VII
Anita und Zara saßen auf dem Bett in Anitas Schlafgemach.
Der Ball war vorbei, aber trotz ihrer Müdigkeit waren die beiden Mädchen zu aufgedreht, um schlafen zu können. Sie hatten alle Ereignisse des Balls besprochen und viel gelacht, nur von dem herrlichen Nachtflug über das Elfenreich hatte Anita Zara nichts erzählt. Sie wollte es noch eine Weile für sich behalten.
»Ich habe dich mit Gabriel tanzen sehen«, sagte Zara. »Du schienst Gefallen an ihm zu finden. Wie du ihm in die Augen gesehen hast!« Sie sah Anita verschmitzt an. »Läuten die Hochzeitsglocken am Ende doch noch?«
»Ach, ich glaub nicht, dass das sehr wahrscheinlich ist«, entgegnete Anita ausweichend. »Ich kenne ihn ja kaum.«
»Aber du hast ihn einmal gekannt«, sagte Zara. »Und einst hast du ihn auch geliebt.«
»Na ja, da bin ich mir nicht mehr so sicher«, sagte Anita.
»Ah, arme Tania«, seufzte Zara. »Dass du gleichzeitig dich selbst und deine wahre Liebe verloren hast, das ist wahrlich traurig.«
»Aber ich bin gar nicht traurig«, sagte Anita nachdrücklich. »Ich kann mich an nichts erinnern.«
»Das ist wohl ein Segen«, sagte Zara und unterdrückte ein Gähnen. »Und es ist eine große Freude, dich wieder zu Hause zu haben– auch wenn dein Bewusstsein vernebelt ist!« Wieder gähnte sie. »Oh weh!«, sagte sie. »Ich muss schlafen.« Sie ließ sich nach hinten aufs Bett fallen.
»Hey!«, protestierte Anita und schüttelte sie. »Aber bitte in deinem eigenen Bett!«
»Nun gut.« Zara kletterte aus dem Bett und ging zur Tür. »Ist dir aufgefallen, wie gut der Graf von Anvis heute Abend ausgesehen hat?«, sinnierte sie, während sie die Tür öffnete. »Ich könnte mir gut vorstellen, wie er mit einem weißen Schimmel angeritten kommt, um eine Lady zu entführen!«
»Ich weiß nicht mal, welcher das war. Und jetzt ab ins Bett!«, sagte Anita und lachte, während sich die Tür schloss.
Als sie endlich allein in ihrem Gemach war, zog sie ihr Nachthemd an und schlüpfte unter die Bettdecke. Sie legte den Kopf aufs Kissen, während die Musik noch immer in ihren Ohren nachklang. Sie sah aus dem Fenster in den sternenklaren Nachthimmel hinaus und dachte daran, wie Gabriel und sie in den Himmel aufgestiegen und Hand in Hand über das schlafende Elfenreich gesegelt waren.
Obwohl das für sie der Höhepunkt des Balls gewesen war, hatte sie danach noch so manchen Tanz getanzt. Vor ihrem geistigen Auge sah sie wirbelnde Kleider in allen Regenbogenfarben vor sich. Sie dachte an ihren ersten Tanz mit dem König, sah sein glückliches Gesicht und wie er sie stolz anlächelte.
Ihr Vater, der König.
Sie grinste. Erstaunlich.
Dann dachte sie an das freundliche Gesicht ihres richtigen Vaters, der sich mit besorgtem Blick über ihr Krankenhausbett gebeugt hatte. Seine Stimme hallte in ihrer Erinnerung wider: »Wie geht’s dir, mein kleines Mädchen?«
Anita setzte sich im Bett auf– einen Moment lang hätte sie fast vergessen, dass alles hier nur ein Traum war.
Das musste unbedingt aufhören.
Sie blies die Kerze aus. Durch das Fenster konnte sie Sterne am dunklen Nachthimmel sehen, die hier größer als zu Hause wirkten– heller und geheimnisvoller.
Sie legte sich hin und zog sich die Decke bis zum Kinn.
»Okay«, sagte sie zu sich selbst. »Hör mir gut zu: Du wirst jetzt schlafen. Und wenn du morgen Früh aufwachst, wirst du wieder in der wirklichen Welt sein, so wie es sich gehört. Verstehst du mich? Diese ganze Elfensache ist ja ganz nett, aber genug ist genug.«
Sie schloss die Augen und konzentrierte sich darauf, sich ins Gedächtnis zu rufen, wie die Krankenhausstation ausgesehen hatte, erinnerte sich an die Gesichter ihrer Eltern. Sie weigerte sich, Elfenbilder zuzulassen, irgendwie musste sie ja wieder aus dieser Traumwelt herauskommen.
»Wach auf«, sagte eine Frauenstimme. Anita spürte, wie jemand sie sanft an der Schulter rüttelte.
Verschlafen öffnete sie die Augen. Im Zimmer war es taghell.
»Schwester?«, murmelte sie. »Wie spät ist es?«
»Der halbe Vormittag ist schon um, Tania, und dennoch finde ich dich im tiefsten Schlummer. Komm, es ist ein wunderschöner Tag und du liegst noch im Bett, Faulpelz! Du solltest dich schämen!«
Anita wandte sich um und bemerkte, dass sie noch immer im Bett ihres Schlafgemach im Elfenreich lag. Sonnenlicht und der Duft von Blumen fluteten durch die weit aufgerissenen Fenster.
Rathina saß seitlich auf ihrem Bett und beugte sich lächelnd über sie.
»Liebste Schwester«, sagte Rathina. »Ich war dir keine gute Freundin, seit du zurückgekehrt bist, und das tut mir sehr leid. Ich dachte, du würdest mir vielleicht vorwerfen, was mit dir passiert ist. Aber zwischen uns kann es keine Kälte geben, Tania. Wir standen uns immer so nahe. Kann es wieder so werden wie früher? Wirst du mir verzeihen?«
Anita setzte sich auf und rieb sich den Schlaf aus den Augen.
»Dir was verzeihen?«, fragte sie.
Rathina ließ den Kopf hängen. »Wenn ich dich nicht dazu ermuntert hätte, die Kräfte auszuprobieren, von denen in dem alten Vers die Rede war, wärst du uns nie verloren gegangen.«
Noch immer verschlafen blinzelte Anita sie an. »Kannst du das bitte noch mal wiederholen?«, sagte sie. »Ich meine, ich verstehe nicht ganz, wovon du sprichst.«
Rathina nahm Anitas Hand. »Am Abend vor deiner Vermählung waren wir zusammen in diesem Gemach«, sagte sie. »Wir sprachen über das Gedicht, mit dem wir aufgewachsen sind, das Gedicht, das wir aus Kindertagen kennen: Nur eine kann in beide Welten, jüngste Tochter derer sieben.«
Anita nickte. Das war das Gedicht aus dem Buch.
»Der Gelehrte des überlieferten Wissens sagte, wenn du die siebte Tochter wärst, von der in der Strophe die Rede ist, dann würden deine Kräfte an deinem sechzehnten Geburtstag erwachen.« Rathina schaute Anita in die Augen. »Und von dem Augenblick an hättest du die Gabe, zwischen dem Elfenreich und der Welt der Sterblichen hin- und herzuwandeln.« Sie drückte Anitas Hand fester. »Du solltest an deinem sechzehnten Geburtstag mit Gabriel Drake vermählt werden. Wir warteten, bis es Mitternacht schlug und dann drängte ich dich, aus unserer Welt hinaus- und in… in den anderen Ort hinüberzutreten.« Sie schüttelte den Kopf. »Es war nur ein Spiel, Tania. Ich wollte keinen Schaden anrichten. Mir wurde ganz angst und bange, als du… als du…« Bei diesen Worten versagte ihr die Stimme.
Anita überkam Mitgefühl. Fünfhundert Jahre waren eine verdammt lange Zeit, wenn man befürchtet, dass man das Verschwinden der eigenen Schwester verschuldet hatte!
»Du konntest doch nichts dafür«, sagte sie. »Ich erinnere mich an nichts von alldem, ja, genau genommen an gar nichts aus diesem ganzen Reich, außer an ein paar seltsame Dinge, die keinen Sinn für mich ergeben. Aber ich bin sicher, du wolltest nicht, dass ich verschwinde. Ich war diejenige, die zwischen den Welten hin- und herging. Ich konnte ja nicht wissen, was passieren würde.« Sie lächelte. »Natürlich können wir Freundinnen sein. Das fände ich sehr schön.«
Rathina atmete erleichtert auf und sprang vom Bett hinunter. »Die besten Freundinnen!«
Anita nickte.
»Klingt gut!«
»Dann steh auf, du Schlafmütze!«, sagte Rathina und zog Anita die Decke weg. »Es gibt heute viel für dich zu entdecken. Du kannst dich wirklich an nichts erinnern? Dann werde ich dich überall herumführen! Wir werden uns den Palast ansehen und am Abend wird dir alles wieder vollkommen vertraut sein!«
Anita krabbelte aus dem Bett. »Okay«, sagte sie. »Abgemacht. Aber wie sieht es aus mit Frühstück? Ich verhungere gleich!«
»Fürwahr, erst Frühstück«, sagte Rathina, ging ans Fenster und breitete die Arme aus. »Und dann: Hinaus in die Welt!«
Rathina nahm sie als Erstes mit in ein kleines Esszimmer, wo Diener ihnen frisch gebackenes Brot mit Butter und Käse und frisches Obst servierten. Anita trank ein Glas Milch und aß mit Genuss.
Sie hatte gehofft, dort auch Zara oder eine der anderen Schwestern vorzufinden, aber anscheinend lag Zara noch im Bett und die anderen hatten bereits vor Stunden gefrühstückt und gingen inzwischen anderen Aufgaben nach. Die Bediensteten erzählten ihnen, dass der König und mehrere wichtige Lords und Ladys des Hofes »hinter verschlossenen Türen in Klausur« säßen– was immer das heißen sollte– und es sei nicht zu erwarten, dass sie vor der Mittagszeit wieder auftauchten.
Anita nahm an, dass es sich um eine Art hochrangiges Treffen handelte. Vielleicht war das der Rat, den Oberon erwähnt hatte. Ob sie wohl mithilfe von Magie– den Mystischen Künsten– über das Königreich herrschten?
Nach dem Frühstück begann die Palasttour.
Rathina führte Anita eine lange Wendeltreppe in einen Turm hinauf. Nachdem sie sich durch eine schmale Tür gezwängt hatten, traten sie schließlich auf das zinnengesäumte Dach des Turms hinaus. Von dort aus hatten sie einen atemberaubenden Blick über die ganze Gegend und der warme Wind blies ihnen ins Gesicht.
Anita beugte sich über die Zinnen und hielt den Atem an. Der Palast war sogar noch größer, als sie ihn sich vorgestellt hatte.
Sie hatte ihn schon mal kurz auf ihrem Flug gesehen, aber da war alles so dunkel gewesen, dass sie nicht das ganze Ausmaß des Palastes hatte erfassen können.
Die roten Backsteingebäude und Höfe direkt unter ihr waren genauso angeordnet wie in Hampton Court Palace, mit großen Rasenflächen, die zum Fluss hin sanft abfielen. Und doch war der Elfenpalast viel größer als das historische Gebäude, das Anita auf dem Schulausflug gesehen hatte. Er ging weit über die Grenzen des Hampton Court Palace im London des 21.Jahrhunderts hinaus. Die großen Backsteingebäude mit den cremefarbenen Steinornamenten, den Fensterbögen und Zinnen erstreckten sich Richtung Osten, so weit das Auge reichte. Entlang des gewundenen Flusses reihte sich Turm an Turm, Mauer an Mauer und Bastion an Bastion.
Am äußersten Rand ihres Gesichtsfeldes wurde der Fluss schließlich breiter und Anita konnte gerade noch große Anlegestege und Kais und mächtige Segelschiffe ausmachen, deren hohen Masten hoch in den Himmel ragten.
Im Süden, auf der gegenüberliegenden Uferseite, schien das Land ein einziger grüner Wald zu sein, der sich endlos weit erstreckte. Ein paar Brücken spannten sich über das dahinströmende blaue Wasser, einschließlich der mit den weißen Türmen, die Anita bereits kannte. An jeder Brücke des Flusses gab es jeweils ein paar dicht gedrängte Häuschen und Anlegeplätze und Anita glaubte sogar, Straßen zu erkennen, die unter den Baumkronen entlangliefen.
»Wie heißt der Fluss?«, fragte sie mit Blick auf das kristallklare Wasser, das unter ihr im Sonnenlicht glitzerte und funkelte.
»Tamesis«, antwortete Rathina, die Anita über die Schulter blickte.
»Tamesis?«, wiederholte Anita. »Das klingt ja ganz ähnlich wie Themse.« Sie bemerkte Rathinas fragenden Blick. »So heißt der Fluss, der durch London fließt.«
»London?«
Anita schüttelte den Kopf. »Nicht so wichtig.«
Sie ging auf die andere Seite des Dachs hinüber. Im Norden begannen direkt an den Palastmauern große kunstvolle Gärten mit bunten Blumenbeeten und Sandwegen. Dahinter lagen einzelne verstreute Waldstücke, aber auch große offene Grasflächen. Das Ganze ähnelte einer weitläufigen Parkanlage. Da gab es einen See mit klarem blauem Wasser, der von Schilf und Weiden umgeben war. Zwischen einigen hohen Bäumen entdeckte Anita ein einzelnes Gebäude mit weißen Turmspitzen, dahinter schloss sich sanft gewelltes Land mit purpurrotem Heidekraut an.
Plötzlich erregte etwas Anitas Aufmerksamkeit und sie beugte sich über die Brüstung und starrte auf einen Teil des Gartens, der direkt unterhalb des Turms war, auf dem sie standen. Es war ein dreieckig angelegtes Stück Grün, und als sie genauer hinsah, bemerkte sie, dass es ein Labyrinth aus akkurat gestutzten Hecken war.
»Ist das ein Irrgarten?«
»Ja«, sagte Rathina. »Erinnerst du dich an ihn?«
»Schon«, sagte Anita. »Aber nicht von hier.« Sie sah ihre Schwester an. »Ich kenne ihn von zu Hause. Vom Hampton Court Palace.«
Rathina lächelte unsicher. »Von so einem Ort habe ich noch nie gehört– ist er fern von hier?«
»Das weiß ich nicht«, sagte Anita. »Er scheint sehr weit entfernt und dann doch ganz nah. Er liegt in der Welt, aus der ich komme– der wirklichen… ich meine, der Welt der Sterblichen.« Es war sonderbar, diesen Ausdruck zu benutzen.
»Ah ja, von so was habe ich schon gehört«, sagte Rathina zu Anitas Überraschung. »Sancha könnte das jetzt besser erklären.«
»Was erklären?«
Rathina legte die Handflächen aneinander, sodass sie sich fast berührten. »Das Elfenreich und die Welt der Sterblichen liegen sehr nah beieinander«, sagte sie. »Und es gibt Stellen, an denen der Schleier zwischen den beiden Welten hauchdünn ist– wo das Elfenreich und die Welt der Sterblichen sich beinahe berühren.« Sie legte die Hände aufeinander und verschränkte die Finger. »Vielleicht ist das hier so eine Stelle.«
»Das würde erklären, wie ich hier gelandet bin«, sagte Anita. Und immer wieder zurückgleite, dachte sie. Sie lächelte Rathina an. »Und wohin gehen wir jetzt?«
»Zu den privaten Gemächern der Königin«, sagte Rathina.
Sie gingen die Wendeltreppe wieder hinunter und Arm in Arm durch eine scheinbar endlose Aneinanderreihung von Sälen, prächtigen sonnigen Höfen, schattigen efeubewachsenen Kreuzgängen und eingefassten Gärten. Anita war einiges bereits vom Hampton Court Palace vertraut, nur dass die Anlage des Elfenreichs viel größer war und es vieles gab, was sie noch nie gesehen hatte.
Als sie schließlich in einen großen, mit Gras bewachsenen Innenhof kamen, sah Anita dort zum ersten Mal Elfenkinder.
Sie spielten miteinander und zwei junge Frauen in himmelblauen Kleidern passten auf sie auf. Es waren kleine Babys dabei und einige größere Kinder, die ältesten schätze Anita so auf neun oder zehn Jahre. Doch was sie vor allem stutzen ließ, war der Anblick langer, hauchdünner Flügel am Rücken der Kinder, die durch Schlitze in der Kleidung herausragten.
Flügel!
Sie sahen genauso aus wie die, die ihr in jener Nacht im Krankenhaus gewachsen und wieder abgefallen waren.
Eine der beiden Frauen hatte ein Kleinkind auf dem Schoß, das ungefähr zwei Jahre alt war und mit einer Strohpuppe spielte. Ab und zu warf es die Puppe weg, klatschte in die Hände und flog mit ungelenken Flügelschlägen zu der Puppe hin, um sie sich wiederzuholen.
Einmal ließen seine kleinen Flügel es im Stich und es plumpste ins Gras und weinte so bitterlich, dass die Frau zu ihm lief, es auf den Arm nahm und tröstete.
Eine Gruppe älterer Kinder spielte mit einem Ball. Sie warfen ihn hoch in die Luft und flogen abwechselnd hinterher, um ihn zurückzuholen. Andere spielten Fangen und flatterten kreuz und quer über den ganzen Hof, um nicht gefangen zu werden, wobei ihre Flügel im Sonnenlicht schillerten.
Bei dem Anblick der tobenden Kinder wurde Anita traurig. Wie schade, dass sie keine Flügel mehr hatte– es wäre herrlich, noch einmal fliegen zu können!
Dann bemerkte sie, dass die ältesten Kinder Spiele spielten, bei denen nicht geflogen wurde. Ein oder zwei von ihnen trugen sogar Kleidung, die ihre Flügel bedeckte, sodass sich Erhebungen unter den Kleidern abzeichneten.
Neugierig wandte sich Anita an Rathina. »Du hast keine Flügel, oder?«, fragte sie.
Rathina sah sie geschockt und fast ein bisschen beleidigt an. »Aber nein, Tania«, sagte sie. »Hältst du mich etwa für ein kleines Kind?«
Anita tippte sich an die Stirn. »Keinerlei Erinnerung«, sagte sie. »Schon vergessen?«
Rathina lachte. »Dann sei dir noch einmal verziehen, aber zu vermuten, dass eine erwachsene Elfe noch ihre Flügel besitzt, ist gleichbedeutend damit, dass man sie für kindisch hält.«
»Warum?«
»Wir werden mit Flügeln geboren und die ersten zehn oder zwölf Jahre unseres Lebens wachsen die Flügel mit, aber wenn wir dann erwachsen werden, welken die Flügel und schrumpfen, bis sie schließlich ganz verschwunden sind.« Sie drückte Anitas Arme. »Ich erinnere mich noch, wie du als Kind durch die Gänge geflattert bist wie eine irre Libelle– du hattest nur Unfug im Kopf. Du hast mir mal gesagt, dass du immer fliegen möchtest.« Sie lächelte. »Doch an deinem zehnten Geburtstag hast du dir ein Kleid ohne die Flügelschlitze am Rücken bestellt und danach bist du nie wieder geflogen.« Sie nickte. »Und genau so sollte es auch sein. Wir entledigen uns solcher Kindereien, wenn wir erwachsen werden.«
Anita blickte sie wortlos an. Sie hatte Rathina eigentlich von dem wundervollen Flug erzählen wollen und davon, wie atemberaubend es gewesen war, durch die Nachtluft zu sausen. Doch jetzt beschloss sie, es lieber für sich zu behalten– sie wollte nicht, dass Rathina sie für kindisch hielt. Vielleicht würde sie es ihr später einmal erzählen, wenn sie sich schon besser kannten. Oder vielleicht sollte sie es besser Zara anvertrauen. Zara war viel unbeschwerter als Rathina und möglicherweise konnte sie ihre Sehnsucht verstehen.
Die beiden Schwestern beobachteten die Elfenkinder noch eine Weile.
Anita machte es ein wenig traurig, dass deren Freude am Fliegen bald ein Ende haben würde.
Zu guter Letzt führte Rathina Anita aus dem Hof hinaus und weiter durch das schier endlos große Areal des Königspalastes.
Über eine breite, weiße Marmortreppe gelangten sie hinauf zu einer hohen kuppelartigen Vorhalle mit strahlend weißen Wänden. Vor ihnen befand sich eine hohe, weiße Flügeltür. Rathina hatte bereits seit mehreren Minuten geschwiegen. Jetzt blieb sie mit gesenktem Kopf vor der Tür stehen.
»Die privaten Gemächer unserer Mutter«, sagte sie leise. »Wir kommen nur selten hierher. Es ist zu traurig. Doch ich denke, du solltest sie sehen.«
Sie berührte mit den Fingerspitzen die Türen, die daraufhin geräuschlos aufschwangen.
Anita trat über die Schwelle und blickte sich um. Der Raum war sehr groß, mit einer hohen stuckverzierten Decke. Die Läufer und Teppiche waren alle entweder weiß oder elfenbeinfarben, das helle Holz fast cremefarben, die gepolsterten Stühle und Sofas leuchteten so weiß wie Schnee.
Mehrere Türen gingen von dem Raum ab und auf der anderen Zimmerseite waren große Fenster, die vom Boden bis zur Decke reichten. Davor bauschten sich weiße Spitzenvorhänge, denn eines der großen Fenster stand halb offen und eine leichte Brise wehte in den Raum.
Verteilt im Raum standen persönliche Gegenstände: ein Stickrahmen mit aufgespanntem weißem Leinen, das Stickmuster war halb fertig. In einer Ecke stand eine Harfe und auf einem niedrigen Tischchen lag ein aufgeschlagenes Buch.
Rathina ging zu einer Glasglocke hinüber, die auf einem kleinen runden Tischchen stand. Unter dem durchsichtigen Glas lag eine herrliche Krone aus Kristall, die ganz mit schwarzen Edelsteinen besetzt war. Rathina berührte das Glas vorsichtig.
Anita stellte sich neben sie. Diese fein gearbeitete Krone hatte sie schon einmal gesehen, und zwar auf dem Kopf der Königin. Das war ganz zu Anfang gewesen, als sie gerade im Elfenreich angekommen war und Gabriel ihr durch seinen Zauber einen Blick auf den Palast erlaubt hatte, wie er vor dem Einbruch der Großen Dämmerung vor fünfhundert Jahren ausgesehen hatte.
Mit einem Seufzer wandte sich Rathina ab.
Anita kam es vor, als hätte die Elfenkönigin den Raum gerade erst vor ein paar Sekunden verlassen und als könnte sie jeden Augenblick hereinkommen. Es war nahezu unglaublich, dass diese wunderbaren Gemächer seit fünfhundert Jahren leer standen und ihre Eigentümerin tot sein sollte.
»Kannst du dich überhaupt noch an unsere Mutter erinnern?«, fragte Rathina mit gedämpfter Stimme.
Anita runzelte nachdenklich die Stirn. Doch sie konnte Titanias Bild nicht vor ihrem inneren Auge heraufbeschwören und auch keinen Bezug zu der Königin herstellen, die diese Gemächer einst bewohnt hatte.
Dann fiel ihr ihre eigene Mutter ein und schlagartig überkam sie Heimweh. Wie lange es wohl noch dauern würde, bis sie aufwachte und zurück bei ihrer Familie wäre?
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, gar nicht«, sagte sie. »Lass uns gehen.«
Sie setzten ihre Palasttour fort, aber die Melancholie der Königingemächer schwang noch eine Zeit lang nach, sodass es eine Weile dauerte, bevor Anita das Wort ergriff.
»Und jetzt?«
»Würdest du gern Cordelias Menagerie sehen?«, fragte Rathina.
»Das wäre genial.« Eine Menagerie klang faszinierend und vielleicht würde es sie etwas aufmuntern, wenn sie etwas Zeit mit den Tieren verbrachte.
Das Innere des Palasts war viel zu komplex, als dass Anita genau hätte sagen können, wo sie sich befand: Überall gab es gewundene Gänge, Räume, die wiederum in andere Räume führten, und geschwungene Treppen. Allerdings merkte Anita, dass Rathina sie auf dem gleichen Weg zurückführte, den sie gekommen waren. Als sie gerade an einigen hohen Fenstern entlanggingen, klatschten plötzlich von draußen Hände ans Fenster und ein kleines lausbübisches Gesicht erschien hinter der Glasscheibe. Anita erschrak, doch das Gesicht verschwand gleich wieder.
Als sie durch das Fenster nach unten blickte, sah sie, dass sie sich jetzt direkt über dem Hof mit den spielenden Kindern befanden. Das Kind, das sie so erschreckt hatte, flatterte gemächlich wieder zurück zum Boden, da eine der Frauen nach ihm rief.
Als die beiden Schwestern einen großen, kopfsteingepflasterten Hof mit einem Steinbrunnen in der Mitte durchquerten, erkannte Anita auf der anderen Hofseite den viereckigen, von dichtem Efeu überwucherten Turm mit dem spitz zulaufenden Dach wieder. »Ist das nicht der Turm, in dem Eden lebt?«
»Fürwahr, das ist er«, sagte Rathina. »Aber unser Weg führt durch dieses Tor hier.« Sie deutete auf einen Ausgang, der in die entgegengesetzte Richtung verlief.
Trotzdem blieb Anita stehen und blickte an dem düsteren Turm mit der efeuberankten Mauer und den kleinen dunklen Fenstern empor. Sie versuchte sich vorzustellen, wie es wohl sein mochte, fünfhundert Jahre lang an einem solchen Ort zu leben.
Sie konnte nicht verstehen, warum Eden nicht wenigstens aus dem Turm herausgekommen war, als Tania ins Elfenreich zurückgekehrt war: Alle anderen hatten sich gefreut, sie zu sehen– warum nicht Eden? Vielleicht wusste sie gar nicht, dass ihre lang verschollene Schwester zurück war. Nun, das ließ sich leicht ändern.
Anita ging näher an den Turm heran.
»Tania, komm da weg!«, rief Rathina.
Beschwichtigend hob Anita eine Hand und ging, ohne sich umzusehen, auf den Turm zu. »Bin gleich wieder da«, rief sie.
Am Fuß des Turms führten drei ausgetretene Steinstufen zu einer viereckigen schwarzen Tür hinauf, die mit langen Efeuranken halb zugewachsen war. In der Nähe des Eingangs gab es keine Fenster. Als Anita um eine Ecke ging, entdeckte sie dort ein großes rundes Fenster. Es war ebenfalls halb mit Efeu zugewuchert und das Glas war dunkel und schmutzig, aber darunter konnte man farbiges Glas erkennen– es erinnerte Anita an ein buntes Kirchenfenster. Anita stellte sich direkt darunter und versuchte in das Innere des Turms zu sehen. Der niedrige geschwungene Sims befand sich auf Schulterhöhe, aber das Fensterglas spiegelte so sehr, dass Anita zunächst kaum etwas erkennen konnte.
Sie rieb mit der Hand darüber und spähte dann abermals angestrengt hinein. Erschrocken hielt sie den Atem an, als sie eine dunkle Gestalt, die eine Art dunkler Kutte oder Umhang mit Kapuze trug, im Inneren entdeckte.
»Eden?«, flüsterte Anita kaum hörbar. Von der düsteren Gestalt ging eine derartige Verzweiflung und Trauer aus, dass ihr ein kalter Schauder über den Rücken lief. Ein beklemmendes Gefühl breitete sich in ihr aus.
Auf einmal zerrte jemand sie am Handgelenk von dem Fenster weg.
»Hier sollten wir uns nicht aufhalten«, schimpfte Rathina mit Anita, die angesichts des hellen Sonnenlichts im Hof blinzeln musste.
»Ich habe etwas gesehen«, sagte Anita, während sie von Rathina weiter über den Hof gezogen wurde. »Durch das runde Fenster. Ich bin mir nicht sicher, was es war.«
»Dieser Raum ist der heilige Ort unserer Schwester«, sagte Rathina. »Dort hat sie vor langer Zeit die Mystischen Künste praktiziert.« Ihr Tonfall klang bestimmt. »Wir gehen dort nicht hin, Tania. Diesen Ort muss man meiden.«
»Ja, verstehe. Tut mir leid.« Anita warf einen hastigen Blick zurück. Flüchtig meinte sie ein Gesicht am oberen Fenster zu sehen, aber gleich darauf war es wieder verschwunden und sie war sich nicht ganz sicher, ob es nicht vielleicht nur ein Schatten gewesen war.
Die beiden Schwestern gingen einen Gang entlang und durchquerten einen luftigen Raum, dessen Türen sich zum sonnenbeschienenen Palastgarten öffneten.
Ein Netzwerk aus gelben Wegen teilte den gestutzten Rasen und die vielen Blumenbeete, die von Statuen, Springbrunnen und Reihen schmaler, akkurat geschnittener Bäume gesäumt wurden.
Rathina führte sie einen Pfad entlang, der unterhalb der Palastmauern verlief, um hohe Rhododendronbüsche herumführte und sich schließlich vor dem Labyrinth verbreiterte.
Das Labyrinth sah dem vom Hampton Court Palace zum Verwechseln ähnlich. Es schien eine exakte Kopie zu sein, nur dass es hier keine Schilder und keine metallenen schwarzen Drehkreuze vor dem Eingang gab.
Anita spähte durch die hohen, raschelnden Hecken. »Wir waren mal auf einem Schulausflug hier«, sagte sie. »Ich bin reinmarschiert und hab schnurstracks den Weg in die Mitte gefunden, als hätte ich das schon tausendmal gemacht.« Sie sah Rathina an. »Seltsam, was?«
»Wir haben hier früher Verstecken gespielt«, sagte Rathina. »Zara, Cordelia, du und ich– als Kinder.«
»Und die anderen nicht?«
»Sancha manchmal auch, wenn wir sie von ihren Büchern weglocken konnten«, antwortete Rathina. »Aber Hopie und Eden waren schon damals viel zu erwachsen und konnte nur selten zum Spielen überredet werden.« Sie lächelte. »Du hast fast immer gewonnen– auch wenn du oft geschummelt hast, indem du einfach über die Hecken geflogen bist.«
»Ich war damals wohl ziemlich dickköpfig, was?«, sagte Anita.
»Allerdings.«
Während Anita auf den von grünen Hecken gesäumten Fußweg starrte, überkam sie eine flüchtige Erinnerung daran, wie sie zwischen den Büschen hin und her flatterte, während ihr die Schwestern kichernd hinterherjagten.
Sie schüttelte den Kopf. Das war nicht wirklich. Nicht echt.
Aus dem Inneren des Irrgartens drangen mehrere Kinderstimmen.
»Sie spielen, so wie wir früher«, sagte Rathina. »Möchtest du gern hinein?«
Anita schüttelte den Kopf. Der Anblick des Labyrinths hatte ihr den Schulausflug lebendiger als je zuvor ins Gedächtnis gerufen.
Direkt nach dem Ausflug hatte sie Evan zum ersten Mal gesehen. In dieser Traumwelt jedoch liebte Evan sie nicht– er hatte sie angelogen und sie wie eine Vollidiotin dastehen lassen, und daran wollte sie auf gar keinen Fall denken.
Die beiden Mädchen durchquerten einen Obsthain und gelangten zu ein paar niedrigen Holzhäusern mit reetgedeckten Dächern. Die Häuser standen am Rand einer weiten Fläche aus Koppeln und kleinen Teichen, die durch Bäume oder niedrige Zäune aus Korbgeflecht voneinander getrennt waren.
Anita sah Rehe, Ziegen, Schafe und Kühe mit langen Hörnern und zottelig braun-weißem Fell friedlich nebeneinander grasen. In den Teichen tummelten sich Biber und Otter, in den Bäumen Eichhörnchen, Marder und langgliedrige Affen.
Als Anita und Rathina vorbeigingen, sahen die Tiere sie mit ihren schwarzen Knopfaugen an. Schwäne glitten auf dem Teich dahin, Gänse und Enten watschelten am Ufer auf und ab. Raben, Turmfalken und Milane hockten wachsam auf den Zäunen und graue Tauben flatterten graziös in ihren Taubenschlag hinein und heraus.
Eine kleine braune Ziege kam zu Anita und beschnupperte ihre Hand. Das Tier blickte sie mit sanften Augen an und Anita blieb kurz stehen, um ihr die langen, weichen Ohren zu streicheln.
»Tania, trödle doch nicht so«, sagte Rathina, die weitergegangen war. »Meine Güte, du hast dich kein bisschen verändert.«
»Ich mag Tiere nun mal«, verteidigte sich Anita und bemühte sich, Rathina wieder einzuholen.
Plötzlich raschelte es und Anita sah ein großes braunes, eidechsenähnliches Wesen durchs hohe Gras schießen. Anita schätzte, dass es zusammen mit dem langen, hin und her schwingenden Schwanz bestimmt über einen Meter lang war.
»Das ist ein Salamander«, erklärte Rathina ihr. »Nimm dich in Acht: Er speit Feuer. Wenn man ihm zu nahe kommt, verbrennt man sich.«
»Wirklich?« Anita starrte dem Tier überrascht nach, das hin und her zuckend verschwand.
Wenige Augenblicke später bemerkte sie einen reetgedeckten Stall mit verriegelter Tür. Durch ein kleines Fenster, das sich etwas mehr als einen Meter über dem Boden befand, schaute ein glitzerndes rotes Auge hinaus und beobachtete die beiden Mädchen.
»Was ist da drin?«, fragte Anita.
»Ein Basilisk«, sagte Rathina. »Er ist krank. Cordelia glaubt, dass sie ihn gesund pflegen kann, dann will sie ihn hinauf in die Berge bringen und wieder aussetzen.«
»Was ist ein Basilisk?«, fragte Anita und trat sofort interessiert näher ans Fenster.
Doch Rathina antwortete nicht. Als Anita sich umblickte, sah sie, dass ihre Schwester ein Stück weitergegangen war, sich über einen niedrigen Zaun beugte und einigen Ottern am schlammigen Ufer eines Teichs beim Spielen zusah.
»Hallo«, flüsterte Anita und bückte sich leicht, um durch das Fenster in der Stalltür zu sehen. »Wer bist du denn?« Sie klopfte sanft an das Glas. Das rote Auge hatte sich in die Dunkelheit zurückgezogen, aber Anita hatte noch immer das Gefühl, mit großem Misstrauen beäugt zu werden. »Hab keine Angst«, sagte sie. »Ich tu dir nichts.«
Da rumpelte es auf einmal im Stall und das Wesen machte einen Satz auf das Fenster zu. Ein scharfer gebogener Schnabel stieß gegen das Glas und ein blutrotes Auge starrte sie an.
Erschrocken wich Anita zurück, stolperte– konnte aber gleichzeitig den Blick nicht von dem Auge des Basilisken abwenden. Ihr wurde schwindlig und ihre Glieder fühlten sich mit einem Mal ganz schwer an. Sie versuchte sich aufzurappeln, aber sie hatte keine Kraft mehr in den Beinen. Anita starrte in das Auge, während das Blut in ihren Schläfen pochte.
Ihre Brust schmerzte, als würde eine Faust ihr Herz zerquetschen.
Das Rauschen in ihrem Kopf begann wieder nachzulassen. Eine rote Dunkelheit senkte sich über ihre Augen. Ihr wurde eiskalt.
»Mylady!« Aus weiter Ferne vernahm sie eine Stimme. »Mylady, seht mich an!« Ein Gesicht tauchte vor ihr auf.
»Gabriel?« Sie hatte das Gefühl, als habe man eine schwere Last von ihr genommen. Langsam kam sie wieder zu sich, überrascht über das helle Tageslicht blinzelte sie. Sie lag ausgestreckt am Boden und Gabriel kniete neben ihr, rüttelte sie an der Schulter und sah sie ängstlich an.
»Was ist denn passiert?«, stieß sie hervor.
»Könnt Ihr aufstehen?«
»Ja, ich glaube schon.«
Er half ihr auf. Ihre eingeschlafenen Beine schmerzten bei jedem Schritt, während sie mit Gabriel zu dem Pfad zurückging, wo Rathina wartete. Sie wirkte bestürzt und starrte Anita mit großen Augen an.
»Ich dachte nicht, dass sie so nah herangehen würde«, sagte sie. »Tania, hat es dir etwas getan?«
Anita schüttelte den Kopf, um die feurigen Schatten wegzubekommen.
»Mir geht es gut«, erwiderte sie. Ängstlich schaute sie zum Stall zurück. »Was ist das für ein Wesen?«
»Ein Basilisk aus Fidach Ren«, sagte Gabriel. »Ein gefährliches Wesen– eine Mischung aus einem Hahn und einer Schlange. Sein Blick ist tödlich.« Er schaute Rathina an. »Mylady, Ihr hättet Prinzessin Tania nicht allein lassen sollen– sie kennt die Gefahren nicht, die in diesem Reich lauern.«
Rathina hob den Kopf und sah ihn kalt an. »Ich brauche keine Zurechtweisung, was meine Pflichten gegenüber meiner Schwester angeht«, sagte sie. »Ihr könnt jetzt gehen, Mylord.«
Gabriel verbeugte sich tief. »Vergebt mir, Mylady«, sagte er. Dann sah er Anita an. »Mit Eurer Erlaubnis werde ich mich zurückziehen«, sagte er. »Ich wurde zum königlichen Rat gerufen.«
Anita lächelte ihn an. Der Schrecken des eben erlebten verblasste bereits angesichts des herrlichen Nachmittags im Elfenreich. »Danke, dass du mich gerettet hast«, sagte sie.
»Stets zu Diensten«, sagte Gabriel und verbeugte sich wieder, dann ging er schnellen Schrittes zum Palast.
Anita sah Rathina mit hochgezogener Augenbraue an. »Das war ein bisschen schroff«, sagte sie. »Er hat mich schließlich vor diesem Ding da gerettet.«
Rathina hakte sich bei Anita unter und ging mit ihr weiter den Weg entlang. »Ich bin Prinzessin des Königshauses des Elfenreichs«, sagte sie. »Da kann ich es doch nicht dulden, dass ich von Gabriel Drake und seinesgleichen zurechtgewiesen werde.«
»Auch nicht, wenn er Recht hat?«
Rathina lächelte. »Gerade dann nicht«, sagte sie. Sie drückte Anitas Arm. »Ich hätte dich vor dem Basilisken warnen sollen«, fuhr sie fort. »Wäre ich diejenige gewesen, die das Ungeheuer entdeckte, hätte ich ihm, ohne mit der Wimper zu zucken, den Kopf abgeschlagen. Aber Cordelia hat ein weiches Herz und hilft allen Tieren in Not. Einmal hat sie sogar einen Greif im Wald gefunden, den ein Jäger mit seinem Pfeil verwundet hatte. Sie versuchte ihn gesund zu pflegen, aber er erwies sich selbst für ihre Geduld als zu wild, deshalb setzte sie ihn wieder im Wald aus.« Sie sah Anita an. »Nicht alles in diesem Reich ist schön und anmutig, Tania«, sagte sie. »Du tätest gut daran, das in Erinnerung zu behalten.«
»Das werde ich«, entgegnete Anita. »Ganz bestimmt.«
Arm in Arm gingen sie weiter durch die Menagerie. Ein Leopard lag im Schatten unter einem Baum und betrachtete sie träge mit seinen leuchtend gelben Augen. Auf einem Sonnenfleckchen döste ein Fuchs. Ein Hirsch kreuzte unbekümmert ihren Weg und wandte kurz seinen Kopf mit dem herrlichen Geweih, um sie anzusehen.
Anita wanderte in Hochstimmung durch die Menagerie und war bei jedem neuen Tier, das sie entdeckte, völlig aus dem Häuschen.
Ein kleines zartes Wesen trabte leichtfüßig an ihnen vorbei und seine Hufe machten kaum ein Geräusch. Es glich einem schlanken weißen Pferd mit hellblauer Mähne und Schwanz und großen violetten Augen– doch es war nicht größer als ein Damhirsch und reichte Anita nur bis zur Taille. Als es kurz zu ihnen herübersah, blitzte ein Horn im Sonnenlicht auf.
Anita starrte es mit offenem Mund an. »Ich dachte, Einhörner seien gefährlich.«
»Nur die großen, die hoch oben im Norden leben«, sagte Rathina. »Aber ihre südlichen Artgenossen sind klein und leicht zu zähmen. Früher hattest du sogar mal eines als Haustier– Parzival, erinnerst du dich nicht mehr?«
Anita schüttelte den Kopf.
Manchmal fand sie es sehr frustrierend, dass es ihr in der Traumwelt versagt war, sich an ihre dortige Vergangenheit zu erinnern. Prinzessin Tania schien eine fabelhafte Kindheit gehabt zu haben.
Sie kamen an den Futterplatz einiger Vögel, wo eine Magd einer anmutigen Schar Pfaue Körner hinstreute. Die wunderschönen Vögel hoben und senkten beim Picken die Köpfe, ihre langen Schwänze waren zusammengefaltet. Als Anita und Rathina näher kamen, hob ein Vogel den Kopf und schlug ein prachtvolles Pfauenrad.
»Wo ist Prinzessin Cordelia?«, fragte Rathina die Dienstmagd.
»Bei den Hunden, Mylady«, antwortete diese mit einem Knicks.
»Belladonna, eine ihrer Lieblingshündinnen, hat vor ein paar Wochen geworfen«, erklärte Rathina Anita. »Ganz sicher werden wir Cordelia zwischen ihren Welpen finden.«
Sie steuerten auf die Hundezwinger zu, doch als eine Ente mit ihren flauschigen gelben Entenküken im Schlepptau über den Weg lief, blieb Anita stehen. Lächelnd sah sie zu, wie die Entenmutter ihre Kinder zu dem nahe gelegenen Teich trieb.
Rathina schnalzte ungeduldig mit der Zunge. »Komm jetzt. Belladonnas Welpen warten!«
Bereits beim Näherkommen konnte Anita das Kläffen der jungen Hunde hören. Rathina öffnete das Weidentor und sie traten ein.
Cordelia saß am Boden und überall auf ihr krabbelten Welpen herum. Sie waren alle hellbraun mit gelben Augen. Anita schätzte, dass es so um die acht oder neun sein mussten. Ganz in der Nähe lag eine ausgewachsene Hündin. Sie schwitzte in der Hitze und beobachtete die Jungen aufmerksam.
»Cordelia, ist das ein angemessenes Benehmen?«, schalt Rathina sie. »Das sind Arbeitstiere und keine albernen Schoßhündchen. Was würde Vater dazu sagen, dass du sie so verwöhnst?«
Cordelia lachte und versuchte die quirligen Welpen von ihrem Schoß zu schieben. »Ach, für ihre Ausbildung bleibt noch genügend Zeit, jetzt dürfen sie spielen«, sagte sie. »Tania! Bitte hilf mir– ich komme nicht mehr hoch!« Sie lachte laut auf, als die Welpen sie nicht gehen lassen wollten und immer wieder an ihr hochsprangen, sodass sie das Gleichgewicht verlor.
Anita lief zu ihnen hinüber und sank auf die Knie. Binnen weniger Sekunden saß ihr schon ein kleiner zappliger Welpe auf dem Schoß und leckte ihr mit seiner feuchten Zunge übers Gesicht. »Die sind ja total süß!«, stieß sie hervor, als von der Seite ein weiterer Welpe auf sie sprang.
»Was seid ihr doch für Kinder!«, rief Rathina lachend. »Also, ich muss mich derweil ernsteren Angelegenheiten widmen! Ich werde Maddalena im Stall satteln lassen und dann werden wir draußen im Koboldmoor ein paar Sprünge wagen.« Sie suchte Anitas Blick. »Ich überlasse dich deinen neuen Freunden«, sagte sie. »Und denkt daran, Euch vor dem Mittagessen die Hände zu waschen und Euch umzuziehen. Ich werde mich nicht an einen Tisch mit Schwestern setzen, die nach Hund stinken.« Dann ging sie mit einem letzten Kopfschütteln in Richtung der Stallungen davon.
Cordelia setzte sich auf und lächelte Anita an. »Die anderen Hunde müssen spazieren geführt werden«, sagte sie. »Würdest du gerne mitkommen?«
»Natürlich«, sagte Anita, setzte vorsichtig die Welpen ins Gras und rappelte sich auf.
Ein paar besonders wagemutige Welpen folgten ihnen, bis Cordelia sie streng ermahnte und sie folgsam zu ihrer Mutter zurücktapsten.
Die beiden Schwestern gelangten durch ein weiteres Tor in einen umzäunten Bereich voll mit langbeinigen Hunden, die bei Cordelias Anblick sofort anfingen zu bellen, um hinausgelassen zu werden.
Cordelia öffnete das Tor und plötzlich standen Anita und sie knietief zwischen lauter Hundenkörpern. Die Hunde hatten einen breiten Brustkorb, kräftige, muskulöse Flanken und dünne Schwänze. Ihre Köpfe waren klein, mit langen schmalen Schnauzen und großen klugen Augen.
Auf ein Wort von Cordelia lief das ganze Rudel los und rannte kläffend in Richtung der Felder.
Anita und Cordelia jagten hinter ihnen her. Ab und zu rief Cordelia ihnen etwas zu, sodass das Rudel entweder nach links oder rechts schwenkte oder ganz stehen blieb, während die beiden Schwestern aufholten.
Ein Hund scherte aus der Meute aus und rannte auf eine Baumgruppe zu.
»Pyewhacket!«, rief Cordelia. »Komm zurück!«
Der Hund hielt zögernd inne und trottete dann langsam mit gesenktem Kopf auf sie zu. Er setzte sich zu ihren Füßen und starrte sie mit seinen großen bernsteingelben Augen an.
»Du musst lernen, meinen Befehlen zu gehorchen«, sagte Cordelia zu dem Hund. »Möchtest du denn nicht der königlichen Meute angehören, wenn du alt genug bist?«
Der Hund winselte erst leise, dann bellte er.
»Diese Geschichte habe ich schon mal von dir gehört«, sagte Cordelia streng. »Aber für solche Welpengeschichten bist du wahrlich schon zu alt! Fort mit dir– geh und warte bei den anderen.«
Während der Hund zum Rest des Rudels hinüberlief, blickte er hin und wieder schuldbewusst zurück.
»Entschuldige, wenn ich so dumm frage«, sagte Anita. »Aber hast du gerade wirklich verstanden, was der Hund gesagt hat?«
»Fürwahr«, sagte Cordelia. »Er hat mir erzählt, dass ihn Will-o’-the-wisp und Fletch dazu angestachelt hätten– er gibt immer anderen die Schuld für seine Missetaten.« Sie lächelte. »Dass ich die Sprache aller Tiere verstehen kann, ist meine spezielle Gabe«, fügte sie hinzu.
Anita starrte sie an. Ihr fiel nichts ein, was sie darauf hätte erwidern können. Welche weiteren Überraschungen hielt diese erstaunliche Traumwelt wohl noch für sie bereit?
Sie gingen weiter und jetzt stieg der Weg durch die Wiesen in sanftem Schwung an. Es dauerte nicht lange, da hatten sie die Menagerie und die dazugehörigen Gebäude hinter sich gelassen. Anita drehte sich um, schirmte mit der Hand die Augen vor der Sonne ab und warf einen Blick zurück zum Palast. Und wie sie da so stand, den Wind in den Haaren, den Geruch nach Hunden und Gras in der Nase und das weite, offene Land des Elfenreichs im Rücken, wurde sie mit einem Mal von tiefer Zufriedenheit und einem Gefühl der Zugehörigkeit überwältigt.
Sie wandte sich an Cordelia, die ein kleines Stück entfernt neben einigen Hunden den Hang hinauflief.
»Es ist meine Bestimmung, hier zu sein!«, rief sie begeistert ihrer Schwester zu. »Gabriel hatte Recht! Das ist mein Zuhause…«
In diesem Augenblick begann der Boden unter ihren Füßen zu brodeln und die Welt geriet ins Wanken. Die Wiese, Bäume, Hügel und der Himmel lösten sich vor ihren Augen auf. Wind toste um sie herum und ihr wurde so schwindlig, dass sie das Gleichgewicht verlor und taumelte.
»Nein!«
Das Elfenreich bebte unter ihren Füßen und mit einem Mal hörte sie lauten Verkehrslärm und unter ihren Füßen befand sich harter Asphalt.
Sie stand mitten auf einer stark befahrenen Straße zwischen lauter Fahrzeugen, die wilde Ausweichmanöver vollführten, um sie nicht zu erwischen. Ein Hupen ertönte und der Fahrer eines weißen Lieferwagens schrie sie wütend durch sein offenes Fenster an.
Anita blickte sich verzweifelt um, sie war vollkommen desorientiert und panisch. Wieder ertönte ohrenbetäubendes Hupen, diesmal hinter ihr, und sie wirbelte herum. Ein Bus kam geradewegs auf sie zu. Der Fahrer starrte sie entsetzt an und riss das Steuerrad herum. Doch es war zu spät– der Bus fuhr zu schnell. Es gab keine Möglichkeit, ihr auszuweichen.
Instinktiv hob Anita die Arme, um ihren Kopf zu schützen.
Soeben war sie aus ihrem Traum erwacht: Anscheinend war sie in einer Art Blackout aus dem Krankenhaus spaziert– und gerade noch zu Bewusstsein gekommen, bevor sie überfahren wurde.