XIII
Tania rappelte sich auf und starrte die Frau an. Auch wenn die Gesichtszüge der Frau wutverzerrt waren, bemerkte sie die Ähnlichkeit zu Oberon sofort– dies musste ihre älteste Schwester sein.
Sie hielt abwehrend die Hände hoch. »Eden, halt!«
»Du Närrin!«, stieß Eden hervor. »Was machst du hier? Das Pirolglas ist gefährlich.«
»Was meinst du damit?«
»Es ist ein Portal in die Welt der Sterblichen.« Eden wandte sich zum Fenster und machte eine weite Armbewegung. Sofort erlosch das Regenbogenlicht und der Raum wurde wieder grau.
»Jetzt ist es wieder zu«, sagte Eden. »Die Gefahr ist gebannt.«
»Aber ich soll doch angeblich zwischen den Welten wandeln können«, sagte Tania. »So steht es in dem Gedicht. Denn ich bin schließlich die siebte Tochter, nicht?« Sie lies ihre Schwester nicht aus den Augen und wartet gespannt auf ihre Reaktion. »Darum bin ich zu dir gekommen. Ich muss unbedingt wissen, wie ich meine Gabe kontrollieren kann. Kannst du mir das beibringen?«
Eden blickte sie an. Sie stand jetzt genau vor ihr, sodass Tania den Schmerz in ihren dunkelbraunen Augen sehen konnte.
»Niemals«, sagte Eden.
Tania trat einen Schritt auf sie zu, aber Eden wich rasch zurück, als wolle sie jede Berührung vermeiden.
»Ich muss meinen Eltern sagen, dass es mir gut geht«, bat Tania. »Sie sind bestimmt außer sich vor Sorge.« Sie blickte Eden fest entschlossen an. »Du musst mir helfen«, sagte sie. »Ich gehe hier nicht weg, ehe du’s tust.«
Edens Augen blitzten auf.
Oh-oh, dachte Tania. Das war falsch. Das hätte ich nicht sagen sollen.
Eden streckte den Arm aus und plötzlich schien Tania gegen eine unsichtbare Wand zu prallen und etwas wickelte sich um sie herum, sodass sie sich nicht mehr rühren konnte und kaum noch Luft bekam.
Tania spürte, wie sie vom Boden hochgehoben wurde. »Eden«, röchelte sie. »Nicht…«
Auf eine Handbewegung Edens hin wurde Tania durch die Luft gewirbelt, und ohne dass sie etwas dagegen tun konnte, flog sie durch die graue Tür in die Diele hinaus bis in den Hof.
Mit einem dumpfen Knall fiel die schwarze Tür hinter ihr ins Schloss. Tania schwebte noch einen kurzen Augenblick reglos in der Luft, bevor sie zu Boden fiel und so unsanft auf Händen und Knien aufkam, dass ihr die Luft wegblieb.
Dann rappelte sie sich auf und lief zurück zur Tür.
»Eden!«, rief sie und hämmerte mit beiden Fäusten gegen das Holz. »Du musst mich wieder reinlassen!«
Doch diesmal ließ sich die Tür nicht öffnen. Egal, wie sehr sie sich gegen die schwarze Tür warf, sie blieb fest geschlossen.
Tania setzte sich schließlich auf die oberste Treppenstufe. Nach einem letzten verzweifelten Klopfen an die Tür sank sie zusammen und verbarg das Gesicht in den Händen. Ohne Edens Hilfe würde sie wohl nie lernen, ihre Gabe zu kontrollieren, und ihre Eltern möglicherweise niemals wiedersehen.
Nach einer Weile jedoch schöpfte sie neuen Mut, erhob sich und rannte um den Turm herum zum Fenster. Sie starrte ins Innere, aber der Raum war leer– Eden war weg.
»Na, das hat du ja super hingekriegt, Tania«, sagte sie leise zu sich selbst. »Voll vergeigt.«
Sie machte kehrt und ging zurück in den Hof.
Unter dem Torbogen, der in die Gartenanlage führte, stand eine Gestalt mit gebauschtem schwarzem Umhang. Als die Person näher kam und ins Licht trat, erkannte sie Gabriel Drake.
»Hast du mich erschreckt!«, stieß Tania hervor.
»Du hättest nicht an diesen traurigen Ort kommen sollen«, sagte Gabriel sanft.
Tania zuckte mit den Schultern. »Ich dachte, Eden könnte mir vielleicht dabei helfen, Kontakt mit meinen Eltern aufzunehmen«, erklärte sie. »Mit meinen sterblichen Eltern, meine ich.«
»Komm, wir wollen diesen Ort verlassen«, sagte Gabriel.
Tania ließ sich von ihm aus dem Hof führen.
»Ich verstehe deinen Wunsch, das Leiden derer, die du zurückgelassen hast, zu lindern«, fuhr Gabriel fort. »Doch was du anstrebst, ist gefährlich.«
»Du meinst, du weißt, warum ich meine Eltern sehen will, aber du hältst es für keine Superidee, ja?«
Gabriel runzelte die Stirn. »Nein, es ist keine Superidee«, wiederholte er langsam. Er zögerte kurz, dann sprach er weiter. »Du weißt, dass ich es gut mit dir meine. Ich bin dein Freund.«
Sie berührte ihn am Arm. »Ja, natürlich.«
»Dann hör mir zu. Du solltest Prinzessin Eden nicht um Hilfe bitten– sie ist seelisch angeschlagen. Ich weiß nicht, wie es so weit kommen konnte, vielleicht hat der Tod der Königin ihr das Herz gebrochen. Ich fürchte jedoch, dass die Beschäftigung mit den Mystischen Künsten sie um den Verstand gebracht hat.«
Tania sah ihn ernst an. »Das kann passieren? Können die Mystischen Künste einen tatsächlich verrückt werden lassen?«
»Es gibt eine Redensart«, sagte Gabriel. »Wage dich nicht so tief in die Drachenhöhle, dass du hinter dir das Licht nicht mehr sehen kannst.«
»Oh«, sagte Tania und biss sich auf die Unterlippe. »Und du denkst, dass Eden sich zu tief in die Drachenhöhle gewagt hat und quasi vom Drachen… gefressen wurde, ja?«
»Prinzessin Eden hat sich weit vom Licht entfernt«, sagte Gabriel. »Ich möchte nicht, dass du ihr auf diesem schrecklichen Weg folgst.«
»Verstehe.« Tania seufzte. »Ach, ich weiß nicht, was ich tun soll, Gabriel«, sagte sie. »Ich bin so durcheinander, ich weiß gar nicht mehr, wie mir geschieht. Zu Hause war mein Leben in Ordnung– aber hier?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Ahnung, wer ich bin oder was ich mit meinem Leben anfangen soll.« Sie runzelte die Stirn. »Ich weiß nur sicher, dass ich meine Eltern sehen muss– und wenn es das letzte Mal ist.« Sie sah ihn flehend an. »Bitte!«
»Ich weiß, dass es nicht leicht für dich ist«, sagte er voller Mitgefühl. »Doch du bist die Elfenprinzessin Tania– das ist die unabänderliche Wahrheit. Das Mädchen, das du in der Welt der Sterblichen warst, existiert nun nicht mehr. Vertrau mir, Tania– ich möchte dir nur helfen: Trauere nicht um das, was verloren ist. Vergiss besser die Welt der Sterblichen.« Er sah sie eindringlich an. »Hier im Elfenreich sind die, die dich lieben und dich schon immer geliebt haben. Kehre der Vergangenheit den Rücken zu, Tania, und akzeptiere, dass du hier die Pflichten einer Prinzessin zu erfüllen hast.«
»Was meinst du damit?«, fragte sie. »Und was für Pflichten? Mir war nicht bewusst, das ich hier welche habe.«
»Dann erfahre mehr über dein Erbe«, sagte er. »Entdecke, wer du bist, und strebe danach, das Elfenreich besser kennenzulernen.«
»Aber wie?«
»Deine Schwester Sancha mag die Antworten kennen«, sagte er. »Jeden Tag stöbert sie in alten Texten, dadurch verfügt sie über viel Weisheit. Geh in die Bibliothek und sprich mit ihr.« Er blieb stehen, legte ihr die Hände auf die Schultern und blickte ihr tief in die Augen. Ohne dass sie es gemerkt hatte, hatte er sie den ganzen Weg bis zu ihrem Schlafgemach begleitet.
»Ich muss dich jetzt verlassen, Tania«, sagte er. »Doch höre auf meine Worte: Bitte Prinzessin Eden nicht noch einmal um Hilfe. Ich möchte nicht, dass du von der Schlange ihrer Unvernunft vergiftet wirst.«
Er verneigte sich kurz und hauchte ihr einen sanften Kuss auf die Hand, ehe er auf dem Absatz kehrtmachte und mit großen Schritten davoneilte.
Tania sah ihm nach und widerstand dem plötzlichen Drang, ihm nachzulaufen.
Schließlich ging sie in ihr Zimmer und schloss die Tür. Sie grübelte darüber nach, was sie jetzt tun sollte– vielleicht hatte Gabriel ja Recht und Eden war wirklich nicht die Richtige, um ihr zu helfen.
»Aber ich werde trotzdem nicht aufgeben, meine Eltern zu suchen«, sagte sie laut. »Egal, was die anderen sagen.« Sie zog ihr Buch unter dem Kissen hervor. Sie würde mit Sancha reden und ihr das Lederbuch zeigen. Vielleicht konnte ihre kluge Schwester Licht in die Angelegenheit bringen und herausfinden, woher das Buch gekommen war oder wer es ihr geschickt hatte.
Sie fand Sancha in der Bibliothek, wo sie allein an ihrem Tisch saß, vor sich ein großes aufgeschlagenes Buch. Die elfenbeinfarbenen Seiten wurden von zarten, kunstvoll ineinander verschlungenen, leuchtend grünen, roten und gelben Linien eingerahmt. Der Text war mit leuchtendblauer Tinte geschrieben und an jedem Kapitelanfang war die Initiale mit filigranen Ranken, Blättern und Blumen verziert.
Über Sanchas Schulter gebeugt las Tania ein paar Worte.
Wir sind alle noch hier, niemand ist fortgegangen…
»Hallo«, sagte Tania. »Störe ich dich bei der Arbeit?«
Sancha lächelte sie an. »Nein, gar nicht«, sagte sie. »Ich lese gerade das Tagebuch des Grafen Marschall Cornelius über die Kriege bei Lyonesse. Geht es dir gut, Tania? Ich war in Sorge, als du gestern Abend beim Essen so schnell weggerannt bist. Wir wollten dir folgen und dich trösten, aber Gabriel sagte, es wäre klüger, dich allein zu lassen. Was war denn geschehen?«
»Ach, du weißt schon.« Tania zuckte unbestimmt die Achseln. »Halt so.«
Sancha sah verwirrt aus. »Halt so?«
Tania zeigt ihrer Schwester das Buch. »Ich dachte, du könntest mir vielleicht hierüber etwas erzählen«, sagte sie.
Verblüfft blickte Sancha das Buch an. »Sonne, Mond und Sterne!«, stieß sie aus. »Woher stammt es? Wie ist es in deinen Besitz gelangt?«
»Gute Frage«, sagte Tania. »Irgendwie hatte ich gehofft, du könntest mir das sagen.« Sie lächelte. »Ich gehe mal davon aus, du weißt, was es ist?«
»Es ist dein Seelenbuch«, sagte Sancha und streckte ihre Hand danach aus, zog sie jedoch gleich wieder zurück, ohne das Buch zu berühren. »Es fehlt seit Jahrhunderten.« Sie sah Tania an. »Es war also die ganze Zeit in deiner Obhut?«
»Nein, ich habe es vor ein paar Tagen das erste Mal gesehen«, erklärte Tania. »Ich habe es an meinem Geburtstag zugeschickt bekommen. Ohne Absender, ohne Brief, nichts.« Sie runzelte die Stirn. »Was ist ein Seelenbuch?«
»Komm«, sagte Sancha. »Nimm das Buch. Ich zeige dir, wohin es gehört.« Sie stand auf und durch eine fast unmerkliche Handbewegung ihrerseits schloss sich das Buch, indem sie gerade gelesen hatte. Erstaunt beobachtete Tania, wie es zu schweben begann, kurz über dem Tisch verharrte, bevor es durch die Bibliothek glitt, sich langsam in der Luft drehte und in eine Lücke in einem der Bücherregale schlüpfte.
Sancha war schon vorausgeeilt. Vom anderen Ende der Bibliothek aus drehte sie sich nach Tania um. »Kommst du?«, fragte sie.
Tania staunte. »Ist das deine Gabe?«, wollte sie wissen. »Du kannst Gegenstände bewegen, ohne sie zu berühren?«
Sancha lächelte. »Fürwahr«, sagte sie. »Äußerst nützlich, nicht wahr, für jemand, der sein Leben zwischen all diesen schweren Wälzern verbringt.«
»Haben wir denn alle eine Gabe?«, fragte Tania, die ihr Buch nahm und zu ihrer Schwester ging. »Ich weiß, dass Cordelia die Sprache der Tiere verstehen kann– aber was ist mit Zara und den anderen? Was ist ihr Talent?«
»Zaras Gabe ist die Musik«, sagte Sancha. »Sie kann uns alle durch ihre Musik verzaubern. Sie bringt sogar die Sterne zum weinen!« Sie lächelte. »Hopie ist eine Heilerin«, fuhr sie fort, dann veränderte sich ihr Ton. »Und Eden hat eine große Begabung für die Mystischen Künste.«
»Und was ist mit Rathina?«
»Ihre Gabe hat sich noch nicht gezeigt«, sagte Sancha. »Doch sie ist erst siebzehn. Die Gabe offenbart sich meist im Laufe des sechzehnten Lebensjahres, manchmal aber auch erst später. Rathina hat folglich noch Zeit, ihre zu entdecken.«
Sancha führte Tania über den schwarz-weißen Boden zu einer Wendeltreppe aus Holz. Sie stiegen bis zur vierten und letzten Galerie hinauf, die hoch über dem Boden gelegen war. Überall roch es nach Leder und altem Papier, Staub kreiste im goldenen Sonnenlicht, das durch die hohen Fenster fiel. Hier oben, ganz dicht unter der Kuppeldecke, war es ganz still, und Tania hätte am liebsten den Atem angehalten und sich nur auf Zehenspitzen bewegt, um die feierliche Stimmung nicht zu stören.
Sie beugte sich über die Balustrade und blickte hinunter, doch je länger sie das spiralförmige Muster des Geländers ansah, desto schneller schien es sich zu drehen. Schnell wandte Tania den Blick ab.
Sancha betrat eine kleine Nische mit gepolsterten Lederbänken. Darin stand ein geschnitztes Lesepult in der Form eines Adlers unter einem Fenster. Die Regale waren vollgestellt mit Büchern. Sancha zeigte auf eine Lücke zwischen zwei Bänden.
»Hier müsste eigentlich dein Seelenbuch stehen«, sagte sie. »Zwischen dem Seelenbuch von Zara und dem von Graf Marschall Cornelius von Talebolion.« Sie sah Tania an. »Er ist unser Oheim, der jüngere Bruder unseres geliebten Vaters. Siehst du? Die Bücher stehen in der Rangfolge– alle Mitglieder der königlichen Familie haben Seelenbücher, in denen ihre Lebensgeschichte erzählt wird. Deines war kurz nach deinem Übertritt in die Welt der Sterblichen verschwunden. Einige dachten, du hättest es mitgenommen, aber Rathina meinte, das wäre nicht der Fall.« Sancha runzelte die Stirn. »Ist das Buch zu dir gelangt, während du noch in der Welt der Sterblichen weiltest?«
Tania nickte.
»Aber du weißt nicht, von wem es kam?«
»Ich habe keine Ahnung«, gab Tania zu. »Ich habe schon ein bisschen darin gelesen, aber die Geschichte endet mit meinem Verschwinden, und es ist nirgends eine Erklärung zu finden, was genau passiert ist.«
»Jetzt, da das Buch wieder aufgetaucht ist, wird deine Lebensgeschichte weitererzählt werden », sagte Sancha.
»Bitte?«, sagte Tania. »Kannst du das noch mal wiederholen?«
Sancha sah sie blinzelnd an. »Das Buch gehört hierher. Jetzt, da es zurückgebracht wurde, werden neue Worte auf den Seiten erscheinen.«
»Ach ja?«, sagte Tania. »Wie das? Wer schreibt sie denn?«
»Das Buch schreibt sich selbst.«
»Du meinst also, die Geschichte wird jetzt, wo das Buch zurück ist, fortgesetzt?«, erkundigte sich Tania. »Das ist ja echt erstaunlich. Darf ich noch mal reingucken?«
Sancha nickte und deutete auf das Pult. »Leg es dort hin und du wirst sehen, was geschieht.«
Tania schlug das Buch auf dem Pult auf und blätterte bis zu der Stelle, wo ihre Lebensgeschichte bisher abrupt geendet hatte. »Oh, wow!« Sancha hatte Recht. Da stand bereits mehr als vorher.
Sie folgte mit dem Finger der neuen Schnörkelschrift, während sie laut las, was da stand.
»König Oberon und sein ganzes Königreich erfüllte große Freude über die Rückkehr von Prinzessin Tania nach den fünfhundert Jahren der Trauer«, trug sie vor. »Die trostlose Nacht verwandelte sich in herrlichsten Tag und alle waren lustig und vergnügt und kehrten dankbar zum Palast zurück, um die lange verschollene Prinzessin zu bewundern.«
Tania blätterte weiter. Sie brannte darauf herauszufinden, was zwischen ihrem Verschwinden aus dem Elfenreich und ihrer Geburt als Anita Palmer vor sechzehn Jahren geschehen war. Aber die letzten Seiten beschrieben lediglich die vergangenen Tage im Elfenreich.
Enttäuscht blätterte Tania wieder zum ursprünglichen Schluss zurück. »Da steht nichts darüber drin, was mit mir nach meinem Verschwinden passiert ist«, sagte sie. »Es fehlen fünfhundert Jahre!«
»Es könnte sein, dass nur aufgeschrieben wird, was in diesem Reich geschieht«, sagte Sancha.
»Das heißt ja, dass ich nicht weiß was in der Zwischenzeit in meiner Welt, ich meine, der Welt der Sterblichen passiert ist«, sagte Tania. »Na, toll!« Sie sah Sancha an. »Wie soll ich denn jemals herausfinden, wer ich bin, ohne zu wissen, was mit mir in den letzten fünfhundert Jahren gewesen ist?«, sagte sie niedergeschlagen. »Sancha, ich bin erst sechzehn, das beweist meine Geburtsurkunde. Das ergibt eine Differenz von vierhundertvierundachtzig Jahren, von denen ich nichts weiß. Gibt es nicht irgendeinen Weg herauszubekommen, was davor war?«
Sancha bedachte sie mit einem nervösen Blick. »Doch, es gibt vielleicht einen Weg.«
»Was muss ich tun?«
»Wenn du seelisch stark genug bist, kann ich vielleicht in Erfahrung bringen, was dir widerfahren ist«, sagte Sancha. »Doch es ist gefährlich.«
»Das Risiko gehe ich ein«, sagte Tania.
»Mag sein, doch ich bringe uns beide in Gefahr«, sagte Sancha.
»Oh.« Tania runzelte die Stirn. »Ist es wirklich so riskant?«
»Ja, fürwahr«, sagte Sancha. Ihre dunklen Augen blickten düster. »Das Seelenbuch gehört zwar ins Elfenreich, aber deine Seele ist zwischen diesem Reich und der Welt der Sterblichen gespalten. Es mag sein, dass ich mithilfe des Buches fähig bin, die zwei Hälften deiner Seele zusammenzubringen. Dann erfährst du vielleicht die verloren gegangenen Geheimnisse deiner sterblichen Vergangenheit.«
»Könnte ich es nicht allein probieren?«, wollte Tania wissen.
Sancha schüttelte den Kopf. »Nicht solange deine Seele gespalten ist«, sagte sie. »Doch ich werde dir helfen, Tania. Komm, nimm meine Hand und wir werden sehen, was geschieht.«
Sancha ergriff Tanias Hand, dann legte sie die andere Hand auf das Buch, ohne es anzusehen.
»Was auch geschieht, du darfst das Band nicht lösen«, sagte Sancha und schloss die Augen.
Eine ganze Weile passierte nichts. Tania musterte das Gesicht ihrer Schwester und wartete auf ein Zeichen, dass diese in Tanias vergangenes sterbliches Leben sehen konnte. Doch abgesehen davon, dass Sanchas Atem immer gleichmäßiger wurde, geschah nichts.
Tania wollte gerade vorschlagen, den Versuch aufzugeben, als Sancha zu flüstern begann.
»Schwäne fliegen über korallenrote Dächer«, murmelte sie. »Ineinander verschlungen mit Spitze und taubenblauen Bändern… die Augen gen Himmel gewandt, die Gesichter blass…«
»Sancha?«
»…das majestätische Rauschen des eisblauen Meeres… und hoch aufragende Klippen…« Sanchas Stimme war jetzt ein tiefer, melodischer Singsang, aber Tania verstand kein einziges Wort von dem, was sie sagte, »…verlockt von fernen dunklen Höhlen, um zu wandeln in bösen Tiefen…« Dann verkrampfte Sancha sich plötzlich und grub die Fingernägel in Tanias Hand.
»Ah! Das ist fürwahr ein gefährlicher Ort«, sagte sie leise. »Dort lauern Krankheit, Tod, Laster und Verderbtheit.« Sie verzog schmerzlich das Gesicht und ihre Stimme wurde lauter, sie klang nun ängstlich. Die Bücherseiten unter Sanchas Hand begannen rot zu glühen, als würde das Papier glimmen und gleich in Flammen aufgehen. Dünner Rauch stieg zwischen ihren Fingern auf. Tania bereitete sich darauf vor, ihre Schwester von dem Buch wegzuziehen und dem Ganzen ein Ende zu setzen, ganz egal, was Sancha gesagt hatte.
»Welch schrecklicher Ort«, sagte Sancha mit schwacher Stimme. »Ich bin nicht Tania. Ich bin Tania. Ich bin es nicht. Ich bin. Oh, Engel des Erbarmens, verteidigt mich! Ich liege in einem kleinen dunklen Raum in einer armseligen Hütte, in einem Bett mit schmutzigen Decken– oh, welch Gestank, es ist unerträglich– am Boden liegt schmutziges Stroh– ich bin krank, schwer krank– und ich habe Schmerzen, starke Schmerzen.« Sanchas Kopf rollte von einer Seite zur anderen. »Menschen beugen sich über mich– aber in ihren Gesichtern sehe ich keine Hoffnung– ich sterbe– welch grauenhaftes Gefühl, wie das Leben aus mir entweicht– ich habe eine furchtbare, schreckliche Krankheit– eine tödliche Krankheit– ich bin sterblich.« Sancha schrie panisch auf. »Ich sterbe!«