4. Kapitel
Hier unten war es stockfinster, es herrschte vollkommene Dunkelheit, nicht der leiseste Schimmer von Licht drang herein.
War schon die Nacht draußen über der See mondlos und pechschwarz, so befand man sich hier drei Decks tiefer und weit unter der Wasserlinie. Durch die eichenen Bordwände vernahm man das Rauschen des Wassers und das Klatschen der Seen, über die das Schiff hinwegritt, der ganze Rumpf ächzte und knarrte unter der wechselnden Beanspruchung des ewigen Auf und Ab. Bush klammerte sich im Finstern an die steile Leiter des Niedergangs und tastete nach einem festen Stand. Er landete zwischen den Wasserfässern, duckte sich ganz zusammen und kroch in der pechdunklen Nacht leise nach achtern. Eine Ratte jagte quietschend an ihm vorbei, aber darauf mußte man hier im untersten Raum gefaßt sein, und Bush tastete sich unbeirrt weiter achteraus. Endlich vernahm er trotz aller verschiedenen Schiffsgeräusche aus der Dunkelheit vor ihm ein leises Sst!
Bush blieb augenblicklich stehen und antwortete mit dem gleichen Laut. Er tat sich wirklich nichts darauf zugute, bei dieser Verschwörung mitzuspielen, nur soviel war ihm klar, jetzt galt es, höchste Vorsicht walten zu lassen, denn das, was er hier tat, war sehr gefährlich.
»Bush?« flüsterte Bucklands Stimme.
»Ja.«
»Die anderen sind schon hier.«
Zehn Minuten zuvor, um zwei Glasen auf der Mittelwache, hatten sich Bush und Roberts entsprechend dem Befehl des Kommandanten in Bucklands Kammer gemeldet. Ein Augenzwinkern, eine Geste, ein paar geflüsterte Worte, und dieses heimliche Treffen war beschlossen. Es war in der Tat ein unerhörter Zustand, daß die Leutnants eines Kriegsschiffs Seiner Majestät auf solche Schliche sinnen mußten, um sich vor Horchern und Spionen zu sichern. Sie waren wieder auseinandergegangen und hatten sich auf Umwegen und unter Benutzung verschiedener Niedergänge hier unten eingefunden.
Hornblower hatte sich nach seiner Ablösung durch Smith als erster auf den Weg gemacht. »Wir dürfen nicht lange bleiben« flüsterte Roberts.
Ohne daß man ihn im Dunkeln sah, konnte man allein an seiner Flüsterstimme merken, wie aufgeregt er war. Zweifellos war dies eine meuterische Zusammenrottung. Für das, was sie hier taten, mußten sie unter Umständen eines Tages alle hängen.
»Wir könnten ihm zum Beispiel die Fähigkeit aberkennen, als Kommandant ein Schiff zu führen«, flüsterte Buckland. »Wir könnten ihn in Eisen legen.«
»Wenn wir uns schon zu einer solchen Maßnahme entschließen«, meinte Hornblower, »dann müssen wir rasch und energisch handeln. Sonst hält er sich an die Mannschaften, und die hat er vielleicht auf seiner Seite. Dann wäre...«
Hornblower brauchte den Satz nicht fertig zu sprechen. Jeder, der ihm gefolgt war, sah im Geiste bereits die Leichen von den Rahnocken baumeln.
»Gut«, sagte Buckland, »nehmen wir an, wir handeln rasch und energisch. Nehmen wir an, es gelingt uns, ihn in Eisen zu legen. Was dann?«
»Dann müssen wir nach Antigua«, sagte Roberts.
»... und vors Kriegsgericht«, ergänzte Bush, dem es in dieser kritischen Lage zum ersten Male gelang, so weit vorauszudenken. »Ja«, flüsterte Buckland.
Die verschiedensten Regungen fanden in dieser einen kurzen Silbe ihren Ausdruck: Tastende Unsicherheit, hoffnungslose Ergebung und quälender Zweifel.
»Da sitzen wir fest«, sagte Hornblower. »Er sagt natürlich aus, und vor Gericht bekommen dann die Dinge immer gleich ein anderes Gesicht. Gewiß, wir sind bestraft worden, wir mußten Wache um Wache gehen, wir bekamen keinen Schnaps.
Aber das kann schließlich jedem passieren, es ist kein Grund zur Meuterei.«
»Aber er verwöhnt die Leute, er untergräbt die Disziplin.«
»Was hat er denn in Wirklichkeit getan? Doppelten Rum verzapft, Freizeit gegeben. So etwas klingt vor Gericht nicht übel und leuchtet sicher ein. Schließlich ist es nicht unsere Sache, die Methoden unseres Kommandanten zu kritisieren - so und nicht anders werden die Richter denken.«
»Aber sie werden den Mann doch gründlich unter die Lupe nehmen.«
»Oh, der ist schlau. Vor allem ist er keineswegs gefährlich geisteskrank. Und außerdem versteht er sich aufs Reden und wird für alles seine triftigen Gründe finden. Sie haben ihn doch selbst gehört! Ich sage Ihnen jetzt schon, die Richter glauben ihm jedes Wort.«
»Er hat uns vor versammelter Mannschaft beleidigt und verächtlich gemacht, und er hat Hobbs beauftragt, uns nachzuspionieren.«
»Für jedes Gericht der beste Beweis, daß er sich inmitten von uns Verbrechern wirklich in einer verzweifelten Lage befand.
Nehmen wir ihn fest, dann sind wir so lange schuldig, bis wir unsere Unschuld bewiesen haben. Jedes Gericht hat die Pflicht, zunächst für den Kommandanten Partei zu nehmen. Meuterei bedeutet den Strick.« Hornblower faßte alle die Zweifel und Bedenken in klare Worte, für die Bush keinen Ausdruck fand, obwohl sie auch ihn in innerster Seele quälten.
»Sie haben recht«, flüsterte Bush.
»Wie steht es mit dem Fall Wellard?« fragte Roberts leise.
»Haben Sie ihn unlängst wieder schreien hören?«
»Der ist doch nur ein Freiwilliger - nicht einmal Fähnrich. Hat weder Freunde noch Familie. Was werden die Richter wohl sagen, wenn sie hören, der Kommandant habe einen solchen Jungen ein halbes Dutzend Male überlegen lassen? Lachen werden sie. Wir würden ja wohl auch darüber lachen, wenn wir nichts von den Zusammenhängen wüßten.›Schadet ihm nichts‹, würden wir sagen,›hat ja auch uns nichts geschadet‹.«
Auf diese unwiderlegliche Feststellung hin trat allgemeines Schweigen ein, bis Buckland endlich eine Reihe häßlicher Flüche ausstieß, um seiner Verzweiflung wenigstens ein bißchen Luft zu machen.
»Er wird auf alle Fälle gegen uns vorgehen«, flüsterte Roberts, »sobald wir mit anderen Schiffen zusammenkommen.
Soviel steht für mich jedenfalls fest.«
»Zweiundzwanzig Jahre bin ich Offizier«, sagte Buckland »und jetzt bricht mir dieser Mensch das Genick. Und euch geht es um kein Haar anders.«
Für Offiziere, die vor einem Kriegsgericht von ihrem eigenen Kommandanten beschuldigt wurden, ihm in disziplinwidriger Art die schuldige Achtung verweigert zu haben, gab es keinen Pardon. Das wußte jeder dieser Leutnants nur zu genau, und darum empfanden sie ihre Hilflosigkeit besonders bitter. Wenn der Kommandant solche Anschuldigungen gegen sie mit der gleichen krankhaften Bosheit und Schläue vertrat, die er bis jetzt entwickelt hatte, dann durften sie nicht einmal hoffen, mit schimpflicher Entlassung aus dem Dienst davonzukommen, dann drohte ihnen sogar Gefängnis und Strick »Noch zehn Tage bis Antigua«, sagte Roberts, »wenn der Wind so bleibt, und das ist bestimmt der Fall.«
»Wir wissen ja noch gar nicht, ob wir Antigua anlaufen«, meinte Hornblower. »Das haben wir bis jetzt nur angenommen.
Vielleicht sind wir noch Wochen und Monate in See.«
»Dann gnade uns Gott!« stieß Buckland hervor. Ein leises Klappern weiter hinten im Raum, das sich deutlich von den Geräuschen des arbeitenden Schiffes unterschied, ließ sie alle zusammenfahren. Bush ballte unwillkürlich seine behaarten Fäuste. Sie beruhigen sich wieder, als sie eine Stimme hörten, die sie leise bei Namen rief.
»Mr. Buckland - Mr. Hornblower - Sir!«
»Mein Gott, Wellard - Sie!« sagte Roberts.
Jetzt konnten sie hören, wie er auf sie zugekrochen kam.
»Der Kommandant, Sir!« sagte Wellard. »Er kommt!«
»Auf welchem Weg?« stieß Hornblower hervor.
»Durch den achtersten Niedergang. Ich bin auf den Verbandplatz gelaufen und von dort heruntergekommen. Er schickte Hobbs...«
Hornblower schnitt ihm das Wort ab. »Rasch - nach vorn ihr drei«, zischte er. »Nach vorn! Wenn ihr in die Decks kommt, sofort auseinandergehen. Macht schnell!«
Keinem fiel es auf, daß Hornblower den Befehl über wesentlich ältere Offiziere an sich gerissen hatte. Jede Sekunde war jetzt unendlich kostbar, es ging nicht an, durch Unentschlossenheit und Gefluche Zeit zu verlieren. So viel leuchtete allen bei Hornblowers ersten Worten ein. Bush folgte den zwei anderen in die rabenschwarze Finsternis hinein, er stolperte über unsichtbare Hindernisse und stieß sich schmerzhaft die Schienbeine wund. Eben hörte er Hornblower noch sagen: »Komm, Wellard!« Dann waren die beiden auch schon weg. Er selbst aber strebte mit seinen Kameraden Hals über Kopf immer weiter nach vorn.
Hier lag die mächtige Ankertrosse, dort war die Leiter, und gleich darauf genossen die drei aufatmend die Sicherheit des unteren Batteriedecks. Nach der Finsternis im Raum war es hier hell genug, daß man einigermaßen sehen konnte. Buckland und Roberts enterten gleich weiter an Oberdeck. Bush aber wandte sich nach achtern. Die Freiwache lag nun schon so lange in ihren Hängematten, daß alles fest schlief, zu den Geräuschen des Schiffes gesellte sich hier das bunte Konzert der Schnarchenden, und die dichten Reihen der Hängematten schwangen bei jedem Überholen im genauen Gleichtakt hin und her, als bildeten sie eine einzige kompakte Masse. Weit von achtern her näherte sich zwischen den Reihen der Schläfer ein Licht - ein Hornlaterne mit einem Talglicht darin. Ihr Träger war Hobbs, de Feuerwerker, er eilte im Geschwindschritt durch das Deck, und hinter ihm folgten zwei Matrosen. Als Bush der Gruppe begegnete, wurden nur stumme Blicke getauscht. Hobbs verhielt einen Augenblick seinen Schritt und gab dadurch zu erkennen, daß er große Lust hatte, Bush zu fragen, was er um diese Stunde in der unteren Batterie zu suchen hätte. Allein das konnte er trotz allem Rückhalt beim Kommandanten als Deckoffizier einem Leutnant gegenüber nicht wagen. Man sah es Hobbs an, daß er sich ärgerte. Offenbar hatte er es deshalb so eilig, weil er alle Zugänge zum Raum besetzen wollte, nun war er wohl außer sich, daß Bush ihm entwischt war. Die beiden Matrosen schienen die seltsamen Vorgänge auf dieser Mittelwache überhaupt nicht zu begreifen. Hobbs trat beiseite, um seinen Vorgesetzten vorüberzulassen, und Bush ging mit einem einzigen langen Blick an ihm vorbei. Er war selbst überrascht, wie sicher er sich jetzt wieder fühlte, seit er glücklich aus dem finsteren Raum entronnen war und sich nicht mehr in meuterischer Gesellschaft befand. Das beste war, wenn er gleich in seine Kammer ging. Bald war ohnehin vier Glasen, dann mußte er sich nach dem Befehl des Kommandanten wieder bei Buckland melden. Der Läufer, durch den ihn der Wachhabende Offizier wecken ließ, sollte ihn in seiner Koje finden. Im Weitergehen war er eben bis an den Großmast gelangt, da entwickelte sich vor ihm plötzlich ein geschäftiges Hin und Her, von dem er unbedingt Notiz genommen hätte, wenn er harmlos und mit reinem Gewissen dazugekommen wäre. Infolgedessen (so sagte er sich) mußte er sich auch jetzt auf jeden Fall erkundigen, was hier vorging. Er durfte hier nicht vorbeigehen, ohne ein paar Fragen zu stellen. Hier hatten die Seesoldaten ihre Schlafplätze, sie waren schon alle aus ihren Hängematten und fuhren gerade hastig in ihre Sachen. Wer schon in Hemd und Hose war, schnallte die gekreuzten Koppekiemen um und griff nach den Waffen.
»Was ist hier eigentlich los?« fragte Bush und versuchte seiner Stimme einen Klang zu geben, als ob er nichts davon wüßte, daß sich zur Zeit auch sonst noch allerlei Ungewöhnliches zutrug.
»Weiß nicht, Sir«, sagte der Soldat, an den er sich gewandt hatte. »Wir sind eben geweckt worden - antreten in voller Ausrüstung, mit Gewehr, Seitengewehr und Munition.«
Ein Korporal der Seesoldaten sah hinter der Trennwand hervor, die den Unteroffiziersraum vom übrigen Deck abteilte.
»Befehl vom Kommandanten, Sir«, meldete er, dann brüllte er auf seine Männer ein: »Beeilung, los jetzt, umschnallen!«
»Wo ist denn der Kommandant?« fragte Bush und sah dabei so harmlos drein, wie ihm möglich war.
»Irgendwo achtern, Sir. Als wir geweckt wurden, ließ er zugleich seine militärische Wache aufziehen.«
Diese Wache, bestehend aus einem Unteroffizier und vier Mann, stellte den Posten, der Tag und Nacht vor der Kommandantenkajüte stand. Es bedurfte nur eines Befehls, dann zog diese Wache geschlossen auf und bildete die erste kleine, aber kampfkräftige Schutztruppe für den Kommandanten.
»Danke, Korporal«, sagte Bush. Er suchte möglichst verwundert dreinzusehen und tat, als eilte er überrascht nach achtern, um sich zu überzeugen, was los war. Die Angst lag ihm wieder bleischwer in den Gliedern. Was hätte er darum gegeben, wenn ihm dieser Weg erspart geblieben wäre, der ihn in eine schreckhafte Ungewißheit führte. Mit unrasiertem, verschlafenem Gesicht tauchte Whiting, der Hauptmann der Seesoldaten, auf und schnallte sich im Gehen den Säbel um.
»Was heißt denn das nun wieder...?« schimpfte er los, als er Bushs ansichtig wurde.
»Fragen Sie mich doch nicht!« sagte Bush und versuchte, wieder den harmlos Überraschten zu spielen. Dabei war er so gespannt und aufgewühlt, daß sogar seine für gewöhnlic ruhende Einbildungskraft blitzartig arbeitete. Er konnte sich vorstellen, wie der Ankläger im trügerisch ruhigen Ton einer Gerichtsverhandlung die Frage an Whiting richtete: »Hat sich Mr. Bush irgendwie auffällig benommen?« Da war es ungeheuer wichtig, daß Whiting mit gutem Gewissen antworten konnte:
»Nein!« Ja, Bush glaubte sogar schon zu fühlen, wie sich der Strick, der härene Strick um seinen Hals legte... Eine Sekunde später hatte er es nicht mehr nötig, den Unwissenden und Überraschten zu spielen, denn jetzt war seine Bestürzung echt.
»Den Arzt, ruft den Arzt!« schrie eine Stimme.
Gleich darauf kam bleich und aufgeregt der junge Wellard angerannt »Rasch den Arzt! Doktor Clive muß kommen!«
»Ist jemand verunglückt?« fragte Bush.
»Der K - Kommandant, Sir.«
Wellard machte einen wirren und verstörten Eindruck, aber jetzt erschien Hornblower hinter ihm. Auch er war bleich und atmete schwer, aber er schien sich doch in der Gewalt zu haben.
Im trüben Licht der Laterne warf er einen Blick in die Runde, doch schien er Bush nicht zu bemerken.
»Los, holen Sie Doktor Clive!« rief er kurz einem Fähnrich zu, der gerade aus der Tür des Fähnrichsraums lugte. Einem anderen befahl er: »Laufen Sie rasch zum Ersten Offizier, er möchte sofort hierher kommen! Aber schnell! Nehmen Sie die Beine in die Hand!«
Jetzt entdeckte er Whiting und sah, wie die Seesoldaten weiter vorn ihre Musketen aus dem Rack nahmen.
»Warum sind Ihre Leute geweckt worden, Hauptmann Whiting?«
»Befehl des Kommandanten.«
»Dann lassen Sie sie antreten. Ich glaube allerdings nicht, daß sie gebraucht werden.«
Jetzt erst entdeckte Hornblower Bush.
»Ah, Mr. Bush! Wollen Sie als ältester anwesender Offizier das Kommando übernehmen, Sir? Ich habe eben nach dem Ersten Offizier geschickt. Der Kommandant ist verletzt - wie ich befürchten muß, schwer.«
»Wie kam das denn?« fragte Bush.
»Er ist den Niedergang hinuntergefallen, Sir«, sagte Hornblower. Dabei starrte er Bush im trüben Licht des Decks gerade in die Augen, aber Bush vermochte nichts aus seinem Blick zu lesen. Hier, im achteren Teil des unteren Batteriedecks, wimmelte es jetzt plötzlich von Menschen, und Hornblowers erste Mitteilung über das Vorgefallene erweckte ein allgemeines aufgeregtes Stimmengewirr. Zuchtloses Gelärme dieser Art war Bush von jeher unausstehlich und erzeugte bei ihm auch diesmal sofort - und man kann sagen glücklicherweise - die übliche Wirkung:
»Ruhe hier!« brüllte er los. »Wer hier nichts zu suchen hat, verschwindet!«
Er funkelte die Menge drohend an, da wurde es sofort still.
»Wenn Sie gestatten, gehe ich jetzt wieder nach unten, Sir«, sagte Hornblower, »ich muß mich um den Kommandanten kümmern.«
»Gut, Mr. Hornblower«, sagte Bush. Diese stereotype Antwort war durch ständigen Gebrauch schon so abgegriffen, daß sie alles Steife verloren hatte.
»Kommen Sie mit mir, Mr. Wellard«, sagte Hornblower und wandte sich zum Gehen.
Inzwischen erschienen noch ein paar neue Gestalten auf der Szene: Buckland mit bleichen, zerquälten Zügen, neben ihm Roberts und endlich Clive, der in Hemd und Hose schläfrig aus seiner Kammer erschien. Alle fuhren im ersten Augenblick zusammen, als sie der Seesoldaten ansichtig wurden, die eben auf dem engen Raum des Batteriedecks antraten und deren Musketenläufe im schwachen Licht der Laterne schimmerten.
Hornblower bemerkte Buckland und wandte sich noch einmal um. »Wollen Sie gleich mitkommen, Sir?« fragte er.
»Ja, ich komme«, sagte Buckland.
»Was ist denn, in Gottes Namen, los?« fragte Clive.
»Der Kommandant ist verletzt«, sagte Hornblower kurz angebunden. »Ich bringe Sie zu ihm, Sie brauchen aber unbedingt eine Laterne.«
»Was? Der Kommandant?« Clive rieb sich den Schlaf aus den Augen. »Wo ist er? He, Sie, holen Sie mir rasch die Laterne dort her. Wo sind meine Maate? Ach, Sie dort, laufen Sie rasch hin und wecken Sie meine Sanitätsmaate - sie schlafen im Krankenrevier.«
So bewegte sich denn kurz darauf ein Zug von einem halben Dutzend Männern, jeder mit einer Laterne, nach dem Niedergang hin - zuerst die vier Leutnants, dann Clive und schließlich Wellard. Als sie oben an der steilen Treppe warten mußten, warf Bush einen Seitenblick auf Buckland und sah, wie dessen Kinnbacken vor Erregung ununterbrochen arbeiteten.
Wahrscheinlich wäre er unendlich viel lieber im tollsten Kugelregen über ein aufgerissenes Deck gestürmt. Jetzt sah er auch Bush fragend an, aber der wagte kein Wort zu ihm zu sagen, da Clive in Hörweite war - ganz abgesehen davon, daß er ja um kein bißchen mehr wußte als Buckland selbst. Wer konnte ahnen, was sie am Fuß dieser Treppe erwartete? Gefängnis, Ruin, Schande oder gar der Tod.
Das schwache Licht einer Laterne fiel auf den roten Waffenrock und das weiße Lederzeug eines Seesoldaten, der neben dem Niedergang stand. Er trug die Tressen eines Unteroffiziers.
»Ist etwas vorgefallen?« fragte Hornblower.
»Nein, Sir, nichts Neues.«
»Der Kommandant liegt bewußtlos dort unten«, sagt Hornblower zu Clive und wies den Niedergang hinunter. »Zwei Seesoldaten sind als Wache bei ihm aufgezogen.«
Clive vertraute sich mit seinem schweren Körper ächzend und stöhnend der steilen Leiter an und verschwand langsam in der Tiefe.
»So, Korporal«, sagte Hornblower, »jetzt erzählen Sie dem Ersten Offizier alles, was Sie über den Vorfall wissen.«
Der Unteroffizier stand in militärischer Haltung vor seinen Vorgesetzten. Daß ihn nicht weniger als vier Leutnants zu gleicher Zeit voll Spannung ansahen, machte ihn nervös, wahrscheinlich war ihm bei der Geschichte nicht ganz wohl, weil er aus Erfahrung wußte, daß es einem armen Korporal meistens schlecht bekam, wenn er sich, und sei es auch ganz ohne seine Schuld, in eine unangenehme Geschichte verwickelt sah, die nur die Offiziere etwas anging. »So reden Sie endlich, Mann«, sagte Buckland gereizt. Er war offenkundig nervös, aber das war schließlich auch kein Wunder, wenn man als Erster Offizier erfuhr, daß dem Kommandanten ein ernster Unfall zugestoßen sei.
»Ich war Unteroffizier der Kommandantenwache, Sir. Um zwei Glasen ließ ich den Posten Kajüte ablösen.«
»Ja, und?«
»Und - und - dann legte ich mich wieder schlafen.«
»Verflucht noch mal«, sagte Roberts, »machen Sie endlich eine vernünftige Meldung.«
»Einer der Herren weckte mich dann wieder, Sir«, fuhr der Unteroffizier fort. »Ich glaube, er ist Feuerwerker.«
»Mr. Hobbs?«
»Ja, so heißt er wohl, Sir. Er sagte:›Befehl vom Kommandanten, die Wache soll aufziehen.‹Ich hole also die Wache heraus. Wie ich achtern ankomme, steht der Kommandant bei Wade, dem Posten Kajüte, den ich eben hatt aufziehen lassen. Er hatte Pistolen in den Händen, Sir.«
»Wer, Wade?«
»Nein, Sir, der Kommandant, Sir.«
»Wie benahm er sich denn?« fragte Hornblower. »Was sagte er, was tat er?«
»Nun, Sir...« Dem Unteroffizier wollte keine kritische Äußerung über seinen Kommandanten über die Lippen, nicht einmal einem Leutnant gegenüber.
»Schon gut, lassen wir das - fahren Sie fort.«
»Also der Kommandant sagte, Sir, er sagte:›Folgen Sie mir!‹, und dann sagte er zu dem anderen Herrn:›Tun Sie Ihre Pflicht, Mr. Hobbs.‹Da ging Mr. Hobbs weg, und wir kamen mit dem Kommandanten hier herunter.›Auf diesem Schiff liegt Meuterei in der Luft‹, sagte der Kommandant,›schwarze, blutige Meuterei. Wir müssen den Meuterern das Handwerk legen.
Fangt sie‹, sagte der Kommandant,›fangt sie auf frischer Tat.‹«
Der Kopf des Arztes erschien im Niedergang.
»Noch eine Laterne, bitte!« sagte er.
»Wie geht es dem Kommandanten?« fragte Buckland.
»Gehirnerschütterung und einige Knochenbrüche, soweit ich bis jetzt feststellen kann.«
»Ist sein Zustand ernst?«
»Kann ich noch nicht sagen. Wo bleiben nur meine Maate?
Endlich, Coleman. Holen Sie Schienen und Binden, aber so schnell wie möglich. Außerdem brauche ich eine Transportplanke, eine Persenning und Leinen. Laufen Sie, Mann! Pierce, Sie kommen herunter und helfen mir.«
Kaum hatten sich die beiden Sanitätsmaate gezeigt, da waren sie schon wieder verschwunden.
»Fahren Sie fort, Korporal«, sagte Buckland.
»Ich weiß nicht mehr genau, wo ich stehengeblieben war.«
»Der Kommandant hatte Sie hier heruntergeführt.«
»Jawohl, Sir. Er hatte in jeder Hand eine Pistole, Sir, wie ich schon sagte, Sir. Zwei Mann schickte er nach vorn.›Daß mir kein Loch offen bleibt‹, sagte er zu ihnen. Dann sagte er:›Und Sie, Korporal, nehmen die beiden anderen Leute mit hinunter in den Raum und suchen ihn ab!‹Dabei schrie er immer lauter, Sir, und in jeder Hand hielt er eine Pistole.«
Der Unteroffizier sah Buckland ängstlich an, als er das sagte.
»Schon gut, schon gut«, sagte Buckland, »halten Sie sich nur genau an die Wahrheit.«
Buckland war wesentlich ruhiger und sicherer geworden, seit er wußte, daß der Kommandant bewußtlos und vielleicht schwer verletzt war. Genauso war es übrigens Bush ergangen.
»Ich nahm also die anderen zwei Mann mit den Niedergang hinunter, Sir«, fuhr der Korporal fort. »Da ich kein Gewehr mit hatte, nahm ich die Laterne. Unten stiegen wir erst zwischen den Kisten herum, die dort gestapelt sind. Da schrie der Kommandant den Niedergang herunter:›Los, beeilt euch, laßt sie nicht entkommen, macht schnell!‹Da begannen wir, über die Ladung weg nach vorn zu klettern.«
Der Unteroffizier stockte ein bißchen, als er zum Höhepunkt seines Berichtes kam. Vielleicht suchte er nach einem dramatischen Knalleffekt, aber es war viel eher anzunehmen, daß er immer noch fürchtete, sich womöglich in eine dumme Geschichte zu verstricken, die ihm trotz seiner Unschuld üble Folgen eintrug.
»Was geschah dann weiter?« fragte Buckland.
»Nun, Sir...«
In diesem Augenblick tauchte Coleman auf. Er war mit allerhand Gerät bepackt, zu dem auch eine leichte, sechs Fuß lange Planke gehörte, die er auf der Schulter trug. Mit einem fragenden Blick erbat er sich von Buckland die Erlaubnis weitergehen zu dürfen, und erhielt ein stummes Kopfnicken als Antwort. Nun legte er die Planke, die Persenning und die Leinen an Deck und verschwand mit den übrigen Sachen im Niedergang.
»Also, wie ging es weiter?« fragte Buckland den Unteroffizier.
»Ich kann nicht sagen, was geschehen ist, Sir.«
»Dann sagen Sie uns wenigstens, was Sie wissen.«
»Ich hörte nur einen Schrei, Sir - und dann einen Krach. Da kehrte ich sofort um und ging mit der Laterne wieder nach achtern.«
»Und was fanden Sie dort?«
»Es war der Kommandant, Sir. Er lag am Fuß des Niedergangs. Wie tot, Sir. Er mußte den Niedergang heruntergestürzt sein, Sir.«
»Und was haben Sie darauf veranlaßt?« "
»Ich habe versucht ihn umzudrehen, Sir. Sein Gesicht war ganz voll Blut. Er war ohnmächtig, Sir. Erst habe ich geglaubt, er sei tot, aber dann konnte ich seinen Herzschlag fühlen.«
»Und?«
»Ich wußte wirklich nicht, was ich tun sollte, Sir. Da war doch diese Meuterei - und ich hatte keine Ahnung davon.«
»Zuletzt sind Sie dann doch zu einem Entschluß gekommen?«
»Jawohl, Sir. Ich ließ meine zwei Mann beim Kommandanten und ging nach oben, um Meldung zu machen. Ich wußte doch nicht, wem ich Vertrauen schenken konnte, Sir.«
Die Szene war nicht ohne Ironie - hier der Unteroffizier in Todesängsten, man könnte ihn wegen der lächerlichen Frage zur Rechenschaft ziehen, ob er einen Läufer hätte schicken sollen oder ob er selbst gehen durfte, und ihm gegenüber, gleichsam als sein Tribunal, die vier Leutnants, denen wirklich der Strick des Henkers drohte.
»Was weiter?«
»Ich begegnete Mr. Hornblower, Sir.«
Die veränderte Stimme des Unteroffiziers gab jetzt noch Kunde von der Erleichterung, die er gefühlt haben mußte, als er endlich jemand fand, der ihm die Zentnerlast seiner Verantwortung von den Schultern nahm.
»Der junge Wellard - so heißt er, glaube ich - war bei ihm.
Als ich Mr. Hornblower gemeldet hatte, was mit dem Kommandanten geschehen war, befahl er mir, mit meiner Wache hier aufzuziehen.«
»Ich habe den Eindruck, daß Sie sich durchaus richtig verhalten haben«, sagte Buckland anerkennend.
»Besten Dank, Sir, besten Dank.«
Jetzt kam Coleman die Treppe heraufgeklettert, holte, wieder mit einem erlaubnisheischenden Blick auf Buckland, die Geräte, die er vorhin zurückgelassen hatte, und reichte sie durch das Niedergangsluk nach unten. Dann stieg er selbst wieder hinunter. Bush wandte immer noch kein Auge von dem Unteroffizier, der jetzt mit seinem Bericht zu Ende war und sich unter den starren, musternden Blicken der vier Leutnants sichtlich unwohl fühlte.
»Noch eins«, nahm Hornblower unerwartet und in bestimmtem Ton das Wort. »Haben Sie eine Vorstellung, wie es kommen konnte, daß der Kommandant durch das Luk abstürzte?«
»Nein, Sir, das ist mir ganz unerklärlich, Sir.«
Hornblower warf einen einzigen, kurzen Blick auf seine Kameraden. Beides, die Worte des Korporals und dieser Blick, wirkte unendlich beruhigend.
»Sie sagten doch, er sei sehr aufgeregt gewesen? Los, Mann, machen Sie doch den Mund auf!«
»Jawohl, Sir.« Der Unteroffizier erinnerte sich an seine etwa unvorsichtige Äußerung von vorhin und begann nun plötzlich, ungehemmt draufloszuschwatzen: »Ja, er schrie durch die Luke hinter uns her, Sir. Wahrscheinlich hat er sich dabei zu weit vorgebeugt. Und als das Schiff nach vorn einsetzte, bekam er dann wohl das Übergewicht. Da konnte es leicht sein, Sir, daß er mit dem Fuß am Luksüll hängenblieb und kopfüber hinunterstürzte.«
»Ja, so muß es wohl gewesen sein«, sagte Hornblower.
Clive kam den Niedergang hochgeklettert und turnte steif und ungelenk über das Süll.
»Wir schaffen ihn jetzt herauf«, sagte er. Mit einem Blick auf die vier Leutnants schob er die Hand in den Ausschnitt seines Hemdes und brachte eine Pistole zum Vorschein. »Die lag neben ihm.«
»Ich nehme sie an mich«, sagte Buckland.
»Nach dem, was wir gehört haben, muß noch eine zweite Pistole unten liegen«, sagte Roberts, der sich damit zum ersten Male vernehmen ließ. Er sprach überlaut, die Aufregung hatte ihn sichtlich mitgenommen, und sein ganzes Gebaren mußte jeden argwöhnisch machen, der irgendeinen Verdacht hegte.
Bush ärgerte sich über ihn und fühlte sich zugleich von neuer Angst und Sorge gepackt.
»Ich werde danach suchen lassen, wenn wir den Kommandanten oben haben«, sagte Clive. Er beugte sich über das Luk und rief hinunter: »Los jetzt, bringen Sie ihn!«
Coleman erschien zuerst. Er kam mit einem Paar Leinen in der Hand den Niedergang heraufgeklettert, hinter ihm tauchte einer der Seesoldaten auf, der sich mit einer Hand krampfhaft an die steile Treppe klammerte und mit der anderen eine schwere Last hinter sich herzog.
»Vorsicht, Vorsicht jetzt!« mahnte Clive.
Nun war auch der Seesoldat oben angelangt und holte mi Coleman zusammen das Kopfende der Planke herauf, die den verletzten Kommandanten trug. Man hatte ihn wie eine Mumie fest in die Persenning gewickelt und unverrückbar auf dem dünnen Holzbrett festgelascht, weil das die einzige brauchbare Methode war, einen Mann mit Knochenbrüchen steile Niedergänge hochzuschaffen. Pierce, der zweite Sanitätsmaat, kam jetzt hinterher und steuerte das Fußende der Planke. Die Leutnants drängten sich herzu, um mit Hand anzulegen, als die Bahre über das Luksüll gehoben werden mußte. Im Licht der Laternen erhaschte Bush einen Blick auf das Gesicht des Kommandanten, das bleich aus der Hülle der Persenning hervorstach. Es wirkte still und ausdruckslos, allerdings konnte man nicht allzuviel davon erkennen, weil ein dicker weißer Verband das eine Auge und die Nase verdeckte. Die eine Schläfe trug noch Blutspuren, die der Arzt nicht ganz beseitigt hatte.
»Bringen Sie ihn in die Kajüte«, sagte Buckland.
Dieser Befehl war entscheidend und gab dem Augenblick, in dem er ausgesprochen wurde, ein besonderes Gewicht. War der Kommandant eines Kriegsschiffes nicht in der Lage, seinen Dienst zu versehen, dann war es Pflicht des Ersten Offiziers, das Kommando zu übernehmen. Mit seinen kurzen sechs Worten hatte Buckland das getan. Wenn er die Führung des Schiffes einmal innehatte, dann war er sogar berechtigt, über die geheiligte Person des Kommandanten zu verfügen. Indes fiel seine Maßnahme bei all ihrer Bedeutung doch nicht aus dem Rahmen der Bordroutine. Buckland hatte schon oft genug die Stelle des Kommandanten vertreten, wenn dieser vorübergehend abwesend war. Also ließ er sich auch in diesen schweren Stunden getrost von den Regeln der Routine leiten. Dreißig Jahre Borddienstzeit als Fähnrich und Leutnant hatten ihn außerdem so viel Selbstbeherrschung gelehrt, daß er auch jetzt seinen jüngeren Kameraden gegenüber der alte blieb und überlegt zu handeln wußte, obwohl er gewärtigen mußte, da schon in allernächster Zukunft ein furchtbares Schicksal über ihn hereinbrach. Jetzt war Buckland also Kommandant, und Bush machte dazu etwas nachdenkliche Augen. Er konnte nicht recht daran glauben, daß Routine, Gewohnheit, Erfahrung in diesem Fall auch auf die Dauer ihre Früchte trugen. Buckland war ganz offensichtlich seelisch etwas aus dem Gleichgewicht.
Das war ohne weiteres zu begreifen, wenn man die Last der Verantwortung bedachte, die ihm unter so dramatischen Umständen aufgebürdet worden war. Jeder arglose Außenstehende, der nicht um die geheimen Hintergründe wußte, hätte sich selbstverständlich mit dieser Erklärung zufriedengegeben. Aber Bush sah eben tiefer. Ihn verfolgte ständig die Angst, er fragte sich immer wieder verzweifelt, was der Kommandant wohl unternehmen würde, wenn er wieder zu sich kam. Und jetzt entdeckte er voll neuer Sorge, daß Buckland seine eigene Angst teilte. Wenn das so war, wenn Buckland ebensoviel an den Sträflingskittel, an das Kriegsgericht und an den Henkerstrick dachte wie er selbst, dann konnte er unmöglich seinen Mann stehen. Dabei war gerade sein Auftreten vielleicht entscheidend für das Schicksal - um nicht zu sagen das Leben - er Offiziere dieses Schiffes.
»Verzeihung, Sir«, meldete sich jetzt Hornblower.
»Ja - bitte?« sagte Buckland, und dann noch einmal etwas gezwungen: »Ja, Mr. Hornblower?«
»Darf ich die Aussage des Unteroffiziers gleich schriftlich niederlegen, solange er alle Einzelheiten frisch im Gedächtnis hat, Sir?«
»Einverstanden, Mr. Hornblower.«
»Danke, Sir«, sagte Hornblower. Dabei machte er ein völlig undurchdringliches Gesicht, das keine andere Regung verriet als achtungsvolle Beflissenheit. Er wandte sich an den Korporal:
»Melden Sie sich in meiner Kammer, wenn der Posten Kajüte abgelöst ist.«
»Jawohl, Sir.«
Der Arzt und seine Leute hatten den Kommandanten inzwischen weggebracht, aber Buckland machte immer noch keine Miene, sich vom Fleck zu rühren. Er war wie gelähmt.
»Unten liegt noch die zweite Pistole des Kommandanten, Sir«, erinnerte Hornblower, ehrerbietig wie immer.
»Ach ja, richtig.« Buckland sah sich suchend um.
»Da wäre zum Beispiel Wellard, Sir.«
»Ja, nehmen wir den.«
»Mr. Wellard«, sagte Hornblower, »steigen Sie mit einer Laterne in den Raum und suchen Sie nach der zweiten Pistole des Kommandanten. Wenn Sie sie gefunden haben, bringen Sie sie sofort dem Ersten Offizier auf das Achterdeck.«
»Aye, aye, Sir.«
Wellard hatte sich schon recht gut von seiner Aufregung erholt und wandte seit einer ganzen Weile kein Auge von Hornblower. Jetzt griff er nach der Laterne und stieg damit in den Raum hinunter. Buckland war nun doch ins Bewußtsein gedrungen, was Hornblower vom Achterdeck gesagt hatte.
Gefolgt von den anderen, machte er sich endlich auf den Weg.
Im unteren Batteriedeck erwies ihm der Hauptmann Whiting eine Ehrenbezeigung.
»Haben Sie noch Befehle für mich, Sir?«
Die Nachricht vom Unfall des Kommandanten und von der Kommandoübernahme durch Buckland mußte sich wie ein Lauffeuer im Schiff verbreitet haben. Buckland war immer noch ganz benommen, es dauerte Sekunden, ehe sein Gehirn auf Whitings Frage ansprach.
»Nein, Herr Hauptmann«, sagte er endlich, dann fügte er hinzu: »Lassen Sie Ihre Leute wegtreten.«
Als die Offiziere auf dem Achterdeck erschienen, wehte der Passat so frisch wie immer von Steuerbord achtern, und di Renown jagte nach wie vor mit höchster Fahrt durch den Märchenzauber des Atlantik. Zu ihren Häupten ragten die riesigen weißen Pyramiden der Segel hoch in das Sternenmeer, und die drei Toppen zogen mit den weichen, wiegenden Bewegungen des Schiffes ihre weiten, schwingenden Kreise am Himmel. An Backbord achtern war eben der halbe Mond aus der See getaucht, er hing als goldenes Wunder über der Kimm und zog eine lange, glitzernde Bahn bis zum Schiff. Die dunklen Gestalten der Männer an Deck hoben sich deutlich von den hell leuchtenden Planken ab.
Smith hatte die Wache. Er kam ihnen schon mit Spannung entgegen, als sie die Treppe zum Achterdeck heraufstiegen. Eine Stunde und länger war er wie im Fieber auf und ab gewandert, hatte den Lärm und das Gerenne unter Deck gehört, hatte alle möglichen Schauergeschichten vernommen, die sofort im Schiff kursierten, und war doch außerstande gewesen, seinen Posten zu verlassen und sich zu überzeugen, was wirklich geschehen war.
»Was ist denn los, Sir?« fragte er Buckland.
Smith wußte nichts von der geheimen Zusammenkunft der vier anderen Leutnants, der Kommandant hatte ihn auch nicht so schlecht behandelt wie die anderen, aber die allgemeine Unzufriedenheit seiner Kameraden konnte ihm nicht entgangen sein. Er mußte sich ebenso wie sie eine Ansicht über den Geisteszustand des Kommandanten gebildet haben. Aber Buckland war im Augenblick auf seine Frage nicht vorbereitet, er hatte sich noch keine passende Erklärung zurechtgelegt und fand daher nicht gleich eine Antwort. Am Ende kam Hornblower zu Hilfe.
»Der Kommandant ist in den Raum gestürzt«, sagte er gelassen und ohne merkliche Betonung. »Man hat ihn eben bewußtlos in die Kajüte gebracht.«
»In den Raum gestürzt? Um Gottes willen, wie ist denn so etwas möglich?« fragte Smith ehrlich bestürzt.
»Er war auf der Jagd nach Meuterern«, erwiderte Hornblower ebenso ruhig und sachlich wie zuvor.
»Ach so«, sagte Smith. »Aber...«
Er stockte. Hornblowers unbeteiligte Redeweise hatte ihm verraten, daß er sich auf gefährliches Gebiet begab. Wenn er weiter fragte, dann kam unweigerlich der Geisteszustand des Kommandanten zur Sprache, und dann konnte auch er nicht umhin, seine Meinung dazu zu äußern. Da schien es ihm doch besser, seine Neugier zu zügeln.
»Sechs Glasen, Sir«, meldete der Bootsmaat der Wache.
»Gut«, sagte Smith automatisch.
»Ich muß jetzt die Aussage des Korporals niederlegen, Sir«, sagte Hornblower. »Bei acht Glasen komme ich auf Wache.«
Als stellvertretender Kommandant konnte Buckland ohne weiteres den lächerlichen Befehl aufheben, demzufolge Hornblower Wache um Wache ging und Bush und Roberts sich stündlich bei ihm zu melden hatten. Eine Sekunde lang herrschte verlegenes Schweigen. Niemand wußte, wie lange der Kommandant noch bewußtlos war und in welchem Zustand er sich befinden würde, wenn er wieder zu sich kam.
In diesem Augenblick kam Wellard auf das Achterdeck gerannt. »Hier ist die zweite Pistole, Sir«, sagte er und händigte sie Buckland aus. Der nahm sie ihm aus der Hand und zog sogleich die andere Waffe aus der Tasche. Offenbar wußte er nicht recht, was er mit den Dingern anfangen sollte.
»Soll ich Sie davon befreien, Sir?« fragte Hornblower und nahm sie ihm ab. »Wellard könnte mir beim Protokollieren mit dem Unteroffizier von Nutzen sein. Darf ich ihn mitnehmen, Sir?«
»Ja«, sagte Buckland.
Hornblower ging, gefolgt von Wellard, unter Deck.
»Einen Augenblick, Mr. Hornblower...«, sagte Buckland.
»Sir?«
»Ach... nichts«, sagte Buckland. Seine Stimme verriet die Unentschlossenheit, unter der er litt.
»Verzeihung, Sir, an Ihrer Stelle würde ich jetzt etwas ruhen«, sagte Hornblower, der schon im achteren Niedergang stand.
»Sie haben eine anstrengende Nacht hinter sich.«
Bush war in diesem Punkt von Herzen einer Meinung mit Hornblower. Nicht, als ob es ihn gekümmert hätte, ob Buckland wirklich so überanstrengt war oder nicht, es kam ihm vielmehr darauf an, daß jener sich endlich in seine Kammer zurückzog, weil er dort wenigstens nicht in die Lage kam, sich selbst - und seine Mitverschworenen - durch unvorsichtige Reden bloßzustellen. Endlich dämmerte es Bush, daß auch Hornblower in Wirklichkeit nichts anderes im Sinn haben konnte. Es war ihm unangenehm, daß Hornblower unter Deck gegangen war, und er war sich völlig darüber klar, daß ihn Buckland ebenso vermißte. Hornblower hatte einen klaren Kopf, er besaß die Fähigkeit, in jeder Gefahr blitzschnell zu denken. Sein Beispiel hatte sie dazu gebracht, sich nach dem Alarm unter Deck natürlich und ungezwungen zu benehmen. Vielleicht hatte er ein Geheimnis, das er nicht mit ihnen teilte, vielleicht wußte er Genaueres als sie darüber, wie der Kommandant im Raum zu Schaden gekommen war. Bush dachte ganz benommen über solche Möglichkeiten nach - aber wenn das wirklich der Fall war, dann hatte es Hornblower jedenfalls meisterhaft verstanden, sein geheimes Wissen vor ihnen zu verbergen.
»Ich möchte nur wissen, wann dieser verfluchte Doktor endlich mit seiner Meldung kommt!« sagte Buckland, ohne sich an jemand Bestimmten zu wenden.
»Warum legen Sie sich nicht solange hin, Sir?« fragte Bush.
»Sie haben recht, ich gehe eine Weile unter Deck.« Buckland zögerte, ehe er weitersprach: »Meine Herren, es scheint mir das beste, wenn Sie sich weiter stündlich bei mir melden, wie es de Kommandant befohlen hat.«
»Aye, aye, Sir«, sagten Bush und Roberts.
Das hieß, überlegte Bush, daß Buckland kein Risiko laufen wollte. Wenn der Kommandant zu sich kam, mußte er gleich erfahren, daß seine Befehle weiter ausgeführt wurden. Als er jetzt nach unten ging, hatte er den einen brennenden Wunsch, wenigstens eine Stunde Schlaf zu finden, ehe er sich wieder melden mußte. Er mußte jedoch bald einsehen, daß seine Hoffnung umsonst war. Durch die dünne Wand, die seine Kammer von der benachbarten trennte, hörte er fortwährend Stimmengemurmel, denn dort war Hornblower an der Arbeit, die Aussage des Korporals zu Papier zu bringen.