VI
Als Anita mit Zara in ihr Zimmer zurückkam, lag ihr Ballkleid bereits auf dem Bett und die fliederfarbene Seide schimmerte im Sonnenlicht, das durch das Fenster fiel.
Als Anita das Kleid vorsichtig hochhob, war sie überrascht, wie leicht es sich trotz der weiten Röcke anfühlte. Es hatte Puffärmel, die so geschlitzt waren, dass darunter der purpurne Futterstoff hervorschaute. Der Halsausschnitt, die Ärmelenden und der Rocksaum waren ebenfalls mit purpurrotem Garn verziert. Lavendelblaue Stickerei bildete ein filigranes Muster auf dem Mieder und auch der Oberrock war üppig bestickt.
Anita hielt sich das Kleid an. »Wie sieht es aus?«
»Es ist atemberaubend«, erklärte Zara. »Mistress Mirrlees hat sich selbst übertroffen!«
»Aber wie hat sie das so schnell hinbekommen?«, wunderte sich Anita und blickte auf die komplizierte Stickerei. »Das sieht nach mehrwöchiger Arbeit aus, dabei waren wir doch erst vor einer Stunde dort.«
Zara schüttelte den Kopf. »Arme Tania«, sagte sie. »Du erinnerst dich wohl an gar nichts mehr, das du früher hier gelernt hast?«
»Nein, wie du merkst, nicht«, sagte Anita. Sie sah Zara an. »Ist etwa Magie im Spiel?«
»Das Wort kenne ich nicht«, sagte Zara verwirrt. »Was heißt das?«
»Magie?«, fragte Anita. »Oh, du weißt schon: Hokuspokus. Sesam, öffne dich. Ein Kaninchen aus dem Hut ziehen. So was in der Art.«
Zara sah sie verständnislos an.
»Die Art und Weise, wie der König das Tageslicht zurückgeholt hat«, erklärte Anita. »Das meine ich. Und wie Gabriel mich hierher zurückgebracht hat. Das alles scheint wohl Magie zu sein.«
»Ich weiß nicht, welche Kräfte Gabriel benutzt hat, um dich zurückzubringen«, sagte Zara. »Mit solchen Dingen habe ich mich nie beschäftigt. Das tun die wenigsten von uns. Das ist nämlich harte Arbeit! Wenn ich nur daran denke, wird mir schon schwindelig.«
Sie lächelte.
»Mistress Mirrlees kennt sich etwas mit den Mystischen Künsten aus und unser Vater ist ein großer Meister darin. Komm, lass uns nicht bei solch ernsten Themen verweilen– du bist hier bei uns, die Zeit der Großen Dämmerung ist vorbei und heute Nacht tanzen wir bis zum Sonnenaufgang!«
Zara half Anita in ihr Kleid und dann rannten die beiden durch die Gänge zu Zaras Privatgemach.
Zara riss eine Tür auf und Anita betrachtete das Schlafzimmer ihrer Schwester fasziniert. Die Wände und die Decke waren in verschiedenen Blauschattierungen gestrichen, sodass das Himmelbett mit seinen marineblauen Decken und Vorhängen inmitten eines riesengroßen Meeres dahinzusegeln schien.
»Wie schön!«, rief Anita. Sie blickte zu Boden: Die Dielen zu ihren Füßen waren so bemalt, dass sie kleinen glatten Kieseln ähnelten. An einer Wand befanden sich Fenster mit blaugetönten Scheiben und das hereinströmende Sonnenlicht bekam dadurch einen saphirblauen Schimmer.
Anita betrachtete die Wände– und hielt den Atem an: Die Gemälde waren lebendig! Wellen mit Schaumkronen wogten um sie herum und Schiffe fuhren mit geblähten Segeln im Wind. Meerjungfrauen und Seeschlangen erhoben sich aus dem weißen Schaum und tauchten dann wieder unter die Oberfläche, sodass Gischt aufspritzte. Schneeweiße Wolken jagten auf dem oberen Teil der Wände über den azurblauen Himmel. Seemöwen flogen unter der Zimmerdecke, sodass ihre Flügel schwache Schatten warfen.
Anita strich zögernd mit der Hand über die Wand. Sie fühlte sich kalt und massiv an, wie bemalter Stein. Ein fernes Schiff glitt unter ihre Finger– ein Schiff aus farbigen Pinselstrichen.
Es sah wie eine computeranimierte Fotografie aus, als das Schiff lautlos in dieser verzauberten Welt der Farben und der Pigmente davonsegelte.
Anita trat zurück und sah Zara an. »Wie funktioniert das?«, fragte sie. Angesichts dieses Schauspiels hatte es ihr schier die Sprache versprachen.
Zara lächelte sie an. »Vielleicht Magie?«, sagte sie. »Das ist nicht so ungewöhnlich. Wir alle haben ein Schlafgemach, das uns am Tagesende Freude beschert. Auf Sanchas Wänden tummeln sich zahllose Worte, die ihr nie enden wollende Geschichten und Märchen erzählen. Rathina hat einen Ballsaal voll unermüdlicher Tänzer. Hopies Schlafgemach ist ein Wald voller Kräuter und Heilpflanzen. Und in Cordelias Raum wimmelt es von den Tieren, die sie so liebt.«
»Aber bei mir ist es ganz anders«, sagte Anita. Auf ihren Wandteppichen waren kunstvoll ausgearbeitete Szenen zu sehen, aber sie waren leblos und zweidimensional, nicht lebendig wie diese bemalten Wände.
Zara sah traurig aus. »Doch, bei dir war es einst auch so«, sagte sie. »Vielleicht wird auch dein Zimmer wieder zum Leben erwachen– du musst Geduld haben.« Sie wandte sich um. »Aber sieh mal, was Mistress Mirrlees für mich hinterlassen hat!« Sie rannte zum Bett, wo ihr Ballkleid lag. Die hellblaue Seide glänzte auf der dunkelblauen Bettwäsche. »Komm, hilf mir beim Anziehen.«
Anita zwang sich ihren Blick von den wundersamen Wänden abzuwenden und kümmerte sich um Zara: Sie half ihr ins Kleid und schnürte ihr das Mieder zu.
Ihr Gewand war ebenso prächtig und fein gearbeitet wie das von Anita. Der blaue schimmernde Stoff war mit weißen und hellen Saphiren besetzt, die im nachmittäglichen Sonnenlicht verführerisch glitzerten und funkelten.
Anita kletterte auf Zaras Bett und sah zu, wie ihre Schwester vor dem seltsamen Meer tanzte. Die Schritte sahen ziemlich kompliziert aus. »Ich habe keine Ahnung, wie man das tanzt«, sagte Anita.
»Es wird dir sicher wieder einfallen«, sagte Zara lachend, während sie an ihr vorbeiwirbelte. »Deine Finger haben sich an die Laute erinnert– deine Füße werden sich an den Tanz erinnern.« Plötzlich hielt sie inne und blickte Anita aufgeregt an. »Erinnerst du dich an die Schritte zu All in a Garden Green?«, fragte sie. »Oder The Chirping of the Nightingale? Oder Jenny Pluck Pears? Aber an Fine Companion musst du dich erinnern– das war doch immer dein Lieblingstanz.«
Anita schüttelte den Kopf. »Vielleicht sollten wir vorher noch üben?«
Da ertönte in der Ferne eine Trompetenfanfare.
Zaras Lächeln wurde breiter. »Keine Zeit mehr«, sagte sie, beugte sich übers Bett und zog Anita hoch. »Der große Ball beginnt!«
Anita rutschte vom Bett. »Na gut«, murmelte sie, während Zara sie zur Tür zerrte. »Was habe ich schon zu verlieren? Das passiert ja sowieso alles nur in meinem Kopf. Also macht es auch nichts, wenn ich mich zum totalen Idioten mache.«
Anita hatte erwartet, dass alle Schlossbewohner zum Ball eilen würden, aber in den Korridoren und auf den Treppen war alles leer und still. Während die beiden die kerzenerleuchteten Gänge entlangschritten, spürte sie, wie Zaras Aufregung auf sie übersprang. Aber wo waren bloß alle anderen?
Sie gelangten in eine Vorhalle, die nur spärlich erleuchtet war und vollkommen verlassen war. Vor ihnen befand sich eine Flügeltür aus dunklem Holz.
»Öffne die Türen«, sagte Zara.
Verwirrt gehorchte Anita und die Türen schwangen auf.
Anita blickte sich über die Schulter Hilfe suchend nach Zara um. Was ging hier vor? Spielte ihr Zara etwa einen Streich?
»Na, los«, drängte Zara. »Du musst hineingehen.«
Achselzuckend trat Anita über die Schwelle in den pechschwarzen Raum. Dort blieb sie stehen und spähte angestrengt in die Dunkelheit.
»Hallo?«, rief sie. »Ist da jemand?«
Sie vernahm jetzt gedämpfte Musik, leise Cello- und Flötenklänge und sanftes Tamburintrommeln. Und plötzlich glomm in der kohlrabenschwarzen Dunkelheit ein kleines Licht auf.
»Willkommen, meine über alles geliebte Tochter.« Das war Oberons Stimme. »Tausendmal willkommen!«
Die Musik schwoll an und der Lichtschein wuchs, vergrößerte sich zu einem goldenen Leuchten, das sich schließlich bis in jede Ecke des riesigen Raums ausbreitete.
Anita bemerkte, dass sie sich in der Großen Halle befand, die sie zum ersten Mal gesehen hatte, als sie mit Gabriel im Palast gewesen war. Nur war sie diesmal durch die Türen unterhalb der Empore eingetreten.
In dem goldenen Licht sah man nun auch den König, der vor den beiden Thronen stand. Anita sah jetzt außerdem, dass eine Schar farbenprächtig gekleideter Leute den Saal füllte, die sie alle fröhlich anlächelten.
Anita durchfuhr ein aufgeregtes Prickeln, als ihr auffiel, dass der goldenen Schein die Wände emporstieg, die Kerzen in den Haltern entzündete und weiterkletterte bis zu den Kronleuchtern an der Decke, die dann ebenfalls zu brennen begannen.
Noch während Anita versuchte, das alles in sich aufzunehmen, ertöntem Jubelrufe und die Musik schwoll zu einem lauten Crescendo an.
Ergriffen traten ihr Tränen in die Augen. War das wirklich nur ein Traum? Es fühlte sich alles so wirklich an.
Oberon kam lächelnd auf sie zu.
Ihr Mund war ausgetrocknet und ihr Kopf wie Watte, als er liebevoll ihren Arm ergriff. Dann schritten sie unter neuerlichem Jubel gemeinsam durch die Menge.
»Möge der erste Tanz Greenwood sein!«, rief Oberon über den Tumult hinweg. »Ich werde ihn mit meiner Tochter tanzen.«
Wieder ertönte Applaus und das Orchester, das auf der Empore saß, spielte nun eine dynamische, muntere Melodie. Anita blickte den König erschrocken an. »Den Tanz kenne ich nicht«, sagte sie.
»Ah, keine Sorge«, versprach der König. »Komm, ich führe dich.«
Die Menge wich zurück, sodass sich in der Mitte eine freie Fläche zum Tanzen bildete. Mit Herzklopfen folgte Anita Oberon in den Kreis hinein. Der König trat einen Schritt zurück und machte eine tiefe Verbeugung.
Ehe Anita sichs versah, merkte sie, dass sie einen Knicks machte. Der König trat auf sie zu und sie legte instinktiv ihre Handflächen auf seine. Nun ging Oberon einen Schritt zurück und sie stand still, während er eine Drehung nach rechts machte und einmal um sie herum tanzte. Dann blieb er vor ihr stehen und sie setzte ihre Füße auf den Boden, als hätte sie diesen Tanz schon ihr Leben lang getanzt.
Die Zuschauer jubelten. Oberon lachte und fiel in das Klatschen ein.
»Seht ihr? Meine Tochter ist immer noch die graziöseste Tänzerin im ganzen Reich!«, rief er. »Tretet näher ihr Lords und Ladys! Reiht euch ein in den Tanz und lasst uns fröhlich sein!«
Plötzlich war Anita von lauter tanzenden Leuten umgeben und sie wirbelte ausgelassen über das Parkett, bis keine Anita Palmer mehr existierte, sondern nur noch Prinzessin Tania aus dem Elfenreich, die zu ihrem Vater Oberon und ihren königlichen Schwestern zurückgekehrt war.
Im weiteren Verlauf der Nacht tanzte und tanzte Anita, bis ihr schwindelig wurde.
Sie kannte die Schritte aller Tänze!
Da gab es die ruhige Sarabande, in der sich die Lords und Ladys in langen Reihen gegenüberstanden. Die Männer verbeugten sich, die Damen knicksten. Dann bewegten Anita und die anderen Frauen sich auf ihre Partner zu, verschränkten die Hände mit ihnen, gingen anmutig um sie herum, und schließlich hakten sich die Männer und Frauen unter, um sich zu anderen Paarformationen zusammenzufinden.
Dann gab es Tänze wie Rose is White and Rose is Red, wo die Tänzer kleine und größere Kreise bildeten– manchmal zu viert, manchmal zu acht, die sich– einer im anderen– im und gegen den Uhrzeigersinn drehten, während die beschwingte Musik sie alle antrieb.
Anitas Füße schienen jeden Tanz zu kennen und sie machte keinen einzigen Fehler. Manchmal fand sie sich Gabriel gegenüber, andere Male war Oberon oder einer der anderen Elfenlords ihr Partner, aber sie hatte kaum Zeit, zu Atem zu kommen oder sich zu unterhalten.
Sie hatte keine Ahnung, wie viele Stunden vergangen waren, als sie zu guter Letzt die Tanzfläche verließ und sich in eine Ecke setzte, um zu verschnaufen. Die Adligen des Elfenreichs saßen oder standen in kleinen Grüppchen beisammen, redeten und lachten und sahen zu, wie die Tänzer über das Parkett wirbelten.
Sancha und Cordelia setzten sich zu Anita und gemeinsam beobachteten sie, wie Zara einen besonders komplizierten Tanz namens Voltaira anführte.
»Sie ist echt unermüdlich, was?«, stellte Anita fest. Die Tänzer vollführten gerade eine spektakuläre Hebefigur– die Männer fassten die Frauen um die Taille und wirbelten sie in die Luft. »Woher hat sie nur die Energie?«
»Fünfhundert Jahre Sehnsucht«, sagte Sancha ernst.
»Das ist eine lange Zeit, um auf ein bisschen Spaß zu warten«, murmelte Anita.
Sie blickte durch den Saal.
Oberon saß auf dem Thron und sprach mit ein paar Adligen. Der Elfenkönig. Es erfüllte sie mit seltsamem Stolz, als sie sah, wie die Lords und Ladys des Hofes sich vor ihm verneigten– fast, als wäre er wirklich ihr Vater und sie Prinzessin Tania.
»Du Volltrottel!«, sagte sie zu sich selbst. »Das hier ist nicht echt. Vergiss das nicht!«
Hopie stand mit einem großen dunkelhaarigen, bärtigen Mann Arm in Arm beim Thron und unterhielt sich mit dem König.
»Wer ist das da bei Hopie?«, fragte Anita.
»Ihr Ehemann– Lord Brython von Cantus«, sagte Sancha. »Ein weiser und gelehrter Mann. Er hat eine hohe Position im Rat des Königs inne.«
Anita sah Sancha an. »Bist du verheiratet?«
Sancha lachte leise. »Nein«, sagte sie. »Ich werde vollkommen von meinen Studien in Anspruch genommen und brauche keine Ablenkung.«
Anita wandte sich an Cordelia. »Und was ist mit dir? Bist du mit jemandem zusammen?«
Cordelia schüttelte stirnrunzelnd den Kopf. »Ich finde kein Vergnügen an der Gesellschaft von Männern«, sagte sie.
»Auch nicht an der Gesellschaft von Frauen, um genau zu sein«, fügte Sancha hinzu. »Cordelia lebt ausschließlich für ihre Tiere.«
Cordelia hob eine Augenbraue. »Das sind nicht meine Tiere«, korrigierte sie. »Sie gehören nur sich selbst.« Sie sah Anita an. »Du bist jederzeit herzlich willkommen, dir die Menagerie anzusehen, wenn du möchtest.«
»Eine Menagerie?«, sagte Anita. »Was ist das?«
Cordelia blickte sie überrascht an. »Der königliche Tierpark.«
»Klingt toll. Ich liebe Tiere.« Sie musste lächeln, als ihr der Vorfall in Mistress Mirrlees’ Atelier wieder einfiel. »Sogar Eichhörnchen, auch wenn ich sie manchmal fast zu Tode erschrecke.«
»Mach dir keine Sorgen, es hat keine Angst mehr vor dir«, sagte Cordelia. »Ich habe mit ihm gesprochen– es weiß jetzt, dass du eine Freundin bist.«
»Ah… das ist gut«, sagte Anita. Insgeheim fragte sie sich, was Cordelia genau damit meinte: mit ihm gesprochen?
Sie sah zu Rathina hinüber, die von einer Schar aufmerksamer, gut aussehender junger Lords umringt war. Bis jetzt war Rathina die einzige ihrer Schwestern, die an diesem Abend noch kein Wort mit ihr gewechselt hatte, aber andererseits schien die wunderschöne Elfenprinzessin von ihren Verehrern vollkommen in Beschlag genommen zu sein.
»Habe ich denn noch irgendwelche anderen Schwäger, von denen ich wissen sollte?«, fragte Anita.
»Eden hat einen Mann«, antwortete Sancha. »Graf Valentyne, doch er hat den Hof vor langer Zeit verlassen, kurz nachdem das Dämmerlicht über uns kam und Eden sich im Turm einschloss. Wir wissen nicht, wohin er ging, vielleicht zurück zu seinen Verwandten nach Mynwy Clun, viele Wegstunden von hier entfernt im gebirgigen Westen.« Sie folgte Anitas Blick. »Wie du sehen kannst, mangelt es Rathina nicht an Bewerbern, aber bisher hat keiner von ihnen ihr Herz erobert. Und was Zara betrifft: Ich habe Mitleid mit dem Mann, der versucht ihr Herz zu erobern– es ist so leicht und flatterhaft wie ein Schmetterling!«
Anita bemerkte Gabriel am anderen Ende des Saals, der mit Edric sprach. Sie hatte Edric vorher noch gar nicht bemerkt und der Anblick des eigentlich vertrauten Gesichts versetzte ihr einen Stich.
Sie verdrängte ihre verletzten Gefühle. Warum schmerzte Edrics Verrat sie so sehr? Schließlich war dies nur ein Traum. Wieso ging es ihr bei Edrics Anblick so schlecht?
»Und dann gibt’s da noch Gabriel«, murmelte sie kaum hörbar. An Sancha gewandt sagte sie lauter: »Damals, bevor ich verschwunden bin… hatte Gabriel da mein Herz erobert? Das muss er getan haben, wenn ich ihn heiraten wollte, aber ich kann mich überhaupt nicht erinnern.«
Sancha sah nachdenklich aus. »Du schienst zufrieden, ihn zu heiraten«, sagte sie schließlich. »Aber ich weiß nicht, ob du ihn wirklich geliebt hast.«
Anita starrte sie an. »Wirklich? Warum sagst du das?«
»Die Vermählung hätte zwei große Häuser des Elfenreichs verbunden«, erklärte Sancha. »Unser eigenes mit dem der Weir. Du wusstest, dass unser Vater sich ein Bündnis mit dem mächtigen Herzogtum des Nordens wünschte. Als Gabriel um deine Hand anhielt, hast du vielleicht auch deshalb Ja gesagt, um unserem Vater eine Freude zu bereiten.«
»Mir kam es so vor, als wärst du geblendet gewesen von all dem Glanz und der ganzen Aufregung«, ergänzte Cordelia, die zugehört hatte. »Aber du mochtest Gabriel durchaus, glaube ich.«
Sie musterte ihn nachdenklich über die Entfernung der Halle hinweg.
»Er ist ein gut aussehender Mann, das kann man mit Fug und Recht behaupten, wenn man Wert auf so etwas legt.«
Plötzlich tauchte Zara auf. »Was ist denn das?«, rief sie aus und griff nach Anitas Hand. »Bist du schon müde? Die Nacht ist noch jung– komm, ich habe um deinen Lieblingstanz gebeten: einen Companion. Der wird alle Spinnweben wegfegen! Auf die Füße, ihr Faulpelze, bis Sonnenaufgang sind noch viele Tänze zu tanzen!«
Anita warf Sancha und Cordelia einen amüsierten Blick zu, während sie von ihrer vollkommen unermüdlichen Schwester zur Tanzfläche gezogen wurde.
Erst nach drei weiteren Tänzen war es Anita möglich, Zara zu entkommen. Ihr war etwas schwindelig von den vielen Drehungen, daher bahnte sie sich einen Weg durch die Schar der Höflinge, um nach einem Platz Ausschau zu halten, wo sie sich eine Weile hinsetzen und ausruhen konnte.
Plötzlich berührte sie etwas am Handgelenk und jemand zischte ihr ins Ohr: »Wir müssen reden.«
Als sie aufblickte, sah sie Edrics Gesicht vor sich.
Den Bruchteil einer Sekunde erinnerte sie sich lebhaft an ein anderes Mal, als ein Junge, den sie als Evan Thomas kannte, ihre Hand ergriffen hatte.
Ein Konzert, vor ein paar Monaten in Nordlondon. Laute Rockmusik, die ihr in den Ohren dröhnte, E-Gitarren, die kreischten, und Bässe, die im Magen wummerten. Auf der Tanzfläche schwitzende Leiber. Zuckendes Stroboskoplicht auf den dunklen Wänden. Und sie war mittendrin in dem ganzen Gedränge, genoss jeden Augenblick wie im Rausch. Doch plötzlich wurde sie von der Menge zur Bühne geschubst. Sie war in der Menschenmasse eingekeilt– atemlos und unfähig, sich zu befreien. Das war nicht ungefährlich: Wenn sie hinfiel, würden die anderen über sie hinwegtrampeln.
Und dann– die Rettung! Evan, der ihre Hand gepackt hatte und sie aus der Meute zog.
Erleichterung. Sie warf sich ihm an den Hals, lachte und brüllte ihm ins Ohr: »Ich glaube, du hast mir gerade das Leben gerettet!« Und in diesem Augenblick war ihr klar geworden, dass sie sich in ihn verliebt hatte.
Die Erinnerung währte nur kurz. Schon war sie wieder zurück in der Großen Halle des Königspalasts und das Gesicht, in das sie starrte, war nicht mehr das ihres Freunds Evan, sondern das von Edric Chanticleer, dem verlogenen Diener von Gabriel Drake.
»Lass mich in Ruhe«, fauchte sie ihn an. »Ich habe dir nichts mehr zu sagen.«
Sie riss sich los und drängte sich durch die Menge, um so weit wie möglich von ihm wegzukommen. Der Gedanke, wie grausam er ihre Gefühle manipuliert hatte, machte sie wütend. Anita rief sich erneut ins Gedächtnis, dass alles nur ein Traum war, aber sie konnte nicht anders: Sie war enttäuscht und gekränkt über Evans Verhalten.
»Seid gegrüßt, Mylady!« Gabriels Stimme ließ sie abrupt innehalten. Er stand direkt vor ihr. Sie war so bedacht darauf gewesen, Abstand zwischen sich und Edric zu bringen, dass sie fast in ihn hineingerannt wäre.
»Oh! Tut mir leid«, stieß sie hervor, dankbar, dass ein freundliches Gesicht ihre düsteren Gedanken verscheuchte. Sie lächelte ihn an. »Hast du hier viel Spaß?«
»Fürwahr, es ist eine Freude«, sagte er und blickte ihr tief in die Augen. »Aber ein Tänzchen mit meiner Lady zu wagen, würde alle anderen Vergnügen in den Schatten stellen.«
Anita zog eine Augenbraue hoch. »Du bittest mich um einen Tanz?«
Gabriel verneigte sich. »Wenn es Mylady beliebt.«
»Okay«, sagte sie. »Aber bitte nichts Schnelles.«
»Vertraut mir«, sagte er. »Ich werde Euch so gut führen wie kein anderer.«
Das klang verführerisch. Sie ging mit ihm auf die Tanzfläche, wo sie sich einander gegenüberstellten. Er verbeugte sich und hob die Arme. Sie nahm seine Hände und sie schritten in einem langsamen Kreis umeinander herum.
Sein Blick lag die ganze Zeit auf ihrem Gesicht, aber seine tief silbrigen Augen hatten einen abwesenden Glanz.
»Woran denkst du?«, fragte sie.
»Ich habe mich daran erinnert, wie wir das letzte Mal miteinander getanzt haben.«
»Das ist schon eine Weile her, nehme ich an«, sagte sie.
»Fürwahr, eine sehr, sehr lange Zeit.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann mich überhaupt nicht mehr daran erinnern.«
»Mit der Zeit wird Euer wahres Selbst zurückkehren«, versprach Gabriel.
Sie sah ihn nachdenklich an. Hatte sie ihn geliebt– vor langer, langer Zeit? Sie konnte verstehen, wie man bei so einem Mann schwach werden konnte. Er war charmant, freundlich und extrem attraktiv. Sie musste schmunzeln. Und außerdem noch reich und mächtig– obwohl sie sich nicht sicher war, ob das einer Prinzessin wichtig sein sollte.
Er erwiderte ihren Blick. Und jetzt waren seine Augen nur auf sie gerichtet, als wäre sie das einzig Interessante auf der ganzen Welt.
Er hatte seltsame Augen. Silbergrau. Wie Mondlicht, das auf einen tiefen dunklen See fällt. Oder eine weiße Flamme, die sich in poliertem Stahl spiegelt. Der Raum drehte sich um sie und sie merkte, dass sie nicht wegsehen konnte.
Die Intimität ihres Blickkontakts verursachte ihr Unbehagen, als müsste sie sich von ihm losreißen, ehe irgendetwas Bedeutsames geschah. Sie versuchte ihm ihre Hände zu entziehen.
»Lasst meine Hände nicht los«, sagte er sanft.
Seine Augen schienen immer größer zu werden, bis Anita nur noch das Silber seiner Iris und das Schwarz seiner Pupillen sehen konnte. Das Silber schimmerte wie Mondlicht und das Schwarz war mit weißen Lichtpunkten durchsetzt wie ein sternenübersäter Himmel. Sie hatte das Gefühl, als würde sie von seinem Blick magisch angezogen, und sie konnte nichts dagegen tun.
»Nein«, flüsterte sie. »Ich will nicht.«
»Blickt unter Euch«, sagte er, »und habt keine Angst.«
Anita gehorchte. Der Fußboden, die Große Halle, die tanzenden Höflinge waren verschwunden. Stattdessen war nur noch der sternenübersäte Nachthimmel um sie herum, erhellt vom Mond, der hinter einem dünnen, filigranen Nebelschleier hervorlugte. Sie schwebte in der Luft– hing in Gabriels Armen und weit unter ihnen lag das nächtliche Land.
Von plötzlicher Panik übermannt klammerte sich Anita an seine Hände und stöhnte auf.
»Ihr werdet nicht fallen«, sagte er. »Vertraut mir.«
Sie schluckte schwer. Diesmal hatte sie keine Flügel– einzig und allein Gabriel hinderte sie daran zu fallen. Sie hatte keine andere Wahl, als ihm zu vertrauen.
Sie segelten durch die Nacht und der Wind wehte ihr ins Gesicht– nach der Wärme in der Großen Halle war die kühle Luft erfrischend. Der Wind erfüllte mit seiner flüsternden Stimme ihr Ohr, fuhr raschelnd durch ihr Ballkleid und zerzauste ihr Haar.
Weit unter sich konnte sie einige winzig kleiner Lichter sehen, die wie vereinzelte Diamanten fun-kelten– das war der Elfenpalast, der rasch in der Ferne verschwand. Die Lichter entschwanden eines nach dem anderen, bis die Nacht sie alle verschluckt hatte.
Riesige unbewohnte Flächen Heideland glitten unter ihnen hinweg, schließlich erblickte Anita dunkelrote Berge, die aussahen wie ein wogender See aus versteinerten Schatten. Am Rand der Heidelandschaft erstreckte sich, so weit das Auge reichte, ein großer dunkler Wald.
»Wohin bringst du mich?«, fragte Anita.
»Über die Berge in ferne Gefilde«, sagte Gabriel leichthin.
Er senkte die rechte Hand, hob die linke und plötzlich verloren sie rasch an Höhe.
Anita stieß einen spitzen Schrei aus. »Nein! Nicht!«, rief sie, als die Bäume auf sie zurasten. »Bitte nicht!«
Mit den Füßen streifte sie die Blätter der oberen Äste, doch da hob Gabriel erneut die rechte Hand und ihr Fall wurde abgebremst und sie stiegen langsam wieder über die Baumwipfel. Die Sterne hingen über ihr, der Mond schaukelte am schwarzen Horizont.
»Das hast du mit Absicht gemacht, oder?«, stieß sie hervor.
»Zu Eurem Vergnügen«, sagte Gabriel lächelnd.
Etwas unsicher über seine Definition von »Vergnügen« zwang sich Anita, ruhig durchzuatmen um die aufsteigende Panik zu bekämpfen. Als sie zu Boden blickte, entdeckte sie unter sich eine Lichtung im Wald, auf der sie eckige dunkle Formen und winzige gelbe und rosafarbene Lichtquadrate ausmachen konnte. Die Häuser hatten strohgedeckte Dächer und zahlreiche Wege führten von der Siedlung in den Wald hinein- und wieder heraus.
Doch im nächsten Augenblick war das alles auch schon wieder verschwunden.
Zu ihren Füßen tauchten bewaldete Hügel auf, die schließlich in ein breites Tal übergingen. Dort lag ein großer See, in dem sich die Sterne spiegelten, so dass es aussah, als existiere dort unten noch ein weiteres Elfenreich.
Wieder raste Heideland unter ihren baumelnden Füßen hinweg. Dann entdeckte Anita einen Steinkreis, der weiß im Mondlicht leuchtete und kurz darauf eine graue Hügellandschaft mit Schafen. Sie flogen über einen schimmernden Wasserfall und dunkle Flüsse, die sich durch Ackerland und Wald schlängelten.
So flogen sie immer weiter, während der laue Abendwind über die sich ständig wandelnde Landschaft des Elfenreichs strich.
Dann wurde das Land zerklüfteter– gezackte Felsen ragten aus der Erde und tiefe Täler spalteten die Berge. Raue Felswüsten aus gesprungenem und gerissenem Stein reflektierten schwach das Mondlicht. Die Gegend unter ihnen wirkte unwirtlich und kalt auf Anita und sie schauderte beim Anblick der kahlen Landschaft.
Wieder senkte Gabriel die Hand und mit einem Mal flogen sie mitten zwischen den zerklüfteten Felsspitzen, die überall aufragten, hindurch. Anita merkte, dass sich unter ihnen im Tal etwas bewegte, und sah genauer hin. Zuerst war es nur ein verschwommener grauer Fleck, aber als sie näher kamen, wurde ihr klar, dass es sich um eine Herde Tiere mit silbrigem Fell handelte, die über den felsigen Grund galoppierten. Beim Laufen wippten ihre Mähnen und Schwänze auf und ab und ihre Hufe donnerten auf den Stein nieder.
Pferde? Nein, das waren keine Pferde. Anita betrachtete die Tiere neugierig. Dann fiel das Mondlicht auf ein spiralförmiges Horn.
»Einhörner!«, stieß sie überrascht aus.
»Fürwahr«, sagte Gabriel. »Die wilden Einhörner von Caer Liel. Diese Rasse kann man nicht zähmen.« Er stimmte leise eine Melodie an, bei der Anita ein kalter Schauer über den Rücken lief.
»Reit schnell nach Haus,
mein Kind,
die Einhörner sind hinter dir her,
Die Raben hocken auf fleckigem Fels
und lauern, wenn der Tag sich neigt,
vom Sturm geschüttelt die Straße bebt,
die Tore der Burg fall’n hinter dir zu,
die Pferde schwitzen vom langen Ritt
und dampfen im Hof,
du bist in Sicherheit, mein Kind–
du bist in Sicherheit.«
»Was ist das?«, fragte Anita. »Das klingt so traurig.«
»Das ist ein Lied, das ich als Kind gelernt habe«, entgegnete er und blickte dann wieder in die Ferne. »Seht, Mylady«, sagte er und klang mit einem Mal aufgeregt. »Die Lichter von Burg Weir, der Sitz meiner Familie und die Wiege meiner Kindheit!«
Anita starrte auf die schroffen Berge. Hoch droben auf einer steilen Klippe ragte eine große dunkle Burg mit massiven Steinwänden und hohen Zinnen auf, an denen der Zahn der Zeit genagt hatte. Eine schmale Straße lief im Zickzack den Berg hinauf zu einem befestigten Wachhäuschen, an dem rot-schwarze Flaggen wehten. Blutrote Flammen züngelten an den Wänden hoch, die von einem Wachtfeuer stammten, die unruhig im Wind flackerten. Aus den hohen Fenstern fiel Licht in die Dunkelheit.
Die Burg sah alt aus und war durch ihre Lage beinahe uneinnehmbar, dennoch war es kein romantischer Ort, sondern wirkte eher bedrohlich auf Anita.
Sie sah Gabriel an. »Wolltest du mir das zeigen? Den Ort, an dem du geboren wurdest?«
Gabriel lächelte. »Ein Anblick, der sich lohnt, wie ich finde. Die Burg von Weir mag von außen vielleicht düster aussehen, Mylady, aber innen erwarten einen stets ein herzlicher Empfang und Tafelfreuden.«
»Gehen wir hinein, damit ich deine Familie kennenlernen kann?«
Gabriel schüttelte den Kopf. »Nein, Mylady, das ist nicht möglich, da es meine bescheidenen Kräfte nicht vermögen.«
»Wie bitte? Was meinst du damit?«
»Das«, sagte Gabriel und plötzlich spürte sie wieder festen Boden unter den Füßen und befand sich mitten in der Großen Halle– um sie herum tanzten die Schlossbewohner ausgelassen zur Musik.
»Oh!« Sie stolperte und wäre fast hingefallen. Nur Gabriels Hände bewahrten sie davor, der Länge nach auf den Tanzboden zu stürzen.
Sie blickte benommen in seine Augen– silbern und schwarz. Jetzt erst konnte sie ihren Blick abwenden und es schien, als entließen seine Augen sie aus einer seltsamen Verzauberung.
Er führte sie von der Tanzfläche. Sie lächelte ihn dankbar an und ließ sich auf einen Stuhl sinken, während sie langsam wieder zu sich kam. »Vielen Dank«, sagte sie. »Das war ja vielleicht ein irrer Zauber!«
Er verbeugte sich und küsste ihre Hand. »Es war mir ein Vergnügen«, sagte er. »Und nun darf ich mich empfehlen– ich möchte Euch nicht länger mit Beschlag belegen, denn es gibt noch viele andere, die mit Euch zu tanzen wünschen.« Er richtete sich auf und verschwand mit einem Lächeln in der Menge.
Anita starrte ihm versonnen nach, noch immer das Sternenlicht vor Augen, das Säuseln des Windes in den Ohren.
»Abgefahren…«, hauchte sie. »Echt abgefahren.«