18. Kapitel
In Portsmouth herrschten tiefster Winter und klirrende Kälte, ein eisiger Ostwind fegte die Straßen entlang, als Bush aus dem Werfttor trat. Er schlug den Kragen seines Peajacketts über dem Wollschal hoch und vergrub die Hände in den Taschen, ehe er mit vorgebeugtem Kopf gegen den Wind anging. Seine Augen tränten, seine Nase tropfte, der beißende Ostwind schien ihm geradezu durch die Rippen zu blasen und bewirkte, daß ihn die Narben schmerzten, die seinen Oberkörper kreuz und que bedeckten.
Ein paar Meter vor ihm bog ein Mann aus einer Seitenstraße ein und kämpfte, wie er selbst, gegen den eisigen Wind - es war ebenfalls ein Seeoffizier.
Dieser schlingernde Gang, die gegen den Wind gestemmten Schultern - wer anders konnte das sein als Hornblower.
»Sir! Sir!« rief er hinter dem anderen her. Da drehte sich Hornblower nach ihm um.
Zuerst traf Bush ein abweisender Blick, der aber sofort verschwand, als ihn Hornblower erkannte.
»Ah, das ist schön, das freut mich!« sagte er und streckte Bush die Hände entgegen.
»Und mich erst, Sir«, gab Bush strahlend zur Antwor »Bitte, nennen Sie mich nicht Sir«, sagte Hornblower.
»Nicht Sir? Warum? Wieso?«
Hornblower trug keinen Mantel, und auf seiner linken Schulter fehlte das Epaulett, das ihm als Commander zugestanden hätte. Bushs Blick fiel unwillkürlich auf die leere Stelle, die Löcher im Tuch zeigten ihm noch, wo es früher gesessen hatte.
»Ich bin nicht Commander«, sagte Hornblower. »Man hat meine Beförderung nicht bestätigt.«
»Ach du großer Gott!«
Hornblower war unnatürlich blaß - Bush kannte ihn ja nicht anders als tief gebräunt -, und seine Wangen waren hohl, aber er zeigte immer noch den alten undurchdringlichen Ausdruck, an den sich Bush so gut erinnern konnte.
»Ja, der Vorfriede wurde genau an dem Tage unterzeichnet, an dem ich in Plymouth einlief.«
»Das war wohl ein richtiges Höllenpech«, sagte Bush.
Jeder Leutnant wartete sein Leben lang auf irgendein glückliche Fügung, die ihm die ersehnte Beförderung eintrug.
Bei den meisten blieb alles Warten umsonst. Es war mehr als wahrscheinlich, daß jetzt auch Hornblower wieder zu denen gehörte, die bis in ihre alten Tage vergeblich warteten.
»Haben Sie sich um ein Kommando als Leutnant beworben?« ragte Bush.
»Ja. Vermutlich haben auch Sie einen Antrag eingereicht, nicht wahr?« meinte Hornblower. »Ja.«
Man brauchte über dieses Thema keine weiteren Worte zu verlieren. Die Friedensmarine brauchte nur den zehnten Teil der Leutnants, die im Krieg Unterkommen fanden. Um zu den paar Auserwählten zu gehören, brauchte man ein sehr hohes Dienstalter oder aber einflußreiche Freunde.
»Ich war einen Monat in London«, sagte Hornblower. »Um die Admiralität und das Marineamt herum wimmelt es nur so von Offizieren.«
»Das kann ich mir vorstellen«, sagte Bush. Der Wind pfiff heulend um eine Ecke. »Mein Gott, ist das kalt«, sagte Bush.
Er spielte in Gedanken mit allen vorstellbaren Möglichkeiten, das Gespräch in Wärme und Gemütlichkeit fortzusetzen. Gingen sie jetzt zusammen in Keppels Head, dann hieß das, daß er mindestens zwei Glas Bier ausgeben mußte und Hornblower natürlich das gleiche.
»Ich gehe jetzt in die Long Rooms«, sagte Hornblower. »Wir sind gleich da. Kommen Sie doch mit - oder haben Sie etwas Besseres vor?«
»Nein, vor habe ich nichts«, sagte Bush unsicher. „Aber...«
»Ach so - das geht klar«, sagte Hornblower, »kommen Sie ruhig mit.« Hornblower sprach so sicher über diese Long Rooms, daß Bush unwillkürlich alle Bedenken verlor. Er kannte das Lokal nur vom Hörensagen, es verkehrten dort hauptsächlich See- und Landoffiziere, die viel Geld auszugebe hatten. Bush hatte schon oft von den hohen Einsätzen gehört, um die man dort spielte, und dem Wirt sagte man nach, daß er seinen Gästen alles bot, was gut und teuer war. Wenn es Hornblower so wenig ausmachte, dieses Lokal zu besuchen, dann konnte es ihm nicht so schlecht gehen, wie es den Anschein hatte. Sie überquerten die Straße, Hornblower hielt die geöffnete Tür für ihn fest und bat ihn, einzutreten. Sie gelangten in einen langgestreckten, eichegetäfelten Raum, zahlreiche brennende Kerzen machten die Düsternis des Tages freundlicher, und im Kamin prasselte ein mächtiges Feuer. In der Mitte stand eine Anzahl Kartentische mit je vier Stühlen darum, die beiden Enden waren mit bequemen Polstermöbeln ausgestattet. Ein Diener in grüner Schürze wischte die Tische ab und kam sofort auf sie zu, um beiden die Hüte und Bush den Mantel abzunehmen. »Guten Tag, Sir«, sagte er. »Guten Tag, Jenkins«, sagte Hornblower.
Dann eilte er mit unverhohlener Hast zum Kamin und wärmte sich am Feuer. Bush konnte sehen, daß seine Zähne klapperten.
»Um ohne Peajackett auszugehen, ist es heute reichlich kalt«, sagte er.
»Stimmt«, sagte Hornblower.
Seine Antwort war so kurz angebunden, daß sie nicht mehr so ganz gleichgültig klang, wie sie wohl hätte klingen sollen. Bush zog daraus den Schluß, daß Hornblower nicht etwa aus bloßer Spleenigkeit oder Gedankenlosigkeit an einem so bitterkalten Tag ohne Mantel ging. Auf diese Erkenntnis hin musterte er ihn mit einem scharfen, prüfenden Blick und hätte sich vielleicht sogar zu einer wenig taktvollen Frage an ihn verstiegen, wenn nicht in diesem Augenblick dicht neben ihnen eine Tür aufgegangen wäre, die wohl zu den rückwärtigen Räumen führte. Herein trat ein kleiner, dicker, aber ausgesucht eleganter Herr, der nach der allerletzten Mode gekleidet war, nur daß er sein Haar nach Väterweise lang, zurückgebunden und gepudert trug. Das machte es schwierig, sein Alter richtig einzuschätzen.
Er blickte die beiden Leutnants mit scharfen dunklen Augen an.
»Guten Tag, Marquis«, sagte Hornblower. »Es ist mir ein Vergnügen, die Herren bekannt zu machen: Monsieur le Marquis de St. Croix - Leutnant Bush.«
Der Marquis machte eine elegante Verbeugung, und Bush versuchte, es ihm nachzutun, so gut es gehen wollte. Über seinen höfischen Bemühungen wurde er zunächst gar nicht gewahr, daß ihn der Marquis mit kalt abschätzenden Augen musterte. So sah sich etwa ein Leutnant einen Matrosen an, ob er wohl kräftig genug war, so prüfte ein Bauer ein Schwein auf dem Markt, ehe er sich zum Kauf entschloß. Endlich merkte auch Bush, was vorging, und hatte bald erraten, daß der Marquis sich ein Bild davon machen wollte, für welche Summe Bush am Spieltisch gut war. Darüber fiel ihm plötzlich siedend heiß ein, wie schäbig und abgetragen sein Uniformrock aussah. Offenbar war der Marquis sehr bald bei der gleichen Beobachtung gelandet. Dennoch eröffnete er jetzt die Unterhaltung.
»Ein bitterkalter Wind«, sagte er.
»Ja«, sagte Bush.
»Da wird es im Kanal allerhand Seegang geben«, fuhr der Marquis fort, indem er höflich ein Thema anschlug, das den Herren beruflich vertraut war.
»Das kann man wohl sagen«, stimmte ihm Bush bei.
»Von Westen her kommt bei solchem Wetter kein Schiff auf.«
»Ausgeschlossen.«
Der Marquis sprach ein ausgezeichnetes Englisch. Er wandte sich jetzt an Hornblower. »Haben Sie Mr. Truelove in letzter Zeit gesehen?« fragte er.
»Nein«, sagte Hornblower, »aber ich traf Mr. Wilson.«
Die Namen Truelove und Wilson waren auch Bush wohlvertraut. Die beiden waren die bekanntesten Prisenagente in ganz England. Ein Viertel der Marine bediente sich dieser Firma, um ihre gekaperten Schiffe und Güter zu Geld zu machen. Der Marquis wandte sich wieder an Bush: »Ich hoffe, das Glück hat auch Ihnen Prisengelder in Fülle beschert, Mr. Bush.«
»Nun ja, es hätte mehr sein können«, meinte Bush und dachte an die hundert Pfund, die er in Kingston in zwei Tagen durchgebracht hatte.
»Die Summen, die die beiden umsetzen, sind phantastisch, es gibt kein anderes Wort dafür als phantastisch. Ich höre, daß die Besatzung der Caradoc nicht weniger als siebzigtausend Pfund bekommen wird, sobald das Schiff einläuft.«
»Das dürfte nicht übertrieben sein«, sagte Bush. Er hatte schon von den Prisen gehört, die der Caradoc in der Biskaya in die Hände gefallen waren.
»Solange aber dieser Ostwind weht, müssen die armen Kerle noch warten und dürfen ihr Glück nicht genießen. Sie wurden bei Friedensschluß nicht gleich abgemustert, sondern nach Malta geschickt, um einen Teil der abgelösten Inselbesatzung an Bord zu nehmen. Aber jetzt werden sie täglich zurückerwartet.«
Für einen eingewanderten Zivilisten zeigte der Marquis ein anerkennenswertes Interesse an allem, was mit der britischen Marine zusammenhing. Außerdem war er ein bestrickend liebenswürdiger Mann, was gleich seine nächste Bemerkung bewies.
»Ich hoffe sehr, daß Sie sich hier wie zu Hause fühlen, Mr. Bush«, sagte er. »Für den Augenblick muß ich mich leider entschuldigen, da mich eine Menge Arbeit erwartet.«
Damit verschwand er hinter einer anderen, mit einem Vorhang verhängten Tür. Bush und Hornblower sahen einander an.
»Ein seltsamer Heiliger«, sagte Bush.
»Er ist gar nicht so seltsam, wenn man ihn näher kennenlernt«, erwiderte Hornblower.
Das Feuer hatte ihn allmählich erwärmt, und seine Wangen zeigten jetzt ein bißchen Farbe.
»Was, in aller Welt, treiben Sie hier?« fragte Bush, dessen Neugier nachgerade aller Höflichkeit ein Schnippchen schlug.
»Ich? Ich spiele Whist«, sagte Hornblower. »Whist?«
Bush wußte nur, daß Whist ein todlangweiliges Spiel war, das vor allem den Gehirnathleten etwas abgab. Wenn Bush einmal spielte, dann wollte er das Glück versuchen und nicht nur denken und rechnen.
»Eine ganze Menge Offiziere kommen hierher zum Whist«, erzählte Hornblower. »Ich mache dann immer gern den vierten Mann.«
»Aber ich hatte doch gehört...«
Bush hatte von allen möglichen anderen Spielen gehört, die angeblich in den Long Rooms getrieben wurden: Hasard, Vingt et un und sogar Roulette. »Um hohe Sätze wird da drinnen gespielt«, sagte Hornblower und wies auf die vorhangbewehrte Tür. »Ich bleibe hier.«
»Das ist sehr weise von Ihnen«, sagte Bush, aber er war zugleich davon überzeugt, daß er noch keineswegs alles wußte.
Darum drang er unwillkürlich weiter in Hornblower, und man hätte nicht einmal sagen können, daß ihn einfache Neugier dazu trieb. Es waren vielmehr nur die aufrichtige Neigung, die er zu Hornblower gefaßt hatte, und sein Interesse an ihm schuld daran, wenn er ihn jetzt weiter ausfragte.
»Gewinnen Sie denn auch?« fragte er.
»Häufig«, sagte Hornblower. »Es reicht zum Leben.«
»Sie haben doch Ihren Halbsold?« fuhr Bush fort.
Angesichts dieser Hartnäckigkeit mußte Hornblower endlich gestehen:
»Nein«, sagte er, »ich bekomme nichts.«
»Was? Sie bekommen nichts?« Bush hatte seine Stimme um einen halben Ton erhoben. »Aber Sie sind doch aktiver Leutnant?«
»Das schon. Aber ich war vorübergehend Commander und habe drei Monate lang die Bezüge dieses Dienstgrades empfangen. Dann weigerte sich die Admiralität, meine Beförderung zu bestätigen.«
»Aha, da hat man Ihnen die Zahlungen gestoppt!«
»Ja, bis ich das zuviel empfangene Geld abgezahlt habe.« Das Lächeln, das Hornblower bei diesen Worten zeigte, sah nicht einmal sehr gezwungen aus. »Zwei solche Monate habe ich schon hinter mir, noch fünf, und ich bekomme wieder meinen Halbsold.«
»Heiliger Strohsack!« stieß Bush hervor.
Halbsold war an sich schon schlimm genug, Halbsold hieß ewige Sorge, ewige Sparsamkeit, aber man konnte doch wenigstens leben. Hornblower hatte überhaupt nichts. Jetzt wußte Bush auch, warum er keinen Mantel besaß. Darüber packte ihn plötzlich heiliger Zorn. Ein Bild stand ebenso lebhaft vor seinem inneren Auge, wie dieser schöne Raum hier vor seinem äußeren. Er sah Hornblower vor sich, wie er mit geschwungenem Säbel auf das Deck der Renown herabgesprungen war und sich rücksichtslos in einen Kampf geworfen hatte, der ihm nur Sieg oder Tod bringen konnte.
Dieser Mensch hatte unermüdlich gearbeitet und geplant, um den Enderfolg sicherzustellen - er hatte als letzten und höchsten Einsatz sein Leben in die Schanze geschlagen, um eine halbverlorene Sache doch noch zum Guten zu wenden. Und heute stand dieser gleiche Hornblower mit klappernden Zähnen am Kamin, um sich zu wärmen, solange es ihm das Mitleid, des dicken französischen Froschfressers hier erlaubte, der diese Spielhölle betrieb und im übrigen aussah wie ein zweifelhafte Tanzmeister.
»Das ist ein Skandal, der zum Himmel stinkt!« sagte Bush und platzte dann mit seinem Vorschlag heraus. Er bot Hornblower kurzerhand sein Geld an, obwohl er sich im gleichen Augenblick sagen mußte, daß er dann selbst zum Hungern verurteilt war und daß es seinen beiden Schwestern nicht viel besser gehen würde. Wenn sie auch nicht gerade hungern mußten wie er, so hatten sie doch bestimmt nicht genug zu essen. Aber Hornblower schüttelte den Kopf.
»Besten Dank«, sagte er, »ich werde Ihnen das nie vergessen.
Aber ich kann dieses Angebot nicht annehmen. Sie wissen ja selbst, daß ich es nicht könnte. Jedenfalls werde ich Ihnen immer dankbar sein, dankbar auch aus einem anderen Grund.
Wissen Sie, daß die Welt für mich wieder hell geworden ist, weil Sie das gesagt haben?«
Hornblowers Absage konnte Bush nicht davon abschrecken, sein Angebot zu wiederholen, ja, er drängte sich förmlich auf, aber Hornblower blieb eisern bei seiner Weigerung. Vielleicht rührte ihn Bushs Niedergeschlagenheit, jedenfalls fühlte er sich bemüßigt, ihm noch mehr von sich zu erzählen, weil er ihn dadurch ein bißchen aufzuheitern hoffte.
»Ganz so schlimm steht es nun auch wieder nicht«, sagte er.
»Sie wissen ja noch nicht, daß ich ein festes Einkommen habe, ein ständiges Salär von unserem Freund, dem Marquis.«
»Das habe ich allerdings nicht gewußt«, sagte Bush.
»Ja, einen halben Sovereign die Woche«, erklärte Hornblower. »Zehn Shilling sechs Pence, jeden Samstagvormittag, ob es regnet oder ob die Sonne scheint.«
»Und was müssen Sie dafür tun?« Bushs Halbsold betrug mehr als doppelt soviel.
»Nur Whist spielen«, erklärte Hornblower, »sonst nichts. Von zwölf Uhr mittags bis zwei Uhr früh muß ich mit jedweder Gruppe von dreien spielen, die einen vierten Mann braucht.«
»So ist das also«, sagte Bush.
»Der Marquis ist so großzügig, mir hier freien Zutritt zu gewähren. Ich zahle kein Abonnement und kein Tischgeld - und kann vor allem meine Gewinne behalten.«
»Aber Ihre Verluste müssen Sie selber bezahlen, nicht wahr?«
Hornblower zuckte die Achseln.
»Natürlich. Aber man verliert nicht so oft, wie Sie vielleicht glauben, und zwar aus einem sehr einfachen Grund. Wer es schwer hat, Partner zum Whist zu finden, weil ihm jeder, den er darum angeht, die kalte Schulter zeigt, der ist in der Regel ein elender Stümper. Aber seltsamerweise sind gerade solche Leute besonders auf ihr Spiel versessen. Ist nun der Marquis gerade hier, wenn Major Jones, Admiral Smith und Mr. Robin krampfhaft nach ihrem vierten Mann Ausschau halten und alle anderen Leute so tun, als merkten sie nichts davon, dann wirft er mir einen Blick zu - etwa so, wie eine Frau ihren Mann tadelnd ansieht, wenn er bei einem feierlichen Dinner zu laut wird -, und schon erhebe ich mich und biete mich an, einzuspringen. Das kostet die Leute dann immer Geld, aber merkwürdigerweise fühlen sie sich sogar geschmeichelt, wenn sie mit Hornblower spielen dürfen.«
»So ist das also«, sagte Bush zum zweiten Male und mußte unwillkürlich an den Hornblower von damals denken, wie er in Samana an der Esse stand und das Kunststück fertigbrachte, die spanischen Kaperschiffe mit glühenden Kugeln einzudecken.
»Natürlich ist ein solches Leben nicht immer eitel Wonne«, fuhr Hornblower fort, der sein Mitteilungsbedürfnis nicht länger bändigen konnte, nachdem der Bann einmal gebrochen war.
»Wenn man so seine vier Stunden mit richtigen Patzern gespielt hat, dann ist man jedesmal fertig. Sollte ich in die Hölle kommen, dann muß ich dort bestimmt zur Strafe mit Whistpartnern spielen, die nicht darauf achten, was ich abwerfe.
Immerhin sind mir zwischendurch auch ein paar Rubber mi guten Spielern vergönnt. Aber manchmal bin ich wirklich so weit, daß ich lieber gegen einen guten Spieler verlieren als von einem schlechten gewinnen möchte.«
»Damit wären wir wieder beim springenden Punkt«, sagte Bush. »Mir ist es immer noch schleierhaft, wie Sie mit Ihren Verlusten fertig werden.«
Dieser Gedanke ließ ihn offenbar nicht los. Er selbst hatte ja fast jedesmal verloren, wenn er sich an den Spieltisch wagte, und dachte jetzt, da er vor dem Ernst des Lebens stand, mit recht gemischten Gefühlen an jene leichtsinnigen Stunden zurück.
»Das geht ganz gut«, sagte Hornblower und tippte auf seine Brusttasche. »Da drinnen stecken zehn Pfund, als Corps de Reserve, verstehen Sie. Die helfen mir immer über eine ganze Kette von Verlusten hinweg. Sollte dieser eiserne Bestand zusammenschrumpfen, so muß er sofort wieder aufgefüllt werden, wenn es auch Opfer kostet.«
Opfer, das heißt, daß er Mahlzeiten überschlägt, dachte Bush voll Ingrimm und machte dazu ein so bekümmertes Gesicht, daß ihm Hornblower unbedingt das Herz erleichtern mußte.
»In fünf Monaten ist ja das Schlimmste überstanden«, sagte er, »dann bin ich wieder auf Halbsold. Vielleicht habe ich auch schon eher das Glück, daß mir irgendein Kommandant über den Weg läuft und mich an Bord holt.«
»Das könnte natürlich sein«, sagte Bush.
Ja, es konnte sein. Aber wie sah es in Wirklichkeit damit aus?
Ab und zu kam es auch jetzt noch vor, daß Schiffe wieder in Dienst gestellt wurden, dann suchte der neue Kommandant vielleicht noch einen Leutnant. Theoretisch bestand in diesem Fall die Möglichkeit, daß er Hornblower aufforderte, die Stelle zu übernehmen. Aber jeder Kapitän war ohnehin schon ständig von Freunden und Bekannten umlagert, die unterkommen wollten, und überdies sprach auch die Admiralität noch ein Wörtchen mit, wo immer die dienstältesten Leutnants - und di mit den mächtigsten Verbindungen Schlange standen. Es gab wohl kaum einen Kommandanten, der es sich leisten konnte, eine solche Empfehlung von höchster Stelle unbeachtet zu lassen. Jetzt ging die Tür auf, und eine Gruppe von Herren betrat den Raum.
»Höchste Zeit, daß meine Kundschaft erscheint«, sagte Hornblower grinsend zu Bush. »Lassen Sie sich bitte bekannt machen.«
Der Saal belebte sich mit den roten Röcken der Armee, den blauen Röcken der Marine, den flaschengrünen oder schnupftabaksbraunen Fräcken des Zivils. Als alles vorgestellt war, räumten Bush und Hornblower ihre Plätze am Feuer den frierenden Ankömmlingen, die sich mit klaffenden Schwalbenschwänzen einer neben den anderen über die Glut beugten, um sich die Hände zu wärmen. Aber die Klagen über die Kälte waren rasch verstummt, und die höfliche Konversation ging bald zu Ende.
»Wie war's mit einer Partie Whist?« schlug einer der neuen Gäste vor. »Nichts für mich, nichts für uns«, gab der älteste der Rotröcke zur Antwort. »Das neunundzwanzigste Infanterie-Regiment jagt auf edleres Wild. Wir haben eine ständige Verabredung mit unserem Freund, dem Marquis, dort nebenan.
Kommen Sie, Herr Major, wir wollen sehen, ob wir heute den großen Coup landen können.«
»Wie ist es mit Ihnen, Mr. Hornblower? Wären Sie bereit, den vierten Mann zu machen? Oder Sie, Mr. Bush?«
»Danke, ich spiele nicht«, sagte Bush.
»Aber ich bin gern bereit«, sagte Hornblower. »Sie werden mich gewiß solange entschuldigen, Mr. Bush. Dort auf dem Tisch liegt die neueste Nummer der Naval Chronicle. Da finden Sie auf der letzten Seite einen amtlichen Beitrag, der Ihnen vielleicht für eine Weile die Zeit vertreiben wird. Außerdem steht noch eine andere Nachricht darin, die Ihnen ebenfalls nich ganz gleichgültig sein dürfte.«
Bush konnte erraten, was in dem Beitrag stand, ehe er noch die Zeitschrift zur Hand nahm; aber als er dann die Spalte gefunden hatte und seinen eigenen Namen gedruckt las, packte ihn wieder der gleiche freudige Schreck wie beim ersten Male: In gehorsamster Ergebenheit bin ich und so weiter... Wm. Bush.
In diesen Friedenszeiten war die Redaktion der Naval Chronicle offenbar in einiger Verlegenheit, wie sie ihre Spalten füllen sollte, und war darum auf den Gedanken verfallen, solche alten dienstlichen Depeschen noch einmal abzudrucken.
Schreiben des Vizeadmirals Sir Richard Lambert an Evan Nepean, Esq., Sekretär der beauftragten Lords der Admiralität.
Das waren Lamberts Begleitschreiben zu den Berichten. Dann folgte gleich der erste davon - er erinnerte sich mit seltsamer Rührung, wie er Buckland bei seiner Abfassung geholfen hatte, als die Renown grade längs der Küste von Santo Domingo nach Westen lief, es war einen Tag, ehe die Gefangenen ausbrachen.
Der Bericht enthielt Bucklands Darstellung von den Kämpfen um Samana. Am längsten verweilte Bush bei dem Absatz, in dem es hieß: Die Landoperationen wurden durch den Ersten Offizier, Leutnant William Bush, dessen Bericht gesondert beiliegt, in mustergültiger Weise durchgeführt. Und nun folgte sein höchst persönliches schriftstellerisches Erzeugnis, so wie es Buckland beigeheftet hatte.
H. M. S. Renown vor Santo Domingo, am 9. Januar 1802
Sir, ich habe die Ehre, Ihnen folgenden Bericht zu unterbreiten.
Das war nun gerade ein Jahr her, aber Bush glaubte, jede Einzelheit aufs neue zu erleben, so lebendig stand ihm alles wieder vor Augen, als er jetzt seine eigenen Worte las, diese Worte, die ihm damals so viel Mühe und Schweiß gekostet hatten, obwohl er sich beim Schreiben aus den Berichten anderer Offiziere immer wieder Rat geholt hatte, damit er sich auf keinen Fall im Stil vergriff.
class="brief"... Ich kann diesen Bericht nicht schließen, ohne ausdrücklich auf die hervorragende Tapferkeit und die außerordentlich wertvollen Anregungen des Leutnants Horatio Hornblower hinzuweisen, der mir als Zweitkommandierender unterstellt war.
Seine ausgezeichneten Leistungen haben im besonderen Maße zu dem Gesamterfolg des Unternehmens beigetragen.
Und jetzt saß dieser selbe Hornblower dort am Tisch und spielte mit einem pensionierten Kapitän und zwei zweifelhaften Geschäftemachern Karten.
Bush blätterte die Naval Chronicle weiter durch. Hier war der Brief aus Plymouth, der alles brachte, was sich während des letzten Monats Tag um Tag im dortigen Hafen zugetragen hatte.
Heute ging hier der Befehl ein, folgende Schiffe abzumustern
... Von Gibraltar eingelaufen: La Diana, 44 Geschütze, und Tamar, 38 Geschütze, beide Schiffe sollen abmustern und aufgelegt werden, sobald sie in den Binnenhafen verholt haben.
- Ausgelaufen: Caesar, 80 Geschütze, nach Portsmouth zur Außerdienststellung.
Dann kam eine Nachricht, die mindestens ebenso deutlich zeigte, wie jetzt oben der Wind wehte:
Gestern fand hier eine Versteigerung großer Mengen für den zivilen Bedarf geeigneter Waren statt, die von verschiedenen abgerüsteten Kriegsschiffen stammten.
Die Marine schrumpfte von Tag zu Tag mehr zusammen, und mit jedem Schiff, das abmusterte, lag wieder eine Handvoll Leutnants auf der Straße, die sich auf die Suche nach einem Unterkommen machten. Hier stand einmal etwas anderes:
Heute nachmittag kenterte ein Fischerboot, das aus dem Atwater auslaufen wollte, beim Halsen. Leider ertranken dabei zwei tüchtige Fischer, die beide Ernährer großer Familien gewesen waren.
So also sah jetzt die Naval Chronicle aus, deren Seiten einstmals kaum ausgereicht hatten, die Ruhmestaten von Camperdown und Aboukir zu verkünden. Heute verbreitete sie sich über jeden Unfall, der ein paar wackeren Fischern zustieß.
Bush war viel zu sehr mit seinen eigenen Sorgen beschäftigt, al daß er Mitleid mit ihren großen Familien empfunden hätte.
Vom Tod durch Ertrinken handelte auch die letzte Nachricht.
Bush wollte sie achtlos überfliegen, da fielen ihm plötzlich ein Name und dann gleich noch ein zweiter in die Augen. Sein Puls schlug rascher, als er den Absatz aufmerksam von vorn las:
Als die zu Seiner Majestät Zollkutter Rapid gehörige Jolle gestern abend nach Ablieferung der Dienstpost an Bord zurückkehren wollte, wurde sie im Nebel vom Ebbstrom auf die Ankertrosse eines vor Fishers Nose liegenden Handelsschiffes gesetzt und kenterte. Zwei Matrosen und der Fähnrich Henry Wellard ertranken. Mr. Wellard galt als besonders tüchtiger junger Mann und hatte den Dienst auf dem Kutter Rapid erst in jüngster Zeit angetreten. Er hatte zuvor als Freiwilliger auf H.M. Linienschiff Renown gedient.
Bush las den Absatz Wort für Wort und grübelte lange Zeit darüber nach. Diese Nachricht erfüllte ihn so sehr, daß er die Naval Chronicle zu Ende las, ohne irgend etwas von ihrem weiteren Inhalt in sich aufzunehmen. Zuletzt entdeckte er zu seiner Überraschung, daß er schleunigst gehen mußte, wenn er den Fuhrmannswagen nach Chichester noch erreichen wollte.
Jetzt kam die Eingangstür überhaupt nicht mehr zur Ruhe, jeder Augenblick brachte neue Gäste. Einige davon waren Seeoffiziere, mit denen Bush auf Grüßfuß stand. Alle strebten zunächst einmal zum Feuer, um sich zu wärmen, ehe sie mit dem Spiel begannen. Da erhob sich Hornblower von seinem Platz, der Rubber war offenbar zu Ende. Bush nutzte die gute Gelegenheit und bedeutete ihm durch ein Zeichen, daß er sich verabschieden wollte. Hornblower kam gleich zu ihm herüber, und sie schüttelten einander mit aufrichtigem Bedauern die Hände. »Wann sehen wir uns wieder?« fragte Hornblower.
»Ich komme jeden Monat hierher, um meinen Halbsold abzuholen«, sagte Bush. »Meistens bleibe ich über Nacht, weil mein Fuhrmann nicht am gleichen Tage zurückfährt. Vielleich könnten wir zusammen essen...«
»Mich finden Sie immer hier«, sagte Hornblower. »... Haben Sie denn ein festes Quartier?«
»Nein«, gab Bush zur Antwort, »aber ich finde immer etwas Passendes.« Er brauchte Hornblower nicht zu erklären, daß er damit etwas Billiges meinte.
»Ich wohne in der Highbury Street - einen Augenblick, ich werde Ihnen die Adresse aufschreiben.«
Hornblower trat rasch an ein Schreibpult in der Ecke, schrieb einen Zettel und gab ihn Bush.
»Wollen Sie nicht mein Zimmer mit mir teilen, wenn Sie das nächste Mal kommen? Meine Wirtin ist allerdings schrecklich aufs Geld aus und wird Ihnen zweifellos für Ihre Koje etwas abnehmen, aber trotzdem...«
»Trotzdem wird es billiger«, ergänzte Bush und steckte den Zettel in die Tasche. Was er bei seinen nächsten Worten fühlte, verbarg sich hinter einem breiten Grinsen: »Und außerdem habe ich dann mehr von Ihnen.«
»Das ist es ja gerade«, sagte Hornblower. Hier ging es wieder einmal um Dinge, für die man nie die richtigen Worte fand.
Jenkins hatte Bush den Mantel gebracht und half ihm hinein.
Sein Benehmen ließ den armen Bush keinen Augenblick im Zweifel, daß ihn jeder Gentleman in den Long Rooms mit mindestens einem Shilling entlohnte, wenn er ihm in den Mantel half. Zuerst wollte sich Bush nicht darauf einlassen, eher sollte die Welt untergehen, als daß er diesem Menschen einen Shilling Trinkgeld gab. Aber dann fiel ihm etwas ein, das seinen Entschluß über den Haufen warf. Womöglich gab Hornblower Jenkins den Shilling, wenn er es nicht tat Da langte er lieber selbst in die Tasche und gab dem Diener das Geld.
»Danke, Sir«, sagte Jenkins.
Als Jenkins außer Hörweite war, wäre Bush nur zu gern mi einer Frage herausgeplatzt, aber er fand einfach nicht die richtigen Worte. Darum pirschte er sich erst einmal an das Thema heran.
»Schlimm das mit dem jungen Wellard, nicht wahr?« sagte er.
»Ja«, sagte Hornblower.
»Was ist Ihre Ansicht?« fuhr Bush mit Todesverachtung fort.
»Hatte er damals beim Absturz des Kommandanten die Hand im Spiel oder nicht?«
»Ich kann darüber keine Ansicht äußern«, antwortete Hornblower, »dazu bin ich selbst über den Vorfall viel zuwenig unterrichtet.«
»Aber...«, wollte Bush beginnen, unterbrach sich jedoch sofort, weil ihm Hornblowers Miene sagte, daß alles weitere Fragen zwecklos war.
Der Marquis hatte eben den Saal betreten und sah sich unauffällig prüfend um. Natürlich fiel ihm sofort auf, daß noch nicht alle Herren beim Spiel saßen, während Hornblower müßig an der Tür stand und sich unterhielt. Bush konnte das genau verfolgen und sah auch den mahnenden Blick, den er jetzt zu Hornblower herübersandte. Da verließen ihn plötzlich die Nerven.
»Leben Sie wohl«, sagte er hastig und wandte sich zur Tür.