XI
Sie kauerte zusammengerollt am Boden, den Kopf an die Knie gezogen und die Arme um die Beine geschlungen. Irgendwo in der Nähe erklang der Ruf einer Nachtigall. Ein lauer Wind fuhr raschelnd durch die Blätter der Bäume über ihrem Kopf und es roch modrig nach Erde.
»Na toll!«, stöhnte Tania und hob den Kopf. »Echt klasse!«
Sie befand sich wieder im Wald.
Der einzige Unterschied zu ihren früheren Übertritten war, dass ihr diesmal nicht übel geworden war, aber vielleicht war sie dafür im Moment einfach zu wütend.
Sie setzte sich auf und bemerkte, dass sie das Lederbuch noch immer in den Händen hielt. Aufgebracht schleuderte sie es von sich, sodass es mit einem dumpfen Schlag in einiger Entfernung landete und aufgeschlagen liegen blieb.
Warum passiert mir das immer wieder?, dachte sie. Was nützt mir diese Gabe, wenn ich sie nicht beherrschen kann?
Sie knurrte frustriert.
Vor ihr lag der Waldweg und sie konnte Teile der weißen Brücke erkennen. Dann sah sie über ihre Schulter in den Wald hinter sich. Sollte sie noch einmal versuchen ins Krankenhaus zurückzukehren?
Sie schüttelte den Kopf. Nein, dazu war sie zu müde. Ihre Beine waren bleischwer, sie wollte nur noch schlafen.
Wütend starrte sie das Buch an, das vor ihr lag.
»Das ist alles deine Schuld«, fuhr sie es an. »Du blödes, dummes Buch!«
Sie kroch darauf zu.
Auf der aufgeschlagenen Seite stand das Gedicht.
Nur eine kann in beide
Welten,
jüngste Tochter derer sieben,
zusammen mit dem einzig Wahren,
Hand in Hand in tiefem Lieben.
Das Buch war bloß eine Aufzeichnung des Lebens von Prinzessin Tania.
Es war nicht schuld daran, dass sie ihre Gabe nicht kontrollieren konnte. Tania hob das Buch auf, klappte es zu und strich liebevoll über den Ledereinband, als wollte sie ihren Wutanfall von vorhin wiedergutmachen.
Dann trat sie den langen, mühsamen Rückweg zum Palast an.
In der Mitte der Brücke blieb sie stehen, beugte sich über das ruhig fließende Wasser, in dem sich die Sterne spiegelten. Sie dachte daran, wie Gabriel ihr seinen Umhang umgelegt hatte, als er sie ins Elfenreich gebracht hatte– er war so liebevoll und nett gewesen, als würde er verstehen, wie verwirrt sie sein musste.
Auf der Brüstung lag ein kleiner Stein. Sie nahm ihn und warf ihn in hohem Bogen ins Wasser, wo er mit einem leisen Glucksen versank. Die Spiegelung der Sterne erzitterte und kleine Ringe breiteten sich auf der Wasseroberfläche aus.
»Die Sache ist die«, sagte sie zu sich selbst. »Wenn ich wirklich Prinzessin Tania bin– dann ist auch das Elfenreich echt.« Ein kalter Schauder lief ihr den Rücken hinunter. »Und alles was hier geschieht!«
Auch die schreckliche Wahrheit, dass Edric in Wirklichkeit Gabriels Diener war und dass er… dass Evan… sie nie geliebt hatte. Dass der Junge, den sie mehr liebte, als sie jemals jemanden geliebt hatte, niemals wirklich existiert hatte. Evan hatte sie die ganze Zeit getäuscht.
Sie wandte sich ab und ließ sich verzweifelt auf die Brücke sinken. Dort blieb sie zusammengekauert sitzen, das Buch an die Brust gepresst, und starrte in den Himmel hinauf.
Tränen liefen ihr über die Wangen und sie fühlte sich auf einmal so unglücklich wie noch nie in ihrem Leben zuvor.
Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Nach und nach versiegten die Tränen und irgendwann rappelte sie sich auf und machte sich auf den Rückweg zum Palast.
Sie war froh, dass sie auf ihrem Weg niemandem begegnete.
In ihrem Gemach angekommen öffnete sie die Tür und trat ein. Kerzen, die man in rote Glasflöten gestellt hatte, tauchten das Zimmer in einen warmen rubinroten Schein. Tania warf einen Blick auf die Wandteppiche. Die Nacht hatte sich auch auf jede der gestickten Szenen gesenkt, aber an der Bewegung der Wolken, dem Wogen der Blätter und dem Klatschen der Wellen konnte sie sehen, dass sie noch immer lebendig waren. Doch im Moment spendeten sie ihr keinen Trost. Tania legte das Lederbuch unter ihr Kopfkissen und trat dann ans Fenster, um es zu öffnen.
Plötzlich hörte sie hinter sich das Knarzen der Dielen– jemand war in ihrem Zimmer. Tania fuhr herum.
Es war Edric. Er musste hinter der Tür gewartet haben. Jetzt stand er direkt vor ihr und versperrte ihr den Weg.
Er trug ein dunkelgraues Wams und Kniehosen, das blonde Haar war aus dem Gesicht gekämmt. Das Gesicht, das sie liebte. Das Gesicht des Jungen, der sie belogen hatte.
Plötzlich wurde Tania wütend.
»Was willst du?«, fuhr sie ihn an.
»Ich muss mit dir sprechen.« Er machte einen Schritt auf sie zu.
Sie wich zurück. »Aber ich nicht mit dir, Evan«, sagte sie mit gepresster Stimme. »Oh, tut mir leid– du heißt ja gar nicht Evan, nicht? Wie ist noch mal dein richtiger Name? Edric? Ja genau, das war’s. Edric.« Sie funkelte ihn zornig an. »Weißt du, was ich am schlimmsten finde, Edric? Nicht dass du engagiert worden bist, um mich hierherzubringen, ob es mir nun gefiel oder nicht, sondern dass du mich hast glauben lassen, du würdest mich lieben. Du musst mich für eine Vollidiotin gehalten haben!« Sie schluckte und atmete tief ein. »Deshalb kann ich dir nie, niemals vergeben. Ich möchte, dass du sofort aus meinem Zimmer verschwindest.« Sie erhob die Stimme, schrie jetzt fast. »Raus!«
Edric kam rasch auf sie zu. Sie wich einen weiteren Schritt zurück, spürte aber schon die getäfelte Wand in ihrem Rücken. Er legte ihr die Hände auf die Schultern, hielt sie fest.
»Du musst mir zuhören!«, sagte er.
Sie schlug seine Hand weg und rammte ihm einen Arm gegen die Brust, dass er nach hinten taumelte.
»Fass mich nicht an!«
»Tut mir leid«, keuchte er. »Aber du musst die Wahrheit erfahren.«
»Ach, was weißt du denn schon von der Wahrheit? Du hast mich doch angelogen, seit wir uns das erste Mal begegnet sind!«, schrie sie. »Raus! Raus hier!« Mit erhobenen Fäusten stürzte sie auf ihn zu.
Er wich zurück und hob die Hände, um sich notfalls verteidigen zu können.
»Was ist das hier für ein Tumult?«, fragte jemand vom anderen Ende des Raums her.
Gabriel stand in der offenen Tür. Im Halbdunkel schimmerten seine Augen wie Monde.
»Gabriel!«, stieß sie erleichtert aus.
Der Elfenlord stürmte in den Raum und blickte seinen Diener finster an. »Edric? Was treibst du hier im Schlafgemach der Prinzessin?«
Edric sank auf ein Knie nieder und neigte den Kopf. »Mylord«, sagte er. »Ich bin hergekommen, um die Prinzessin um Verzeihung zu bitten, dass ich ihr in der Welt der Sterblichen Zuneigung vorgespielt habe. Ich wollte ihr erklären, dass alles, was ich getan habe, lediglich ihrem Wohl diente.« Er blickte kurz zu Tania hoch. »Ich wünschte so sehr, Ihr könntet mir vergeben.«
Tania starrte ihn voller Verachtung und Abscheu an. »Da hast du dich aber geschnitten!«, fauchte sie.
Unwillkürlich griff sie nach dem Bernsteintränentropfen, der ihr um den Hals hing– den Anhänger, den ihr der Junge geschenkt hatte, von dem sie geglaubt hatte, er würde sie lieben. Am liebsten hätte sie sich die Kette vom Hals gerissen und Edric ins Gesicht geschleudert.
Gabriel hob die Hand, um sie daran zu hindern. »Nicht, Mylady«, sagte er. Sie starrte ihn an: Hatte er ihre Gedanken gelesen? »Der Bernstein war kein Geschenk dieses Mannes, sondern von mir. Ich wollte ihn Euch eigentlich in der Nacht vor unserer Hochzeit überreichen.«
Tania blinzelte. »Oh.«
»Nur dank dieses Bernsteins konnte ich überhaupt in die Welt der Sterblichen gelangen und Euch zurück nach Hause bringen«, sagte Gabriel. »Solange Ihr ihn tragt, werde ich Euch überall und immer finden– sowohl in dieser als auch in der anderen Welt.«
Der Anhänger glühte in ihrer Hand.
Gabriel wandte sich wieder an seinen knienden Diener. »Hinfort mit dir«, knurrte er. Seine Stimme klang jetzt eiskalt. »Wenn du dich noch einmal Prinzessin Tania aufdrängst, wird es dir schlecht ergehen.« Er zeigte warnend auf ihn. »Hüte dich vor dem Bernsteingefängnis, Master Chanticleer! Hüte dich!«
Wie ein geprügelter Hund schlich Edric aus dem Raum. Tania war froh, dass er ging, obwohl er ihrer Meinung nach mehr verdient hatte als nur einen Tadel. Als sich die Tür hinter ihm schloss, ergriff Gabriel Tanias Hände.
»Hiermit entschuldige ich mich in aller Form für das Benehmen meines Dieners«, sagte er. »Ich wollte Euch nicht solchen Verdruss bereiten.« Er lächelte sie an. »Diese ganze Welt muss sehr verwirrend für Euch sein und sicher habt Ihr noch zahlreiche Erinnerungen an Euer sterbliches Leben. Ich wünschte, ich könnte Euer Leiden lindern.«
»Ja, irgendwie ist es schon ganz schön abgefahren«, stimmte Tania zu. »Aber ich denke, ich werde damit klarkommen, früher oder später.«
»Ich bete inständig, dass dem so sei.«
Sie blickte ihm ins Gesicht. »Das geschieht alles wirklich, nicht wahr?«, sagte sie ruhig.
»Ja.« Er sah sie an und lächelte sie aufmunternd an.
Sie runzelte die Stirn. »Da… da, wo ich herkomme«, begann sie zögernd, »war Edric ein echter Mensch aus Fleisch und Blut. Aber du warst irgendwie nicht richtig dort– durch dich konnte ich hindurchsehen. Wie kommt das?«
»Ich habe Edric zu Euch geschickt«, entgegnete er. »Er wurde von schwarzem Bernstein beschützt– das ist ein seltener Stein, der vor Isenmort schützt.«
»Sein Armband«, sagte Tania. »Deshalb hat er es immer getragen.«
»Fürwahr«, sagte Gabriel. »Es abzunehmen, wäre lebensgefährlich für ihn gewesen. Ich hingegen, Mylady, war nur ein Bild in Eurem Kopf.«
»Aber ich habe dich doch berührt– auf dem Balkon, da habe ich deine Hand genommen.«
Gabriel lächelte sie liebevoll an. »Das war nicht mein Verdienst, Mylady, das habt Ihr durch Eure eigene Kraft geschafft: Ihr habt über die Welten hinweg nach mir gegriffen.«
Tania blickte ihn nachdenklich an.
»Ich war gerade im Begriff, dich zu heiraten, als ich verschwunden bin, nicht?«
Er zögerte kurz, bevor er erwiderte: »Sprecht nicht davon, Mylady«, sagte er. »Lassen wir die Vergangenheit ruhen.«
»Ich weiß nicht genau, was du damit sagen willst«, sagte Tania. »Aber ich würde gerne darüber reden, wenn das okay für dich ist.« Sie lächelte leicht. »Ich nehme mal an, dass wir… na ja, uns ziemlich gern hatten.«
»Ihr ward die Liebe meines Lebens«, sagte er.
»Du musst also ziemlich aufgelöst gewesen sein, als ich plötzlich verschwunden war«, sagte sie.
»Das ist wahr«, antwortete er kaum hörbar. »Ich habe Euch all die langen Jahre hindurch gesucht, bis ich Euch endlich gefunden habe.«
»Wie hast du mich eigentlich gefunden?«, fragte Tania. »Hatte das etwas mit dem Schulausflug zum Hampton Court Palace zu tun? Ich habe mich dort die ganze Zeit über sehr seltsam gefühlt– als würde ich den Ort kennen, ohne jemals dort gewesen zu sein. Und als ich hierherkam, fiel mir auf, dass er diesem Palast ähnelt.«
»Führwahr, Mylady. Es gibt Orte, an denen das Elfenreich und die Welt der Sterblichen sich sehr nahe sind.«
»Ja, das hat mir Rathina auch schon erzählt«, sagte Tania. »Hampton Court Palace und dieser Palast sind so eine Stelle. Hast du mich gesehen, auf dem Schulausflug?«
»Nein«, sagte Gabriel, »aber ich habe Eure Gegenwart gespürt.« Er legte eine Hand erst an die Stirn und dann auf die Brust. »Mit dem Geist und mit dem Herzen. Mithilfe der Mystischen Künste habe ich lange nach einen Weg gesucht, einen Abgesandten in die Welt der Sterblichen zu schicken. Ich habe Edric ausgewählt, weil er mir treu ergeben und überaus klug ist, und habe ihn durch das Portal auf die Suche nach Euch gesandt.« Er lächelte. »Und er hat seine Aufgabe erfüllt, Mylady.«
»Ja, allerdings«, sagte Tania trocken. Sie sah ihn nachdenklich an. »Es tut mir leid, wenn ich dir mit dieser Frage zu nahe trete«, sagte sie. »Aber meinst du immer noch, dass wir heiraten sollten?«
Gabriel antwortete nicht sofort. »Ich habe Euch zum Wohle des Königs und des Elfenreichs hierhergebracht«, sagte er. »An mich selbst habe ich dabei nicht gedacht. Ihr habt keine Erinnerung an uns und ich würde Euch nie darum bitten, ein Versprechen einzuhalten, das mir vor fünfhundert Jahren von einer Frau gegeben wurde, die Ihr Euch nicht einmal entsinnt, gewesen zu sein.« Er blickte über ihre Schulter aus dem Fenster.
»Jeden Morgen die Sonne über dem Reich aufgehen zu sehen und des Nachts die Sterne zu bewundern, ist mir Belohnung genug. Mehr wünsche ich nicht.«
»Sag du und Tania zu mir«, sagte sie. »Und erzähl mir mehr von einer Elfenhochzeit. Ich möchte doch zu gerne wissen, wie es ist, wenn ein Adeliger und eine Prinzessin heiraten.«
Gabriel lachte leise. »Gern«, sagte er. »Hast du einen Spiegel, Tania?«
»Ja, dort drüben.«
»Dann komm, ich zeige dir etwas wunderbares.«
Sie ging mit ihm zur Kommode und nahm den Handspiegel.
»Setz dich«, sagte er.
Sie zog sich einen Stuhl heran und nahm Platz. Gabriel stellte sich hinter sie, stützte eine Hand auf die Stuhllehne, beugte sich über sie und strich mit der Hand über den Spiegel. Dabei murmelte er einige Worte, die sie nicht verstand.
»Eine königliche Hochzeit dauert drei Tage und drei Nächte«, erzählte er schließlich. »Sie beginnt mit dem Ritual der Vereinigung der Hände, das im Lichtsaal stattfindet.«
Während er sprach, trübte sich der Spiegel ein. Als sich der Nebel verzog, erblickte Tania einen riesengroßen, hell erleuchteten Saal. Kurz darauf– ohne sich von der Stelle bewegt zu haben– hielt sie nicht mehr den Spiegel mit dem Bild in der Hand, sondern befand sich selbst in dem großen Saal.
Er hatte eine hohe gewölbte Decke und Wände mit unzähligen hohen Buntglasfenstern, in denen sich das Sonnenlicht brach, sodass der Saal in allen Farben des Regenbogens erstrahlte. Chormusik erklang und in dem Saal befanden sich viele Leute in prunkvollen Kleidern.
Die Menge hatte einen schmalen Gang gelassen, der vor einem Podest endete, auf dem ein großer Kessel auf vier gedrungenen Beinen stand. Die Luft darüber flirrte, als würde darin etwas brodeln. Daneben stand Gabriel, der sehr stattlich aussah.
Hinter dem Kessel saßen Oberon und Titania auf Thronen. Sie trugen zarte Kristallkronen und um ihre Schultern lagen pelzbesetzte weiße Umhänge aus Hermelin und Seide, die mit Edelsteinen verziert waren.
Tania blickte an sich hinunter: Sie hatte ein weißes Brautkleid mit einer langen Schleppe an.
Während sie den Gang entlangschritt schwebten weiße Rosenblütenblätter von der Decke und füllten die Luft mit ihrem schweren süßen Duft.
Als Tania sich umblickte, sah sie ihre Schwestern, die hinter ihr hergingen und die Arme voller weißer Blumen hatten.
Als Tania am Ende des Gangs angelangt war, half ihr Gabriel auf das Podest. Bei der Berührung seiner Finger erzitterte sie vor Vorfreude. Jetzt konnte sie erkennen, dass in dem Kessel eine Flüssigkeit golden schimmerte.
Gabriel nahm einen kleinen Glaskrug vom Tisch neben dem Kessel, tauchte ihn in die wirbelnde Flüssigkeit und hob ihn heraus. Ein paar glänzende bernsteinfarbene Tropfen rannen am Krug hinab und fielen in den Kessel zurück. Tania hielt die Hand über die Flüssigkeit und spürte die aufsteigende Wärme. Gabriel ergriff ihre Hand und goss langsam die goldene Flüssigkeit über ihre Hände. Tania hatte erwartet, dass es brennen würde, aber sie war warm und so zähflüssig wie Honig. In großen goldenen Tropfen rann die Flüssigkeit von ihren vereinigten Händen.
Überrascht hielt sie den Atem an, als ihre Hand, ihr Arm und ihr ganzer Körper zu prickeln begannen. Sie wandte den Kopf und sah Gabriel an. Er sah ihr tief in die Augen und in seinem Blick lagen Liebe und Freude.
Sie hatte das Gefühl, gleich in Ohnmacht zu fallen– sie war überglücklich. Ihr war etwas schwindlig und sie schnappte nach Luft.
»Gabriel… ich…« Doch weiter kam sie nicht, denn da löste sich der Lichtsaal um sie herum auf und sie saß wieder in ihrem Schlafgemach und hielt den Handspiegel vor sich.
»Oh wow!«, hauchte sie, während der Nebel sich verzog und sie wieder ihr eigenes Spiegelbild sah. »Das war unglaublich!« Mit zitternder Hand legte sie den Spiegel beiseite. »Und in der Nacht vor alledem bin ich also einfach verschwunden«, sagte Tania und schaute aus dem Fenster auf den sternenklaren Himmel. »Aber warum bin ich nicht zu dir zurückgekommen?«
»Diese Frage kannst nur du allein beantworten, Tania«, sagte Gabriel. »Nur eine kann in beide Welten. Ich vermute, es war gar nicht deine Absicht, jenen Weg auf diese Weise und zu dieser Zeit zu gehen.«
»Das hat Rathina auch schon gesagt«, gab Tania zu. »Sie meinte, wir hätten in dieser Nacht nur herumgealbert.«
»Du bist heute Nacht wieder zwischen den Welten hin- und hergewandert, nicht wahr?«, fragte Gabriel sie.
»Ja, woher weißt du das?«
»Der Bernstein hat mich gerufen«, sagte Gabriel. »Solange du ihn trägst, kannst du nicht verloren gehen. Du hast die Welt der Sterblichen betreten, um mit jenen zu sprechen, die du deine Eltern nennst– doch das Elfenreich hat dich wieder hierher zurückgezogen.«
Er klang so traurig, dass Tania plötzlich ein schlechtes Gewissen bekam, weil sie versucht hatte sich einfach davonzustehlen. Gabriel schien sehr unglücklich darüber zu sein.
»Ich bitte dich, nicht noch einmal dorthin zu gehen, Tania«, sagte er sanft. »Es ist wahrhaft gefährlich. Das Elfenreich ist dein richtiges Zuhause, hier gehörst du her.«
»Ja, das weiß ich jetzt«, sagte sie. »Aber ich muss meiner Mum und meinem Dad Bescheid geben, dass es mir gut geht.«
Gabriels Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Ich möchte dich nicht noch einmal verlieren, Tania– ich will nicht, dass dir etwas zustößt.«
Tania schwieg für einen Moment. Was bedeutet Gabriel Drake ihr? Sie mochte ihn– oder war es mehr? »Das muss wirklich schlimm für dich gewesen sein«, sagte sie. »Die Person, die du liebst, in der Nacht vor der Hochzeit zu verlieren.«
Er sagte nichts.
»Es tut mir wirklich leid.« Sie reichte ihm ihre Hand über die Schulter.
Doch er ergriff sie nicht.
»Gabriel?« Sie wandte den Kopf.
Er war nicht mehr da. Dafür lag eine langstielige rote Rose auf ihrem Bett und erfüllte den Raum mit ihrem süßen Duft.