XVI
»Welch Verrat wird hier verübt?«, zischte Gabriel hasserfüllt. Tania erschrak– dies war nicht der freundliche und sanfte Gabriel, den sie bisher gekannt hatte.
Edric stellte sich vor sie. »Ich habe ihr alles erzählt!«, sagte er. »Sie will nun nichts mehr mit Euch zu tun haben!«
Gabriel machte eine Handbewegung und Edric wurde plötzlich durch den Raum gewirbelt. Tania zuckte zusammen, als sein Kopf mit einem dumpfen Schlag gegen die Wand krachte. Er fiel auf dem Boden und schnappte nach Luft.
»Tu ihm nichts!«, rief Tania.
»Ihm etwas tun?«, wiederholte Gabriel voller Zorn. »Ich werde ihn vernichten und am Ende wird nichts von ihm übrig bleiben– selbst die Krähen werden nichts finden, woran sie sich gütlich tun können!«
Entsetzt rannte Tania zu Edric hinüber und stellte sich schützend vor ihn. Er war bei Bewusstsein, wirkte aber benommen und schien zudem starke Schmerzen zu haben.
»Nein!«, sagte sie. »Das wirst du nicht.«
Gabriels Augen loderten auf und mit einem Mal war Tania überzeugt, dass er ihr etwas Schreckliches antun würde. Doch dann schien er sich zu besinnen und die Wut wich aus seinem Gesicht. Er lächelte sie an, doch ihn ihm brodelte es immer noch– die funkelnden Augen verrieten es.
»Vergib mir, Tania«, sagte er. »Mein Zorn war so groß, dass ich mich für kurze Zeit vergessen habe– aber er ist verflogen.« Er blickte düster auf Edric hinunter. »Warum hintergehst du mich so, Edric?«, murmelte er. »Welche Lügen hast du verbreitet?«
Edric wischte sich mit der Hand über den Mund. »Keine Lügen, Mylord«, sagte er. »Ich habe der Prinzessin nur den wahren Grund offenbart, weswegen Ihr sie zu heiraten wünscht.«
Gabriel schien überrascht. »Ach wirklich?« Er sah Tania an. »Und was sind das für Gründe?«
»Ihr strebt nach Macht«, sagte Edric.
Gabriel sah Tania an. »Das ist doch Unsinn«, sagte er ruhig. »Siehst du nicht, dass er nicht bei Verstand ist?« Er seufzte bedauernd. »Ich habe es geahnt, aber ich hatte gehofft, es dir zu ersparen. Ich fürchte, seine Seele hat durch die Zeit in der Welt der Sterblichen Schaden erlitten. Edric, Edric. Wenn ein Mann nach der Sonne greift, verbrennt er sich lediglich die Finger. Man sollte nicht nach Dingen streben, die man niemals erreichen kann.«
Tania runzelte die Stirn. »Wovon sprichst du?«
»Verstehst du es denn nicht?«, sagte Gabriel. »Dieser Mann glaubt, dich zu lieben, und er möchte dich für sich haben. Er würde alles sagen, um dich gegen mich aufzubringen, um dich an mir zweifeln zu lassen.«
Tania starrte Edric verunsichert an.
»Wann habe ich dir jemals die Unwahrheit erzählt, Tania?«, fuhr Gabriel sanft fort. »Habe ich versucht, dir den Hof zu machen– oder wieder an unsere alte Liebe anzuknüpfen?«
Tania schüttelte den Kopf. »Nein…«
»Und so sollte es auch nicht sein, Tania. Ich habe dich heimgebracht um deines Vaters, meines Königs, und seines Reiches willen.« Er streckte ihr seine Hand entgegen. »Komm fort von hier«, drängte er. »Lass uns diesen Unsinn rasch beenden.«
Da rappelte sich Edric auf. Er schwankte, Blut lief aus einer Wunde an der Stirn über sein Gesicht. »Nein!«, rief er. »Geh nicht mit ihm– glaub ihm nicht.« Er stolperte auf Gabriel zu.
Der Lord hob die Hand und Edric blieb abrupt stehen, als wäre er gegen eine Wand geprallt. Gabriel machte eine weitere Handbewegung und Edric griff sich mit beiden Händen an den Hals– aus seinem Mund kam ein ersticktes Röcheln. Entsetzt beobachtete Tania, wie Edric langsam vom Boden hoch schwebte und strampelnd in der Luft hing.
Tania warf sich auf Gabriel und zerrte an seinem Arm.
Mit einem erstickten Schrei fiel Edric zu Boden.
»Lass ihn in Ruhe!«, schrie Tania.
Gabriels Augen blitzten. »Was soll das, Tania?«, sagte er. »Was bedeutet dir dieser Mann? Er ist ein Nichts! Ein Sklave, beweglicher Besitz– ein wertloses Stück Treibgut, das ich entzweireißen und in alle vier Winde verstreuen kann, wenn mir danach ist.«
Tania schüttelte den Kopf.
»Nein!«, sagte sie. »Das kannst du nicht machen. Auch wenn das, was du über ihn gesagt hast, wahr ist.«
»Dir wäre es also lieber, wenn er weiterhin im ganzen Reich ungehindert seine Boshaftigkeiten verbreiten kann?«, sagte Gabriel. »Ich bin der Stellvertreter des Königs und lasse nicht zu, dass diese Kreatur mir schadet. Eher liegt er tot zu meinen Füßen.«
»Hier müssen doch irgendwelche Gesetze gelten«, sagte Tania verzweifelt. »Wenn er etwas Falsches getan hat, dann muss er vor Gericht gestellt werden. Du kannst ihn doch nicht einfach so mir nichts, dir nichts töten.«
Gabriel sah sie lange wortlos an. »Dein Mitgefühl spricht für dich, Tania«, sagte er schließlich. »Dir zuliebe werde ich Gnade vor Recht ergehen lassen. Denk daran: Das, was ich jetzt tue, geschieht auf deinen ausdrücklichen Wunsch hin.« Er zog eine kleine, leuchtende Bernsteinkugel unter dem Umhang hervor, die er zwischen Daumen und Zeigefinger hielt, sodass Edric sie gut sehen konnte. Die Oberfläche der Kugel waberte wie flüssiges Öl und Rauchschwaden stiegen auf.
»Nein!«, stöhnte Edric.
Gabriel warf Tania einen Blick zu. »Ich tue es für dich«, erinnerte er sie. Er rief so laut, dass es von den Dachbalken wiederhallte. »Edric Chanticleer, bis in alle Ewigkeit verbanne ich dich ins Bernsteingefängnis!« Damit schleuderte er Edric die Kugel vor die Füße.
Die Kugel zerbarst in einem blendend weißen Funkenregen und Tania wich mit erhobenen Armen zurück, um die Augen vor dem grellen Licht zu schützen. Sie hörte einen verzweifelten Schrei, der plötzlich erstarb.
Als sie die Augen öffnete, sah sie nur noch schwelenden Rauch und Flammen.
»Was hast du getan?«, flüsterte Tania.
»Ich habe Master Chanticleer verurteilt«, sagte Gabriel. »Auf deinen Wunsch hin ist er nicht tot. Wahrlich, habe keine Furcht, Tania– denn er wird nie sterben.«
Langsam verzog sich der Qualm und Tania konnte wieder etwas erkennen: Mitten im Raum schwebte eine große bernsteinfarbene Lichtkugel über dem Boden, wobei die Oberfläche in Bewegung war wie die hauchdünne Haut einer Seifenblase– und innendrin kauerte Edric. Er schien wie mitten in der Bewegung erstarrt– seine Hand griff nach der Hülle, seine angstvolle Miene war versteinert, sein Blick ausdruckslos.
Entsetzt machte Tania einen Schritt auf die leuchtende Kugel zu und streckte eine Hand danach aus, aber die Oberfläche war glühend heiß. Immer noch stieg Rauch auf, denn der Boden direkt unter der Kugel war versengt.
Tania starrte Gabriel an, der triumphierend auf den gefangenen Edric blickte. »Lass ihn raus.«
»Das ist unmöglich«, erwiderte Gabriel. »Aus dem Bernsteingefängnis gibt es kein Entrinnen.«
»Aber er lebt da drinnen doch noch?«
»Ja, sicher«, sagte Gabriel. »Siehst du, wie ich dir jeden Wunsch erfülle, Tania? Ich stehe zu deiner Verfügung.« Er wandte sich zur Tür und rief: »Wachen!«
»Du meinst, du wirst ihn für immer lebendig da drin lassen?«, stieß Tania hervor. »Wie kannst du nur?«
Gabriel antwortete nicht.
Zwei Männer in dunkelroten Livreen betraten den Raum.
»Schafft dieses Stück Dreck fort«, sagte Gabriel zu ihnen. »Sein Anblick macht mich krank.«
Die Männer zogen weiße Kristallschwerter aus ihren Gürteln und Tania sah bestürzt zu, wie sie das Bernsteingefängnis mit den Schwertspitzen hochhoben, in der Luft balancierten und durch die offene Tür schoben.
»Wohin bringen sie ihn?«, fragte sie schockiert.
»Ins Verlies«, sagte Gabriel. »Verbann ihn aus deinen Gedanken, Tania. Ihn gibt es nicht mehr.«
Sie zitterte am ganze Körper und sie konnte kaum ein Wort hervorbringen: »Hat er gelogen? Bitte, ich muss es wissen.«
»Diese Frage ist deiner unwürdig, Tania«, entgegnete Gabriel sanft. »Der Mann ist nur ein niedriger Diener– du bist eine Prinzessin. Vergiss ihn.«
»Nein«, sagte sie ruhig. »Das kann ich nicht. Wenn du ihn nicht fair behandelst, dann gehe ich zu Oberon.« Sie zitterte inzwischen so sehr, dass sie sich kaum auf den Beinen halten konnte.
»Der König ist weit weg, Tania«, erwiderte Gabriel. »Ich herrsche an seiner Stelle– und mein Wort ist Gesetz.«
Tania wollte nichts mehr hören, konnte seine Anwesenheit nicht mehr ertragen. Wie konnte er Edric nur dermaßen grausam bestrafen? Das hatte er nicht verdient.
Was, wenn Edric die Wahrheit sagte?
Sie wollte an Gabriel vorbei zur Tür, doch er hielt sie unsanft am Arm fest. »Wohin willst du, meine Tania?«
»Lass mich los!«, stieß sie hervor, aber seine Finger gruben sich tiefer in ihren Arm und seine Augen glitzerten unheimlich.
»Wahrlich, wie schade«, sagte er sanft. »Hätte ich die Wahl, so hätte ich dich langsam, ganz langsam umworben, bis ich abermals dein Herz für mich gewonnen hätte. Aber ich sehe schon, das Geschwätz von Master Chanticleer hat dir den Kopf verdreht.« Er lächelte und seine Finger bohrten sich noch tiefer in ihren Arm, bis sie vor Schmerzen nach Luft schnappte. »Wir werden heiraten, Tania– ob es dir nun beliebt oder nicht.«
»Niemals!«, sagte sie ruhig. »Du kannst mich nicht zwingen, dich zu heiraten, und sobald ich hier rauskomme, werde ich meinen Schwestern erzählen, was du vorhast! Gemeinsam werden wir einen Weg finden, wie wir mit so einer falschen Ratte wie dir fertig werden!«
Gabriel lachte eiskalt. »Deine Schwestern?«, sagte er. »Deine liebenden Schwestern?«
Verwirrt über den Hohn in seiner Stimme starrte Tania ihn an.
Er wandte sich zur Tür. »Kommt her, Mylady!«, rief er. »Zeigt Euch.«
Rathina trat in die offene Tür. Sie hielt den Kopf hoch erhoben, mied aber Tanias Blick.
»Rathina?«, hauchte Tania. »Was geht hier vor?«
»Du und Gabriel, ihr müsst heiraten«, sagte Rathina knapp. »Das ist das Beste.«
Tania sah sie eine Weile wortlos an, zu schockiert, um etwas zu sagen. Warum stellte sich Rathina auf Gabriels Seite?
»Pass auf deine Schwester auf«, wies Gabriel Rathina an. »Und sorge dafür, dass sie einsieht, was das Beste für sie ist.« An Tania gewandt sagte er: »Wenn du dich mir widersetzt, wird Edric sterben. Wenn du einwilligst, mich zu heiraten, werde ich ihn freilassen. Sein Schicksal liegt in deiner Hand. Wähle weise!« Damit ließ er Tanias schmerzenden Arm los und rauschte aus dem Raum.
Zwei Wachen von Gabriel begleiteten Tania und Rathina in Tanias Schlafgemach. Die Dunkelheit war hereingebrochen und der Raum war nur von einigen Kerzen erleuchtet. Direkt hinter der Tür blieb Tania stehen. Sie hörte, wie mit einem lauten Klicken der Schlüssel im Schloss gedreht wurde, und bebte vor Wut.
Rathina öffnete ein Fenster. »Hier drinnen ist es stickig«, sagte sie. »Etwas frische Luft wird uns guttun.«
»Warum hast du Gabriel verraten, wo wir sind?«, wollte Tania wissen. Sie war so aufgebracht, dass sie sich kaum beherrschen konnte.
Rathina war am Fenster stehen geblieben und antwortete, ohne ihre Schwester anzusehen. »Ich habe es ihm nicht verraten. Gabriel braucht keine Spione, die ihn zu dir führen, Tania.« Sie zeigte auf den Anhänger. »Du trägst den Schlüssel zu deinem Gefängnis um den Hals. Solange du den Bernstein umhast, kannst du ihm nicht entfliehen.«
Tania riss sich den Anhänger vom Hals, warf ihn zu Boden und zertrat ihn hastig bis nur noch ein kleines Häufchen bräunlicher Puder übrig war.
»Das hättest du schon lange machen sollen«, sagte Rathina trocken. Sie setzte sich auf einen der Stühle. »Jetzt ist es bereits zu spät, fürchte ich. Gabriels Wachen stehen draußen– du kannst nicht mehr fliehen. Ich an deiner Stelle würde mein Schicksal so würdevoll wie möglich tragen.«
»Du denkst also wirklich, ich sollte ihn heiraten?«
»Das wäre das Klügste.«
»Das glaube ich nicht!«, zischte Tania. »Warum hilfst du ihm?«
»Weil es deine einzige Möglichkeit ist, Edrics Leben zu retten.« Rathina legte den Kopf schief. »Möchtest du das nicht? Edric hat mir seine Liebe zu dir gestanden. Er glaubt, dass du seine Liebe erwiderst und hatte mich gebeten, das Treffen zwischen euch zu arrangieren.« Sie sah Tania mit zusammengekniffenen Augen an. »Hast du Gefühle für diesen Bediensteten oder nicht?«
»Ja«, flüsterte Tania. »Doch.«
Sie hatte nie aufgehört, Evan zu lieben. Es war Edric, der sie verraten hatte und den sie verabscheute. Doch bei den Stallungen hatte sie wieder Evan vor sich gesehen, der sagte, dass er sie nie betrügen würde– und sie hatte ihm geglaubt.
Sie schloss die Augen und schlug die Hände vors Gesicht– sie konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Sie merkte, wie Rathina näher kam und sie tröstend in die Arme nahm.
»Ruhig, kleine Schwester«, murmelte Rathina. »Du darfst nicht den Mut verlieren. Verzeih mir– ich hätte Gabriel nicht geholfen, wenn ich gewusst hätte, wie grausam er Edric behandeln würde.«
Tania legte die Arme um Rathinas Hals, zu unglücklich, um etwas zu sagen.
»Hör mir zu, Tania«, fuhr Rathina fort. »Es gibt einen Weg, wie du Gabriel entfliehen kannst.«
»Wie denn?«, fragte Tania mit erstickter Stimme.
»Indem du in die Welt der Sterblichen gehst.«
Tania stockte der Atem. Sie blickte auf und wischte sich die Tränen aus den Augen. »Was?«
Rathina nickte ernst. »Das hast du hier schon mal getan«, sagte sie. »In genau diesem Zimmer– vor fünfhundert Jahren.«
Tania starrte ihre Schwester an. »Du meinst, du weißt, wie es mir damals gelungen ist, in die andere Welt zu wechseln?«
Rathina schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, welche Kräfte du aufgeboten hast– aber ich habe gesehen, wie du verschwunden bist. Wir brauchen nur zu wiederholen, was wir in jener Nacht getan haben. Dann kannst du dem Elfenreich für immer den Rücken kehren.«
»Nein«, sagte Tania. »Das kommt nicht infrage. Ich muss Edric retten– und wie kann ich ihm helfen, wenn ich einfach in die Welt der Sterblichen verschwinde?«
Rathina nahm Tanias heißes Gesicht zwischen ihre kühlen Handflächen. »Wenn du erst mal weg bist, hat Gabriel keinen Grund mehr, Edric gefangen zu halten. Ich schwöre dir, dass ich alles in meiner Macht Stehende tun werde, dass er freikommt.« Ihre Stimme wurde drängender. »Doch das kann nur geschehen, wenn du fort bist– irgendwo, wohin dir niemand folgen kann.« Mit großen Augen schaute sie Tania an. »Hör mir gut zu: Du gehörst nicht in diese Welt. Tief im Herzen weißt du, dass ich Recht habe. Du gehörst in die Welt der Sterblichen– die Welt, in die du hineingeboren wurdest… die Welt, die du so viel besser kennst, als du jemals das Elfenreich kennen wirst.« Sie senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Du weißt, dass ich die Wahrheit sage… Anita.«
Tania blinzelte. Es war das erste Mal seit ihrer Ankunft im Palast, dass jemand ihren sterblichen Namen benutzt hatte.
»Dir kam das Leben hier immer wie ein Traum vor«, sagte Rathina. »Geh zurück– nach Hause.«
»Ich muss Edric helfen«, sagte Tania leise.
Rathina lächelte sie mitfühlend an. »Und wie willst du das anstellen?«, fragte sie. »Willst du einfach ins Verlies marschieren und das Bernsteingefängnis mit bloßer Willenskraft zerstören?« Sie schüttelte den Kopf. »Versteh doch, Anita: Das Bernsteingefängnis kann nur von jenen geöffnet werden, die die Mystischen Künste beherrschen. Glaub mir, Anita, wenn ich dir sage, dass es im ganzen Elfenreich keine einzige Macht gibt, mit deren Hilfe du die Fesseln des Bernsteingefängnisses lösen könntest. Die einzige Möglichkeit, Edric zu helfen, ist es, nach Hause zurückzukehren.«
Tania starrte ihre Schwester lange an. Ihr Instinkt sagte ihr, dass sie Edric nicht im Stich lassen konnte, doch Rathinas Worte ergaben einen Sinn. Und was konnte sie schon groß tun? Wenn sie bliebe, würde Gabriel sie zwingen, ihn zu heiraten. Wenn sie ginge, würde sie Edric für immer verlieren.
Plötzlich fiel ihr etwas ein.
»Du hast gerade gesagt, dass es im ganzen Elfenreich nichts gibt, womit ich das Bernsteingefängnis aufbrechen kann, oder?«
»Fürwahr«, sagte Rathina. »Es ist vollkommen nutzlos, es zu probieren.«
»Nichts im Elfenreich!«, wiederholte Tania. »Aber wie steht es mit der Welt der Sterblichen? Wenn ich mich nur erinnern könnte, wie man zwischen den Welten hin- und herwandelt. Wenn ich wüsste was das Gefängnis ausbrechen kann, könnte ich es aus London mitbringen.« Rathina war deutlich anzusehen, dass sie nicht begriff.
»Isenmort!«, rief Tania. »Sancha hat mir erzählt, dass Isenmort hier wirklich gefährlich ist. Wenn ich etwas aus Metall mitbringe, könnte es mächtig genug sein, um ein Bernsteingefängnis aufzubrechen!«
Rathina schauderte. »Aber Isenmort bedeutet Tod«, sagte sie. »Du kannst doch nicht etwas derart Gefährliches in dieses Reich bringen– das wäre unser Verhängnis!«
»Ich werde so vorsichtig wie möglich vorgehen«, sagte Tania. »Aber ich muss es versuchen. Und du hast Recht«, fuhr sie fort. »Ich sollte meine Kraft nutzen, um das Elfenreich zu verlassen– jedoch nur, um wiederzukommen.« Sie nahm ein paar tiefe Atemzüge, um sich zu beruhigen. »Das schaffe ich«, sagte sie sich. »Ich weiß, dass ich es kann.« Sie schloss die Augen und konzentrierte sich auf zu Hause– auf ihre Mutter und ihren Vater, auf ihr Heim. Auf ihr richtiges– nein, ihr anderes– Zimmer. Während sie sich dies alles so lebhaft wie möglich vorstellte, ging sie mit ausgestreckten Armen vorwärts.
Aber kein Lüftchen regte sich und der Boden schmolz nicht unter ihren Füßen.
Sie öffnete die Augen: Sie befand sich noch immer im Elfenreich.
Ihre Schwester musterte sie schweigend.
»Hilf mir, Rathina«, bat Tania. «Sag mir, was ich in jener Nacht gemacht habe. Wie bin ich in die Welt der Sterblichen gelangt?”
«Das ist lange her”, murmelte Rathina. «Gib mir einen Moment, mich zu erinnern.«
Sie setzte sich auf einen Stuhl und stützte den Kopf in die Hände.
Die Zeit verstrich.
»Rathina, bitte?«
Rathina hob den Kopf. »Glaub mir, ich will dir wirklich helfen.« Sie holte tief Luft. »Es schlug gerade Mitternacht«, sagte sie und starrte mit geistesabwesendem Blick vor sich. »Ich saß auf deinem Bett. Du standest dort drüben mit dem Rücken an der Wand.« Sie deutete auf die Stelle, wo der Schrank stand. »Du bist auf mich zugegangen und plötzlich sah die Luft aus wie Wasser und es klang, als würde sich in der Ferne ein Wind erheben– und dann warst du verschwunden.«
»Ich bin einfach auf dich zugegangen?«, fragte Tania nach. »So einfach war das?«
»Daran erinnere ich mich zumindest.«
»Okay, lass es uns versuchen.« Tania stellte sich mit dem Rücken vor den Schrank. Wieder dachte sie ganz fest an ihr anderes Zuhause: An Mum und Dad, an Jade und ihre Clique, an die Schule und an Romeo und Julia.
Langsam und bedächtig ging sie über den Boden. Kurz darauf stieß sie mit den Knien gegen das Bett. Nichts war geschehen.
Ratlos sah sie Rathina an. »Bist du dir sicher, dass das alles war, was ich getan habe?«
»An mehr kann ich mich jedenfalls nicht erinnern«, sagte Rathina. Sie runzelte die Stirn. »Du musst es noch mal versuchen.«
Tania nickte.
Erneut stellte sie sich mit dem Rücken an den Schrank, diesmal jedoch etwas weiter vom Bett entfernt, sodass sie sich nicht wieder daran stoßen würde. Sie konnte Rathinas Blick auf sich spüren, während sie abermals durch den Raum marschierte.
Sie kam bis zur gegenüberliegenden Wand und war noch immer im Elfenreich.
»Noch mal!«, sagte Rathina. »Gib nicht auf!«
Mit geballten Fäusten drehte sich Tania frustriert um und ging zurück– diesmal konzentrierte sie sich noch stärker und vergegenwärtigte sich das Gesicht ihres Vaters. Ihr Kopf schmerzte vor Anstrengung. Ihr Vater. Seine Augen, Nase, Mund, Haare. Der Klang seiner Stimme. Tania kniff die Augen zusammen und atmete tief durch– sie musste den Sprung in die andere Welt zu schaffen.
Wieder stieß sie mit dem Fuß gegen etwas– ein niedriger Hocker, der am Fuß des Bettes stand. Sie stolperte, macht einen Schritt zur Seite und fiel hin.
»Ach, es ist hoffnungslos, Rathina!«, rief sie ärgerlich. »Das klappt doch nie!«
Keine Antwort.
Sie schlug die Augen auf.
Sie befand sich noch im selben Raum und doch war alles anders– Rathina war nicht mehr da.
Diesmal hatte sie weder den Wind verspürt, noch die Übelkeit und es hatte sich auch nicht angefühlt, als würde die Welt um sie herum sich auflösen.
Doch sie war zurück in der Welt der Sterblichen.