XVIII

Tania wich vor ihrer Schwester zurück und umklammerte mit beiden Händen das Schwert. Sie hatte gesehen, wie leicht Eden mit der Wache fertig geworden war– durch eine bloße Berührung hatte ihre Schwester ihn in einem Schlafzustand versetzt. Wenn Eden so etwas bei ihr versuchen wollte, würde sie erst an dem Schwert vorbeikommen müssen.

»Aber ich habe gedacht, sie sei ertrunken«, sagte Tania voller Unbehagen.

»Nein, das ist sie nicht«, erwiderte Eden seufzend und nahm die Kapuze ab. Tania stockte der Atem: Edens langes, dichtes Haar war schlohweiß. »Fürchte dich nicht, Tania«, bat sie. »Ich wollte unserer Mutter nichts antun– und ich lebe seit fünfhundert Jahren mit der Schuld.«

»Was ist denn geschehen?«

»Die Königin und ich haben nach deinem Verschwinden lange mit Rathina gesprochen«, sagte Eden. »Du hast in jener Nacht ein törichtes und gefährliches Spiel getrieben, Tania. Wir vermuteten, dass du in die Welt der Sterblichen hinübergegangen warst– und dass du nicht mehr zurückgefunden hast.« Sie runzelte die Stirn. »Du hättest nie versuchen sollen, zwischen den Welten zu wandeln, ohne dir vorher Rat zu holen. Solche Unterfangen sind gefährlich.«

»Ja, jetzt ist mir das auch klar«, sagte Tania. »Schade, dass mir das damals keiner gesagt hat.«

»Ja.« Eden seufzte. »Wie waren nachlässig. Dabei hätte ich es besser wissen müssen– du warst ein sehr impulsives und eigensinniges Kind.«

»Weiter«, drängte Tania.

»Unsere Mutter hegte den Wunsch, dir in die Welt der Sterblichen zu folgen. Doch der König hatte es verboten, aus Angst, noch ein Familienmitglied zu verlieren. Und so kam die Königin zu mir, heimlich, weil sie wusste, dass ich in den Mystischen Künsten geübt war. Zuerst habe ich mich geweigert. Doch die Königin blieb hartnäckig und schließlich gab ich nach.« Sie schloss die Augen. »Ich habe die Geister des Pirolglases herbeigerufen und einen Anhänger aus Bernstein geformt, den die Königin tragen sollte. Ich wusste, solange sie ihn um den Hals trug, wäre ich in der Lage, sie zurückzuholen. Ich bat sie ein letztes Mal, nicht zu gehen, aber sie wollte nicht hören. Sie trat ins Licht und war verschwunden.« Eden schlug die Hände vors Gesicht. »Ich hörte sie schreien, und als das Licht erlosch, sah ich, dass der Bernstein– das schützende Amulett– ihr vom Hals gefallen war und zu meinen Füßen am Boden lag.«

»Was hast du getan?«, flüsterte Tania.

»Viele Male habe ich das Portal geöffnet, in der vergeblichen Hoffnung, unsere Mutter wäre vielleicht in der Lage, den Heimweg zu finden«, sagte sie. »Aber dem war nicht so. Sie ist fürwahr verloren und ich fürchte, dass sie bei dem Versuch, dich zu finden, vernichtet wurde.« Sie holte schaudernd Luft. »Ich fürchtete den Zorn des Königs, deshalb habe ich die Geschichte von dem Bootsunfall erfunden. Und seit jenem Tag, als die grenzenlose Trauer unseres Vaters die Zeit stehen bleiben ließ, schwor ich für immer meinen ganzen Künsten ab. Dabei wäre es sicher auch geblieben, wäre mich Gabriel Drake nicht erpresst hätte.«

»Schon wieder Gabriel!«, murmelte Tania. »Was hat er damals getan?«

»Er erriet die Wahrheit über den Tod unserer Mutter– vermutlich aufgrund meiner Entscheidung, den Mystischen Künsten zu entsagen. Ich hatte ja keine Ahnung von seinen finsteren Ambitionen, als er kam und mich darum bat, das Pirolglas zu öffnen. Ich wusste lediglich, dass er dich unbedingt finden und zurückbringen wollte. Damals dachte ich noch, er handle aus Liebe– trotzdem habe ich mich geweigert, ihm zu helfen. Da drohte er, dem König die Wahrheit zu offenbaren, wenn ich nicht täte, worum er mich gebeten habe– und so habe ich nachgegeben. Doch selbst dann weigerte ich mich noch, direkt für ihn zu arbeiten. Ich zeigte ihm nur, wie man das Pirolfenster öffnet und die schützenden Anhänger formt.« Sie fröstelte. »Dann wartete er, geduldig wie eine Spinne in ihrem Netz, beobachtete alles und brütete die trostlosen langen Jahre hindurch, bis er dich schließlich fand und seinen Diener durch das Glas sandte, um dich zurückzubringen.«

Tania stieß langsam die Luft aus, die sie angehalten hatte. »Er ist unglaublich machtbesessen, nicht?«, sagte sie leise. »Er würde alles tun, um zu bekommen, was er will!« Sie presste das Schwert an sich, das sie in ihren verbundenen Fingern hielt. »Aber damit wird er nicht durchkommen«, schwor sie. Sie blickte Eden an, die sehr blass war– jemandem ihr quälendes Geheimnis anzuvertrauen, hatte sie sichtlich mitgenommen.

»Zeig mir, wo ich Edric finde«, sagte Tania. »Lass uns das Ganze hinter uns bringen.«

Eden nickte und führte sie weiter den düsteren Gang entlang, bis sie zu einer glänzenden Tür aus schwarzem Stein kamen.

»Das ist das Adamantin-Tor«, sagte Eden. »Hinter dieser Pforte wirst du finden, was du suchst.« Sie sah Tania an. »Doch es ist mit tödlichen Flüchen belegt und man kann es nur öffnen, wenn man die Sprüche der Macht und des Schutzes kennt. Ich habe die Tür noch nie öffnen müssen, aber ich glaube, ich kenne die Worte.« Sie trat näher und begann, etwas zu murmeln.

Tania stand neben ihrer Schwester und beobachtete sie. Mehrere Minuten schienen zu verstreichen, ohne dass die Tür sich öffnete. Tania biss sich auf die Lippe. Je länger es dauerte, desto wahrscheinlicher war es, dass Gabriel oder seine Wachen sie fanden.

Edens Stimme wurde lauter– Tania konnte ihren seltsamen Singsang jedoch nicht verstehen. Dann vollführte Eden mit beiden Händen eine Bewegung in Richtung Tür und der Boden erbebte, doch die Tür blieb zu.

»Ich fürchte, Gabriel Drake hat die Tür mit einem mächtigeren Schließzauber belegt«, sagte Eden. »Ich habe die Mystischen Künste seit Jahren nicht mehr praktiziert, ich werde mehr Zeit brauchen.«

»Wir haben es eilig und können keine Minute mehr warten«, sagte Tania und blickte die Tür wütend an. »Könntest du bitte aus dem Weg gehen? Dann wollen wir doch mal sehen, was dieses Schwert aus Isenmort ausrichten kann!«

Eden trat zur Seite. Tania stellte sich breitbeinig hin und schwang das Schwert mit beiden Händen hoch über den Kopf.

»Drei– zwei– eins– los!«, rief sie und ließ das Schwert auf die schwarze Tür niedersausen. Die Klinge glitt klirrend ab und Wellen des Schmerzes schossen durch ihren Arm. Sie schrie auf.

Ein Geruch nach fauligen Eiern breitete sich aus und eine schwarze Rauchfahne steig auf, doch die Tür öffnete sich.

Entsetzt starrte Eden mit großen Augen in die gähnende Schwärze.

»Los, gehen wir«, sagte Tania und trat über die Schwelle.

Doch Eden rührte sich nicht.

Tania warf einen Blick zu ihr zurück. »Was ist los?«

»Dieser Ort ist unheilvoll– ich kann nicht hinein«, sagte Eden. »Aber ich werde den Eingang bewachen und dafür sorgen, dass niemand dir folgt.« Sie sah Tania an. »Aber pass auf: Vielleicht gibt es drinnen auch Wachen.« Ihre Stimme wurde schärfer. »Los, geschwind!«

Tania nickte. »Es wird nicht lange dauern.« Sie spähte in die gähnende Schwärze hinter der offenen Tür. »Kann ich mir deine Laterne ausborgen?«

»Ja, natürlich. Möge es dir gut ergehen.«

Tania nahm die Laterne.

»Dann wollen wir mal«, sagte sie leise. Sie hielt die Laterne in der linken Hand, mit der Rechten umklammerte sie das Schwert.

Eiskalte Luft schlug ihr entgegen. Sie bemühte sich, den säuerlichen Gestank zu ignorieren. Wenn dieser schreckliche Geruch das Schlimmste war, was ihr hier unten begegnete, konnte sie sich wirklich glücklich schätzen.

»So weit, so gut«, rief sie zurück zu Eden, aber es kam keine Antwort.

Tania drang tiefer in das Verlies ein. Das Licht der Laterne glitt über die feuchten, tropfenden Wände aus schwarzem Stein. Der Gang war inzwischen so niedrig, dass es fast unmöglich war aufrecht zu gehen.

Der Weg endete in einem kleinen kreisrunden Gewölbe. Von hier aus gingen in alle Himmelsrichtungen weitere Gänge ab. Tania schlotterte vor Kälte und wählte willkürlich einen von ihnen aus.

Doch dann zögerte sie– sie hatte keine Ahnung, wo sie gerade war, und sie wollte sich nicht verirren. Also musste sie dafür sorgen, dass sie wieder zurückfand: Sie musste Markierungen hinterlassen. Sie stellte die Laterne ab und ritzte mit der Schwertspitze einen Pfeil in den Stein.

Der neue Gang war breiter und höher als der erste. In die Wände waren dunkle Nischen eingelassen. Als Tania sich einer der schulterbreiten Einbuchtungen näherte, sah sie, dass darin eine große schwarze Kugel bewegungslos in der Luft schwebte.

Die riesige Kugel war mit Schmutz und Spinnweben überzogen. Als Tania einen weiteren Schritt darauf zumachte, bemerkte sie ein fahles gelbliches Licht, das aus dem Inneren der Kugel zu kommen schien. Sie starrte hinein und entdeckte, dass unter der Schmutzkruste ein Mann kauerte– er war wie erstarrt.

Entsetzt wich Tania zurück. Die schwarze Kugel war ein Bernsteingefängnis. Wie lange war es hier wohl schon? Jahre? Jahrhunderte? Welches Verbrechen hatte der Mann begangen, das so eine schreckliche Strafe rechtfertigte?

Schaudernd setzte Tania ihren Weg durch den Gang fort. Zu ihrer Erleichterung waren viele der dunklen Nischen leer, dennoch enthielten viele– zu viele– von ihnen Bernsteingefängnisse, die dort in der schauerlichen Stille vor sich hin moderten.

Tania kam erneut zu einer Weggabelung. Sie kaute auf ihrer Unterlippe und starrte angestrengt in die schwarzen Tunnelöffnungen. Das Verlies war riesig– wie sollte sie Edric hier finden?

»Ich muss ihn finden«, murmelte sie laut. »Ich werde so lange suchen, bis ich ihn gefunden habe, etwas anderes bleibt mir gar nicht übrig.«

Sie wählte einen Gang, ritzte wieder einen Pfeil in den Stein und setzte ihre Suche fort.

Nicht alle Bernsteingefängnisse waren im selben Zustand. Einige waren pechschwarz, in anderen leuchtete es noch– und gelegentlich kam sie an einem vorbei, in dem der Gefangene noch als Schattenriss zu erkennen war. Das waren die schlimmsten, denn im orangefarbenen Licht konnte sie die gequälten Gesichter der Opfer erkennen, die sie mit leeren Augen ansahen. Tania ging dazu über, diese Kugeln lieber nicht allzu genau zu betrachten. Sie warf nur einen flüchtigen Blick in die Nischen, um sicherzugehen, dass Edric nicht darin saß– dann ging sie tiefer in die Dunkelheit, immer weiter und weiter

Wie lange bin ich jetzt wohl schon hier?, dachte sie und hielt einen Moment inne. Minuten? Stunden? Hier unten verlor man jegliches Zeitgefühl. Ihre Arme schmerzte vom Tragen der Laterne und des Schwerts. Sie war bis auf die Knochen durchgefroren und ihre Beine zitterten vor Erschöpfung. Wenn es noch lange dauerte, würde sie irgendwann einfach zusammenbrechen.

»Edric!«, rief sie, aber ihre Stimme wurde von der Dunkelheit verschluckt. »Edric– wo bist du?«

und Julia ist meine Sonne

»Ach, ich wünschte, ich wäre es«, murmelte sie. »Hier unten könnte ich ganz gut etwas Sonnenlicht gebrauchen.« Sie umklammerte das Schwert mit festerem Griff und marschierte einen weiteren modrigen Gang entlang.

Sie zählte ihre Schritte um ein Gefühl für den zurückgelegten Weg zu bekommen. Hundert Schritte. Zweihundert. Noch eine Kreuzung. Noch ein eingeritzter Pfeil. Ein neuer Gang. Hundert. Zweihundert.

Schließlich stolperte sie nur noch mutlos voran– sie war so müde und ihre Beine waren bleischwer. Doch mit einem Mal bemerkte sie vor sich ein bernsteinfarbenes Glühen, das heller war als das aller anderen Kugeln bisher.

Edric? Bitte lass es Edric sein.

Mit klopfendem Herzen rannte sie darauf zu.

Das Licht drang aus einer der Nischen. Tania, die kaum zu hoffen wagte, sie könnte ihn zu guter Letzt doch gefunden haben, spähte um die Ecke. Die Bernsteinkugel leuchtete so hell, dass sie ihren Blick rasch abwenden musset, aber sie sah genug, um das Gesicht zu erkennen: Es war Edric.

»Geschafft!«, flüsterte sie.

Tania stellte die Laterne auf den Boden und streckte die linke Hand vorsichtig nach der fließenden gelben Oberfläche aus, doch der Bernstein war inzwischen abgekühlt. Sie legte ihre Hand auf die Kugel und schaute Edric direkt ins Gesicht.

»Ich habe dich gefunden!«, murmelte sie. »Ich wusste doch, dass ich es schaffen würde!«

Sie trat von der Kugel weg und nahm das Schwert in beide Hände.

»Wie soll ich das nur machen, ohne dich zu verletzen?«, sagte sie laut.

Doch da bemerkte sie ein neues Licht– ein rotes Flackern direkt hinter ihr.

»Halt, Eindringling in verbotenen Gefilden! Euer Leben ist verwirkt!«

Aus den Augenwinkeln sah Tania gerade noch rechtzeitig den schweren, runden Kopf eines Morgensterns aus Kristall, der auf sie zu schwang. Sie duckte sich, aber die Waffe streifte sie seitlich am Kopf und sie stürzte zu Boden, wobei ihr das Schwert aus den Händen glitt und klirrend auf den Steinboden fiel.

Tania landete auf dem Rücken. Ihr Kopf dröhnte. Ein Mann in schwarzer Livree stand über ihr, in der einen Hand eine flackernde Fackel, in der anderen die Waffe– bereit, ein zweites Mal zuzuschlagen.