahren war und sie das Schloss aus dem 16.Jahrhundert erblickt hatte– das Gefühl, dass sie schon einmal hier gewesen war. Die stämmigen Tudor-Türmchen und das Gebäude aus rotem Backstein mit seinen sandfarbenen Steinzinnen und Verzierungen sowie der kopfsteingepflasterte Innenhof und die große Gartenanlage– all das hatte auf sie merkwürdig vertraut gewirkt. Als sie jedoch später ihren Eltern davon erzählte, weil sie dachte, sie wären früher mal dort gewesen, als sie klein war, hatten diese beteuert, dass sie mit ihr noch nie dort gewesen seien.

Das Sonderbarste aber war das weltberühmte Labyrinth gewesen. Es war ein großes Dreieck mit lauter schmalen, gewundenen Gängen aus hohen, blickdichten Hecken. Natürlich wollte so ziemlich jeder Schlossbesucher sein Orientierungsvermögen testen und den Weg ins Herz des Irrgartens finden. Alle aus dem Schulbus hatten sich hineingedrängelt. Und die Jungs hatten groß getönt, dass sie als Erste im Zentrum sein würden. Es war das totale Chaos gewesen– die meisten hatten sich hoffnungslos verirrt und mussten von den Leuten, die auf den Holztribünen standen und dem Ganzen von oben zusahen, per Zuruf wieder zum Ausgang geleitet werden.

Zuerst hatte Anita sich zurückgehalten– angesichts der grünen Heckengänge überkam sie ein unerklärliches, unheimliches Gefühl. Doch dann hatte ihre beste Freundin Jade sie am Ärmel hineingezogen. Kaum war sie im Labyrinth gewesen, war etwas Merkwürdiges passiert: Irgendwie kannte sie den kürzesten Weg und lief zu der kleinen Statue im Zentrum, ohne auch nur ein einziges Mal falsch abzubiegen. »Na, wie findest du das?«, hatte sie lachend zu Jade gesagt. »Bin ich ein Genie oder was?« Aber Jade behauptete, das sei nur Glück gewesen.

Am selben Nachmittag hatte sie ihn dann zum ersten Mal gesehen: Als der Bus in den Schulhof einbog, stand der tollste Junge, den sie je zu Gesicht bekommen hatte, draußen vor dem Schultor. Evan Thomas, ein neuer Schüler, der eben erst in die Gegend gezogen war

Sechs Monate später spielte sie nicht nur die Julia neben ihm als Romeo, sondern– und das war noch verblüffender– er war auch ihr erster richtiger Freund.

Anfangs hatte Anita bei den Proben noch Angst gehabt, sich bei den komplizierten Sätzen zu versprechen oder auf der Bühne über ihre Füße zu stolpern, aber Evan war hilfsbereit und lieb gewesen. Wie sich herausstellte, hatte er auch einen tollen Humor. In der Sterbeszene am Schluss musste sie sich über ihn werfen, wenn er auf dem Boden lag, aber er kicherte so, dass sie ebenfalls losprusten musste. Nicht selten endeten die Proben damit, dass sie beide lachten und lachten und nicht mehr damit aufhören konnten.

Da hatte es angefangen– aber auch bei den Mittagessen in der Schulmensa, wo sie über das Stück sprachen. Je öfter sie sich trafen, desto weniger redeten sie allerdings über »Romeo und Julia«. Nach ein paar Wochen war es dann vollkommen natürlich gewesen, sich nach der Schule zu verabreden und zusammen in ein Café zu gehen. Sie konnte sich noch lebhaft daran erinnern, wie sie ihm bei ihrem ersten richtigen Date gegenübergesessen hatte: Sie hatte ihm nur in die Augen gesehen und kein einziges Wort gehört, das er sagte.

Es war ihr so unglaublich leicht gefallen, ihm all ihre geheimsten Wünsche und Sehnsüchte anzuvertrauen– Sachen, die sie niemandem sonst erzählte. Wie zum Beispiel, dass sie, wenn sie einen guten Abschluss schaffte, gern mit dem Rucksack durch Europa oder Amerika reisen wollte. Danach wollte sie auf die Universität gehen und vielleicht eine Laufbahn als Journalistin einschlagen. Und dann– na ja, das weitere Leben. In der Weltgeschichte herumgondeln. Abenteuer erleben. Aber natürlich immer mit einem Zuhause, in das sie zurückkehren konnte: ein weißes Häuschen auf einer hohen Klippe mit Blick aufs Meer. Ein Mann. Kinder.

Sie hatte auch jede Einzelheit aus seinem Leben wissen wollen. Doch er hatte nur mit den Achseln gezuckt und gesagt, es sei zu langweilig, um davon zu erzählen. Er habe Verwandte in Wales, aber mit denen verstehe er sich nicht so gut. Um von ihnen wegzukommen, war er nach London gezogen– und hatte sie gefunden! Da hatte sein Leben erst so richtig angefangen, das behauptete er zumindest.

»So ein Quatsch«, hatte sie zu ihm gesagt, aber natürlich hatte es ihr doch geschmeichelt.

Er trug immer ein breites Lederarmband am Handgelenk, in das ein kleiner, flacher schwarzer Stein eingesetzt war und das mit zwei Riemchen verknotet war. Angeblich ein Familienerbstück, von dem er sich nie trennen würde. »Wieso nicht?«, hatte sie fasziniert gefragt. »Was hat es für eine Bedeutung?« Aber er hatte nur gelächelt.

»Irgendwann erzähle ich’s dir mal«, hatte er geantwortet. »Nicht jetzt– aber bald. Versprochen.« Wie geheimnisvoll! Das gefiel Anita: das Gefühl, dass es an ihm noch viel zu entdecken gab.

Natürlich hatten Jade und die anderen alles haarklein über ihr Treffen mit Evan wissen wollen: Wie es gelaufen sei? Ob er sie nach Hause gebracht und ob er sie geküsst habe? Ob sie zusammen wären?

Tania hatte geduldig alle Fragen ihrer Freundinnen beantwortete: Wir haben uns bloß unterhalten, mehr nicht, und er hat mich zum Kaffee eingeladen. Ja, er hat mich nach Hause gebracht. Nein, wir haben uns nicht geküsst. Da auf jeden Fall noch nicht. Ob wir zusammen sind?– Ich weiß es nicht… noch nicht.

Anita betrachtete sich wieder im Spiegel. Der erste Kuss war für sie ziemlich überraschend gekommen. Da hatte er ihr auch das mit dem Goldstaub in den Augen gesagt– und in diesem Augenblick hatte sie ihm geglaubt.

Vor ein paar Tagen hatte er ihr verraten, dass er etwas für ihren Geburtstag plane. Morgen würde sie sechzehn werden. Mittags wollte sie zu Hause eine Grillparty für all ihre Freunde geben, aber Evan meinte, er wolle am Tag davor etwas ganz Besonderes machen, nur sie beide ganz allein. Als Anita fragte, was er denn vorhabe, sagte er, das werde sie schon sehen

Vielleicht würde er mit ihr an irgendeinen romantischen Ort fahren und ihr sagen, dass er sie liebe.

Sie musterte ihr Spiegelbild. Wie würde sie darauf reagieren? So etwas hatte noch keiner zu ihr gesagt. Der Gedanke, dass Evan ihr vielleicht eine Liebeserklärung machte, haute sie ziemlich um und war irgendwie erschreckend– aber auch total aufregend.

Sie hatte das starke Gefühl, dass sie den Satz gern erwidern würde.

Den Blick auf ihr Spiegelbild geheftet, bewegte sie stumm die Lippen: Ich liebe dich, Evan. Am liebsten hätte sie laut geschrien, aber sie wusste nicht, ob vor Freude oder aus Panik.

Auf einmal juckten ihre Schulterblätter wieder schmerzhaft und das riss sie aus ihren Tagträumen.

Sie öffnete das Arzneischränkchen, um nach der Antihistaminsalbe zu suchen.

Eine halbe Stunde später rannte sie durch den Flur und rief ihren Eltern durch die geöffnete Wohnzimmertür schnell ein »Tschüss!« zu.

»Du bist spät dran!«, rief ihr Vater. »Bestimmt hat Evan die Warterei schon satt. Bis du da bist, ist er längst über alle Berge.«

»Vielen Dank für dein grenzenloses Vertrauen, Dad!«, schrie Anita grinsend zurück. »Ich glaube, ein bisschen mehr Geduld bringt er schon auf.«

Sie sprang mit einem Satz die Eingangsstufen hinunter, wobei sie sich am Geländer festhielt. Dann rannte sie zur U-Bahn-Station Camden Town. Der ganze Aufwand, den sie betrieben hatte, um für Evan gut auszusehen– und jetzt war sie viel zu spät und würde verschwitzt und außer Atem ankommen.

Auf der steilsten Höh’ der Tagesreise steht die Sonne jetzt… drei lange Stunden sind’s– und dennoch bleibt sie aus

Anita juchzte vor Begeisterung, als das Schnellboot übers Wasser raste und der Wind ihr die Haare ins Gesicht peitschte.

»Na, wie findest du deine Geburtstagsüberraschung?«, rief Evan, der am Steuer stand. Er hatte Mühe, den Motor und das Platschen und Spritzen des Kiels auf dem Wasser zu übertönen. »Gefällt’s dir?«

»Ob’s mir gefällt? Es ist genial!« Sie juchzte erneut auf, als der Bug sich kurz senkte und gleich darauf wieder hob. Er durchschnitt die sich kräuselnde Wasseroberfläche wie ein heißes Messer. Gischt prickelte auf ihrem Gesicht. »Das ist das tollste Geschenk, das ich je bekommen hab!«

Lächelnd nahm er eine Hand vom Steuer und strich ihr übers Haar. Sie zitterte ein wenig bei seiner Berührung, küsste seine Hand und drückte sie an ihre Wange. Sie war so glücklich, dass sie das Gefühl hatte, gleich zu platzen. Mit klopfendem Herzen sah sie Evan an. Sein dunkelblondes Haar flatterte wild um seinen Kopf. Seine kastanienbraunen Augen hatte er gegen den Fahrtwind zusammengekniffen. Als er ihren Blick bemerkte, lächelte er sie an.

Evan lenkte das Boot unter einem der Bögen der Westminster Bridge hindurch. Einen Herzschlag lang fuhren sie im Schatten, dann schossen sie wieder ins helle Sonnenlicht hinaus. Zur Rechten konnte Anita die gotischen Turmspitzen der Houses of Parliament sehen und dahinter Bürogebäude und weitere Türme, die sich schimmernd gegen den wolkenlosen knallblauen Himmel abhoben.

»Und das ist erst der Anfang«, fuhr er fort. »Wir fahren nämlich bis nach Richmond. Dort können wir was essen und ein bisschen am Fluss rumliegen. Dann bringe ich dich in die Stadt zurück und wir können in ein paar Clubs gehen.« Er lächelte sie an. »Hast du Lust?«

»Und ob!«

Evan hatte sich mit keinem Wort beschwert, als sie eine halbe Stunde zu spät an der U-Bahn-Station Monument aufgetaucht war. Er hatte ihr einen Kuss gegeben, war dann Hand in Hand mit ihr hinunter zum Fluss und über einen schwankenden Steg zu dem kleinen schnittigen Schnellboot gegangen, das er für diesen Tag gemietet hatte.

Wenige Minuten später waren sie schon die Themse entlanggebraust, dass sich hinter ihnen das Kielwasser wie ein Paar Schwanenflügel hob.

»Wo hast du Boot fahren gelernt?«, rief Anita ihm zu.

Evan grinste sie an. »Beeindruckt?«

»Schon!«

Evan lachte. »Ach, ich hab noch so einige verborgene Talente– wusstest du das denn nicht?« Ruckartig riss er das Steuerrad herum und das Boot machte einen kleinen Hüpfer.

»Nicht!«, stieß Anita hervor und packte die Metallreling. »Au!«, rief sie aus und zuckte zurück.

»Was ist denn?«, rief Evan.

Anita rieb sich die Finger. »Ich hab einen Stromschlag von der Reling bekommen.«

»Tja, das kommt eben von deiner elektrisierenden Persönlichkeit«, sagte er und bremste das Boot ab, weil sie an einem Wassertaxi vorbeikamen.

Sie sah ihn stirnrunzelnd an. »Mach dich nicht lustig über mich– das tat echt weh!« Jetzt, da sie nicht mehr so schnell fuhren, konnte sie fast wieder in normaler Lautstärke sprechen. »Das geht jetzt schon seit ein paar Wochen so. Jedes Mal, wenn ich Metall berühre, kriege ich einen Stromschlag. Dad meint, das sei die statische Aufladung.«

Evan zuckte die Achseln. »Dann fass doch einfach kein Metall mehr an.«

»Leichter gesagt als getan«, stellte Anita klar. »Wie soll ich ohne Besteck essen? Echt nervig. Wenn das so weitergeht, muss ich noch die ganze Zeit Handschuhe tragen.« Sie schüttelte den Kopf. »Das muss natürlich ausgerechnet mir passieren!«

»Passieren dir denn öfter seltsame Dinge?«, fragte Evan und warf ihr einen amüsierten Seitenblick zu.

»Nicht seltsam– nur peinlich«, sagte Anita. »Laut Mum bin ich ein Pechvogel. Und Dad meint, dass ich wahrscheinlich unter einem Unglücksstern geboren wurde.«

»Ach, das glaub ich nicht«, sagte Evan.

Vor ihnen kam rasch die Lambeth Bridge näher.

»Also, im Moment bin ich jedenfalls ganz und gar nicht unglücklich«, sagte Anita. Sie grinste.

»Gut.« Er sah wieder zu ihr hinüber, aber mit einem Mal war er ganz ernst. »Anita? Es gibt da etwas Wichtiges, was ich dir sagen muss.«

Ein nervöses Kribbeln durchfuhr sie und ihr Magen schlug Purzelbäume. Sie sah Evan halb ängstlich und halb gespannt an– welches Bekenntnis jetzt wohl kommen würde?

Nenn Liebster mich, so bin ich neu getauft

Doch bevor Evan etwas sagen konnte, legte sich ein kalter Schatten über sie, als hätte eine dunkle Hand sich vor die Sonne geschoben. Anita blickte auf: Der Himmel war wolkenlos.

Evan drehte ruckartig den Kopf und riss die Augen auf. Etwas schien ihn zutiefst erschreckt zu haben.

Anita blickte über den Fluss, um herauszufinden, was es war. Für den Bruchteil einer Sekunde meinte sie, etwas Langes, Dunkles direkt auf der Wasseroberfläche zu sehen.

»Nein!«, knurrte Evan mit zusammengebissenen Zähnen. »Er kann uns unmöglich gefunden haben. Nicht ausgerechnet jetzt!«

Anita starrte ihn verwirrt an. Wovon sprach er?

Evan riss das Steuerrad herum.

Das Boot machte eine scharfe Kehrtwende und legte sich so schräg ins Wasser, dass Anita taumelte und gegen Evan fiel. Kaltes Wasser spritzte ihr ins Gesicht und sie rang keuchend nach Atem.

»Evan! Stopp!«, schrie sie.

»Nein«, rief er mit wilder, brüchiger Stimme. »Er weiß, dass wir hier sind. Er wird dich mir wegnehmen!«

»Was redest du denn da? Evan– bitte!«

Aus dem Augenwinkel sah sie etwas Großes, Dunkles vor sich aufragen. Als sie den Kopf drehte, füllte bereits einer der Steinpfeiler der Lambeth Bridge ihr Blickfeld komplett aus.

Dann knallte es auch schon und Anita sauste durch die Luft. Ein ohrenbetäubender Lärm folgte und der Himmel drehte sich wirbelnd wie in einem Kaleidoskop. Rote Flammen züngelten am Rand ihres Gesichtsfelds und um sie herum wurde es schwarz. Und dann war da nur noch die eisige tödliche Umarmung des tiefen Wassers.