9. Kapitel
Die Seebrise war mit der fortschreitenden Abkühlung des Landes schlafen gegangen, und damit hatten jene erstickend schwülen Nachtstunden begonnen, die die Folge des Druckausgleichs zwischen Ozean und Inseln waren. Wenige Meilen seewärts wehte wie seit Ewigkeiten der Passat, hier unter Land war es dumpf und feucht und still. Die lange Dünung des Atlantiks verlor schon an den äußersten Sänden weit vor der Küste ihre volle Gewalt, aber sie lebte dennoch weiter. Matt wie ein einstmals starker Mann, den eine Krankheit geschwächt hat, rollte sie westwärts der Küste zu, bis sie rhythmisch aufrauschend zu Gischt zerbarst. Hier, wo die Kalksteinklippen der Halbinsel Samana begannen, gab es einen geschützten Winkel. Gerade am äußersten östlichen Ende des breiten Strandes hatte nämlich ein kleiner Wasserlauf ein breites Bett in den Hang des Kliffs gefressen.
See und Brandung und Küste schienen in Flammen zu stehen, so stark strahlte das Meerleuchten in der dunklen Nacht. Es erhob sich in der Brandung, lief mit den Brechern den Strand hinauf und ließ die Blätter der Riemen hell erstrahlen, als die Barkassen zur Küste ruderten. Die Boote schienen in einem Feuermeer zu schwimmen, das sich an ihren vorübergleitenden Rümpfen immer neu entzündete. Jede der Barkassen hinterließ eine flammende Kielspur und rechts und links davon zwei weitere, von den Riemen aufgewühlte glühende Bahnen.
Landung und erster Anstieg gingen am unteren Ende der erwähnten Wasserrinne leicht vonstatten. Die Barkasse wühlten sich knirschend in den Sand, und die Landungsabteilung brauchte nur herauszuklettern. Das Wasser - ein, das flüssige Feuer - reichte ihnen anfangs bis zu den Hüften, sorgsam hielten sie ihre Musketen samt Munition über die Köpfe, damit sie ja nicht naß wurden. Auch die ältesten Seeleute der Abteilung hatten noch nie ein Meerleuchten von solchem Glanz gesehen, auf die Neulinge machte es einen solchen Eindruck, daß sie alle aufgeregt durcheinander zu schwatzen begannen und mit scharfen Worten zur Ruhe verwiesen werden mußten. Bush war als einer der ersten aus der Barkaß geklettert; er patschte den anderen voran ans Ufer und mußte sich erst eine Weile an den festen Boden unter den Füßen gewöhnen, als er mit triefender Hose an Land stand und auf seine Männer wartete.
Von der anderen Barkaß her trat ein dunkler Schatten auf ihn zu.
»Meine Gruppe ist vollzählig an Land, Sir«, meldete die Gestalt.
»Danke sehr, Mr. Hornblower.«
»Darf ich mit der Vorhut den Anstieg in der Rinne beginnen, Sir.«
»Gewiß, Mr. Hornblower, handeln Sie nach Ihrem Befehl.«
Bush war so gespannt und aufgeregt, wie es seine stoische Erziehung und seine phlegmatische Wesensart überhaupt zuließen. Er hätte sich am liebsten sofort in den Kampf gestürzt, aber das ließ der wohldurchdachte, gemeinsam mit Hornblower aufgestellte Plan für das Unternehmen nicht zu. Er stand beiseite, während seine eigene Abteilung antrat; ein Stückchen abseits gab Hornblower seinen Leuten gedämpfte Kommandos.
»Kolonne zu Einem! Der erste folgt mir dicht auf, jeder hält Fühlung mit seinem Vordermann! Denkt daran, daß eure Musketen nicht geladen sind, es hat keinen Zweck, mit dem Hahn zu schnappen, wenn wir auf einen Feind stoßen. Da hilf nur kalter Stahl. Sollte es aber einem von euch in seiner Dummheit einfallen, zu laden und zu schießen, dann kann sich der gleich morgen am Fallreep auf vier Dutzend Hiebe gefaßt machen. Das garantiere ich ihm. Wooltonl«
»Sir!«
»Sie machen den Beschluß. So, und nun geht's los. Vom rechten Flügel - folgen!«
Hornblowers Abteilung verschwand Mann für Mann in der Dunkelheit. Schon kamen die Seesoldaten an Land, ihre roten Waffenröcke hoben sich als dunkle Schatten gegen das Meerleuchten ab, und als sie angetreten waren, stand ihr weißes Riemenzeug wie eine doppelt helle Zickzacklinie gegen den nächtlichen Hintergrund. Ihre Unteroffiziere eilten geschäftig hin und her und traktierten die Männer mit gedämpften Befehlen. Bush hielt die Linke immer noch am Säbelgriff, mit der Rechten prüfte er wieder und wieder, ob seine Pistolen richtig im Koppel steckten und ob er die Patronen in der Tasche hatte. Eine schwarze Schattengestalt trat vor ihn hin und klappte militärisch die Hacken zusammen.
»Abteilung vollzählig angetreten, Sir - klar zum Abrücken!« eldete Whiting.
»Besten Dank. Dann setzen wir uns gleich in Marsch. Mr. Abbott!«
»Sir?«
»Sie wissen ja, was Sie zu tun haben. Ich rücke jetzt mit den Seesoldaten ab. Sie folgen uns dicht auf.«
»Aye, aye, Sir.«
Der Aufstieg durch die Rinne war lang und beschwerlich. An Stelle des sandigen Bodens zeigte sich bald blanker Fels, Kalkgestein in breiten flachen Stufen. Aber der Fels war nicht etwa kahl, dank dem reichlichen Regen, der hier an der Nordseite der Insel fiel, wuchs aus allen seinen Ritzen dichte Buschwerk. Nur das eigentliche Bachbett, das jetzt trocken war, da der poröse Fels alles Wasser eingesogen hatte, bot einen einigermaßen gangbaren Weg - soweit von Weg überhaupt die Rede sein konnte, denn auch hier ging es über scharfkantiges Geröll und häßliche Steine, auch hier verbaute einem alle Augenblicke ein steiler Absatz den Weg, über den sich Bush jedesmal auf allen vieren emporquälen mußte. Schon nach wenigen Minuten war er in Schweiß gebadet, aber er kletterte verbissen weiter. Die Seesoldaten krochen schwerfällig hinter ihm drein, ihre Sohlen knirschten im Gestein, ihre Waffen und Ausrüstungsstücke klapperten, so daß man unwillkürlich meinte, man müßte die Kolonne meilenweit hören.
Jetzt rutschte einer aus und begann laut zu fluchen.
»Halt gefälligst den Rand!« schnauzte ein Korporal. »Ruhe da!« knurrte Whiting böse über seine Schulter hinweg. So ging es langsam immer weiter bergan. Hier und dort standen die Bäume und Sträucher so hoch und dicht, daß sie das schwache Licht der Sterne vollends verdunkelten, dann konnte sich Bush nur noch mit den Händen von Stein zu Stein vorwärtstasten, sein Atem ging keuchend, er mußte sich trotz seiner Riesenkräfte völlig verausgaben. Hie und da geriet er beim Klettern in einen Schwarm von Glühwürmchen; er hatte seit Jahren keine mehr gesehen, aber heute vermochten sie ihn trotzdem nicht zu fesseln. Dafür riefen sie bei den nachfolgenden Seesoldaten alsbald ein aufgeregtes Geschnatter hervor, so daß Bush über diese unbeherrschten Tölpel in helle Wut geriet, weil sie durch ihre dummen Bemerkungen womöglich alles aufs Spiel setzten - hr eigenes Leben so gut wie den Erfolg des ganzen Unternehmens.
»Ich will den Brüdern den Kopf zurechtsetzen«, sagte Whiting und fiel zurück, um sich von der Kolonne überholen zu lassen.
Ein Stück weiter oben klang Bush aus der Dunkelheit eine helle Knabenstimme entgegen, deren Besitzer offenbar nac Kräften bemüht war, gedämpft zu sprechen.
»Mr. Bush, Sir?«
»Ja, der bin ich.«
»Hier ist Wellard, Sir. Mr. Hornblower schickt mich zurück, daß ich als Führer dienen kann. Nur noch etwas höher, dann beginnt grasbewachsenes Land.«
»Sehr schön«, sagte Bush.
Er machte eine Weile halt und wischte sich mit dem Rockärmel den Schweiß vom Gesicht, während die Kolonne hinter ihm aufrückte. Als er sich wieder in Bewegung setzte, brauchte er wirklich nicht mehr lange zu klettern; Wellard führte ihn nur noch an einer Gruppe dunkler Schattenbäume vorüber, und schon fühlte er - o Wohltat! - das weiche Gras unter den Füßen. Jetzt schritt sich's auch gleich leichter aus; es ging zwar noch immer bergan, aber dieser sanfte Hang war nur noch Spielerei im Vergleich mit der steilen, felsigen Rinne. Von vorn kam ein leiser Anruf.
»Gut Freund«, antwortete Wellard. »Hier ist Mr. Bush.«
»Willkommen, Sir«, sagte eine andere Stimme, sie gehörte Hornblower.
Hornblower löste sich aus der Dunkelheit und kam herbei, um seine Meldung zu machen.
»Meine Abteilung hat ein wenig weiter vorn gesammelt, Sir; ich habe Saddler mit zwei zuverlässigen Leuten als Spähtrupp vorausgeschickt.«
»Sehr gut«, sagte Bush - man merkte, daß es ihm von Herzen kam. Der Feldwebel der Seesoldaten machte Whiting Meldung.
»Alles zur Stelle, Sir, außer Chapman, Sir; hat sich den Knöchel verstaucht oder behauptet es wenigstens, Sir. Mußte ihn zurücklassen, Sir.«
»Lassen Sie Ihre Männer rasten, Hauptmann Whiting«, sagte Bush.
Das Leben auf dem engen Raum eines Schiffes war natürlich alles andere als die richtige Vorbereitung auf eine Felskletterei in den Tropen. Dazu kam, daß der vorangegangene Tag ohnehin bis zur Erschöpfung anstrengend gewesen war. Die Seesoldaten ließen sich fallen, wo sie standen, einige stöhnten erleichtert auf, was ihnen sofort von ihrem Feldwebel mit kräftigen Fußtritten heimgezahlt wurde.
»Wir sind hier auf dem Kamm, Sir«, sagte Hornblower. »Ein Stückchen weiter vorn können Sie schon in die Bucht hinuntersehen.«
»Dann hätten wir also noch drei Meilen bis zum Fort?«
Eigentlich wollte Bush keine Frage stellen, da er ja die Führung hatte, aber Hornblower war mit seinen Auskünften so rasch und sicher zur Hand, daß er unwillkürlich weiter in ihn drang.
»Ja, wahrscheinlich. Mehr als vier auf keinen Fall, Sir. In vier Stunden beginnt die Dämmerung, und der Mond geht in einer halben Stunde auf.«
»Ja.«
»Wie zu erwarten war, haben wir auf dem Kamm eine Art Pfad oder Steig entdeckt, Sir. Er dürfte zum Fort führen.«
»Das ist anzunehmen.«
Dieser Hornblower war wirklich ein angenehmer Untergebener. Bush fand es jetzt auch ganz natürlich, daß auf dem Kamm der Halbinsel ein Weg entlangführte - es war wohl das Gegebene -, und doch hatte er bis zu diesem Augenblick nicht an eine solche Möglichkeit gedacht.
»Wenn Sie gestatten, Sir«, fuhr Hornblower fort, »dann möchte ich jetzt James das Kommando über meine Abteilung übergeben und selbst mit Saddler und Wellard vorstoßen, um das Gelände näher zu erkunden.«
»Einverstanden, Mr. Hornblower.«
Kaum war Hornblower in der Dunkelheit verschwunden, al sich bei Bush eine unbestimmte Gereiztheit gegen ihn geltend machte. Nahm sich der junge Mensch nicht allzuviel heraus?
Bush gehörte nicht zu den Leuten, die sich einen Einbruch in ihre Befehlsgewalt gefallen lassen. Er wurde von diesem unerfreulichen Gedanken wieder abgelenkt, als jetzt die zweite Matrosenabteilung schwitzend und keuchend auf dem Plan erschien und damit wieder Anschluß an das Gros gefunden hatte. Da er noch genau wußte, wie erschöpft er selbst bei seiner Ankunft gewesen war, gewährte er auch diesen Männern noch eine ausreichende Rast, ehe er mit seiner gesammelten Streitmacht weiter vorrückte. Sogar in dieser dunklen Nacht hatte eine Wolke von Mücken die schweißdampfende Kolonne entdeckt; sie sangen auch Bush unablässig um die Ohren und traktierten ihn bei jeder Gelegenheit mit wütenden Stichen. Die Besatzung der Renown war lange auf See gewesen und hatte darum offenbar ein besonders süßes, wohlschmeckendes Blut.
Immer wieder klatschte sich Bush fluchend ins Gesicht, und seine Untergebenen folgten eifrig seinem Beispiel.
»Mr. Bush, Sir?«
Es war Hornblower. Er war also von seiner Erkundung zurückgekehrt.
»Ja?«
»Es handelt sich um einen ausgetretenen Pfad, Sir. Dicht vor uns kreuzt er einen Graben, aber der bildet kein ernstes Hindernis.«
»Danke, Mr. Hornblower. Wir wollen uns wieder in Marsch setzen. Bitte, treten Sie mit Ihrer Abteilung an.«
»Aye, aye, Sir.«
Der Vormarsch begann. Die runden Kalksteinkuppen, die den Kamm der Halbinsel bildeten, waren mit langem Gras bedeckt und hier und dort mit einzelnen Bäumen bestanden. Abseits des Pfades war das Gehen nicht ganz einfach, da das Gras in dichten, unregelmäßigen Büscheln wucherte, auf dem We selbst ging es sich verhältnismäßig leicht, jedenfalls konnten sich die Männer wohlaufgeschlossen in einer Art Marschkolonne voranbewegen. Ihre Augen hatten sich völlig an die Dunkelheit gewöhnt, so daß sie in der sternhellen Nacht ohne Schwierigkeit den Weg erkennen konnten. Der Graben, von dem Hornblower gesprochen hatte, entpuppte sich als ein flacher Einschnitt mit sacht abfallenden Seiten und bot keinerlei Hindernis. Bush stapfte mit Whiting an seiner Seite an der Spitze der Seesoldaten voran, die dunkle Tropennacht schlug sich um seine Glieder wie ein feuchtwarmes Handtuch. Der ganze Marsch hatte für ihn überhaupt etwas Traumhaftes, was sich wahrscheinlich dadurch erklären ließ, daß er volle vierundzwanzig Stunden nicht geschlafen hatte und von den Anstrengungen des verflossenen Tages noch wie vor den Kopf geschlagen war. Der Pfad stieg immer noch langsam an - atürlich, das war nicht anders zu erwarten, da er ja nach dem höchsten Punkt der Halbinsel führte, auf dem das Fort gelegen war.
»Ah!« sagte Whiting plötzlich. Der Weg hatte sich allmählich mehr nach rechts gezogen, damit führte er weiter vom Meere weg und näher zur Bucht hin. Jetzt hatten sie das Rückgrat der Halbinsel überquert, und jenseits desselben tat sich der Blick über die Bucht auf. Rechter Hand reichte das Auge über die Einfahrt bis nach See hinaus, dort war es nicht so dunkel wie anderwärts, weil sich das schwache Licht des aufgehenden Mondes durch die tief über der Kimm hängenden Wolkenbänke fraß. »Mr. Bush, Sir?«
Das war Wellard, er hatte seine Stimme diesmal besser in der Gewalt »Ja? Hier bin ich.«
»Mr. Hornblower hat mich zurückgesandt, Sir. Vorn kommt noch ein weiterer Graben quer über den Weg. Außerdem sind wir auf eine Viehherde gestoßen. Die Tiere schliefen dicht am Weg, und wir haben sie geweckt. Jetzt laufen sie überall herum.«
»Danke, ich bin im Bilde«, sagte Bush.
Bush hielt bitter wenig vom sogenannten gemeinen Mann samt all den sogenannten Unterführern, die die Masse der ihm unterstellten Truppe ausmachten. Wenn Leute dieses Schlages auf einem nächtlichen Marsch unversehens auf Kühe stießen, dann dachten sie unter Garantie, sie hätten den Feind vor sich.
Das gab Aufregung und Lärm, womöglich fingen sogar irgendwelche Idioten an zu schießen.
»Sagen Sie Mr. Hornblower, ich werde fünfzehn Minuten Marschpause einlegen.«
»Aye, aye, Sir.«
Solange noch genügend Zeit war, konnte eine Rast den müden Männern nur guttun. Außerdem bot sie der Kolonne wieder einmal Gelegenheit zum Aufschließen. Während der Marschpause konnte man die Leute persönlich und einzeln vornehmen und auf die Begegnung mit dem Vieh vorbereiten.
Durchsagen allein tat nie den gleichen Dienst, das wußte Bush genau. Die Männer waren müde und schwer von Begriff, da kam am Ende der größte Unsinn heraus. Er gab also den Haltbefehl, und die Kolonne kam zum Stillstand. Natürlich rannte der und jener verschlafen gegen seinen Vordermann, das gab Gepolter und Gemurmel, und die Unteroffiziere hatten alle Mühe, dem Lärm mit zischend hervorgestoßenen Flüchen ein Ende zu machen. Während die im Gras liegenden Leute noch auf das Zusammentreffen mit der Viehherde vorbereitet wurden, trat schon die nächste Sorge an Bush heran. Ein Maat meldete ihm:
»Matrose Black, Sir. Er ist betrunken, Sir.«
»Wie, betrunken?«
»Jawohl, Sir, er muß Schnaps in seiner Feldflasche gehabt haben, Sir. Man riecht es an seinem Atem. Ich weiß nicht, wie er darangekommen ist, Sir.«
Wenn man hundertachtzig Matrosen und Seesoldaten unte sich hatte, konnte man damit rechnen, daß mindestens einer davon betrunken war. Die Findigkeit des britischen Seemanns im Aufspüren von Alkohol und seine Neigung, des Guten zuviel zu tun, gehörten sozusagen zu seiner körperlichen Konstitution und waren so wenig von ihm wegzudenken wie seine Ohren oder seine Nase.
»Wo ist denn der Kerl jetzt?«
»Er hat Krach gemacht, Sir, da habe ich ihm eins aufs Ohr gegeben, jetzt hält er die Schnauze.«
Es war für Bush nicht schwer zu erraten, daß dieser kurze Satz manches unausgesprochen ließ, aber er hatte keine Veranlassung, der Sache weiter nachzugehen. Viel wichtiger war, daß er gleich die richtigen Maßnahmen ergriff.
»Suchen Sie einen zuverlässigen Mann aus und lassen Sie ihn mit Black zurück, wenn wir den Marsch fortsetzen.«
»Aye, aye, Sir.«
Damit war die Landungsabteilung nicht nur um den betrunkenen Black schwächer geworden, sondern noch um einen zweiten Mann, der bei ihm bleiben mußte, um weiteren Unfug zu verhindern. Ein Glück immerhin, daß es bis jetzt nicht noch mehr solche Nachzügler gab. Als sich die Kolonne eben wieder in Bewegung setzte, tauchte vorn im schwachen Mondlicht ein schlaksiger Schatten auf. Es war unverkennbar Hornblower. Er fiel neben Bush in Schritt und machte seine Meldung.
»Ich habe das Fort gesichtet, Sir.«
»Wirklich?«
»Jawohl, Sir. Etwa eine Meile von hier kommt wieder ein Graben, und jenseits davon liegt das Fort. Man kann es gegen den Mond ganz deutlich erkennen. Vom Graben aus ist es höchstens noch eine halbe Meile bis dorthin, vielleicht sogar noch weniger. Ich habe Wellard und Saddler im Grabe zurückgelassen; sie haben Befehl, die Kolonne dort anzuhalten.«
»Besten Dank.«
Bush stapfte unverdrossen über das unebene Gelände voran.
Jetzt wuchs trotz aller Müdigkeit seine innere Spannung; er glich einem Tiger, der endlich Witterung von seiner Beute hat und die Muskeln zum Sprunge spannt. Bush war eine echte Kampfnatur, das Bewußtsein, unmittelbar am Feind zu stehen, wirkte auf ihn wie ein berauschender Trunk. Noch zwei Stunden bis Sonnenaufgang, das war fast länger, als ihm lieb war.
»Sie sagen, vom Graben zum Fort sei es noch eine halbe Meile?« fragte er.
»Kaum so viel, Sir.«
»Gut, dann mache ich dort halt und warte, bis es hell wird.«
»Jawohl, Sir. Darf ich mich jetzt abmelden, um zu meiner Abteilung zurückzukehren?«
»Bitte, Mr. Hornblower.«
Bush und Whiting mäßigten ihr Marschtempo zu einem kurzen, taktfesten Schritt, bei dem auch der langsamste und schwerfälligste Mann der ganzen Kolonne mitkam. In diesen Minuten bedeutete es für Bush einen harten Verzicht, daß er dem Feind nicht sofort im Sturmschritt entgegeneilen konnte.
Hornblower rannte mit großen Schritten nach vorn, und Bush bemerkte dabei seinen linkischen Gang, aber er konnte nicht umhin, sich zu der erstaunlichen Tatkraft seines jungen Untergebenen aufs wärmste zu beglückwünschen. Dann begann er, mit Whiting den Plan für den Sturm auf das Fort zu besprechen.
In der Nähe des Grabens erwartete sie ein Unteroffizier. Bush ließ durch die Linien sagen, daß gleich gehalten würde, und befahl dann Halt. Zunächst ging er ein Stück nach vorn, um das Gelände zu erkunden. Whiting und Hornblower neben sich, hielt er Ausschau nach dem Fort, das sich als kantiger Schatte deutlich gegen den Nachthimmel abhob. Es war so sichtig, daß man sogar die dunkle Linie des Flaggenmastes zu unterscheiden meinte. Jetzt ließ seine Nervenspannung nach; er sah nicht mehr so finster drein wie während der letzten Phase des Vormarsches, sondern strahlte geradezu vor guter Laune, die er unter den gegebenen Umständen allerdings nicht so recht an den Mann bringen konnte.
Alle weiteren Anordnungen waren rasch getroffen, Befehle und Meldungen liefen durch die Reihen zurück und wieder nach vorn, die letzten Einzelheiten wurden noch einmal eingeschärft.
Dieser Augenblick war darum für das Gelingen des Ganzen besonders gefährlich, weil die Leute jetzt längs der Bodenrinne verteilt und zum Sturm angesetzt werden mußten. Eine geflüsterte Frage Whitings kostete Bush mehr als einen Augenblick gründlicher Überlegung.
»Soll ich die Leute laden lassen, Sir?«
»Nein«, entschied Bush endlich, »kalter Stahl!«
Es wäre allzu gewagt gewesen, alle diese Musketen im Dunklen laden zu lassen. Nicht nur die Ladestöcke hätten dabei ein untragbares Geklapper verursacht, man mußte außerdem gewärtigen, daß irgendein Trottel am Drücker zog und schoß.
Hornblower entfernte sich nach links, Whiting mit seinen Seesoldaten nach rechts. Bush bildete mit seiner Abteilung die Mitte der Angriffsfront und legte sich zwischen seinen Leuten in Deckung. Seine Beine schmerzten ihn von der ungewohnten Anstrengung, und als er lag, wollte ihm vor Müdigkeit und Schlafmangel schwindlig werden. Da riß er sich zusammen und setzte sich auf, um sich wieder in die Gewalt zu bekommen.
Abgesehen von diesen Anfällen von Müdigkeit, fand er das Warten nicht einmal lästig. Alle die Jahre auf See mit ihren zahllosen Wachen, auf denen nichts geschah, und alle die Jahre des Krieges mit ihrer endlosen Langeweile hatten ihn gegen Wartenmüssen abgehärtet. Manche von den Matrosen versuchten es in der steinigen Rinne wahrhaftig mit eine Schläfchen, öfter als einmal hörte Bush ein beginnendes Schnarchkonzert, das aber jedesmal von den Knüffen der Nachbarn roh unterbrochen wurde.
Wurde rechts voraus, gerade über das Fort hinweg, der Himmel nicht schon etwas heller? Oder schien es nur so, weil der Mond jetzt über den Rand der Wolkenbank gestiegen war?
Überall in der Runde, allein mit Ausnahme dieser einen Stelle, war der Himmel wie purpurner Samt und strahlte noch im Glanz der Sterne. Aber dort, dort kam jetzt ein Schimmer auf, der vorher nicht dagewesen war. Bush wechselte seine Stellung und fühlte wieder einmal nach den drückenden Pistolen in seinem Koppel. Sie waren halb gespannt, er durfte also nicht vergessen, die Hähne vollends zurückzuziehen, wenn er schießen wollte.
An der Kimm zeigte sich jetzt wirklich die Andeutung einer Röte, die sich in die Nacht des Sternenhimmels mischen wollte.
»Weitergeben durch die Linie!« sagte Bush. »Klarhalten zum Sturm.«
Er wartete, bis der Befehl durch war, aber ehe er noch die Enden der Linie erreicht haben konnte, machten sich überall schon Lärm und Unruhe breit. Jene Dummköpfe, die es in jeder Truppe gibt, hatten sich sofort mit großem Geräusch erhoben, als sie der Befehl erreichte, und vergaßen wahrscheinlich sogar darüber, ihn weiterzusagen. Aber ihr Beispiel wirkte ohnedies ansteckend. Von den Flügeln bis zur Mitte, wo Bush lag, wanderte ein doppeltes Geratter die Linie entlang, als sich die Männer erhoben. Bush stand ebenfalls auf. Er zog seinen Säbel und wog ihn in der Hand; als er mit dem Griff zufrieden war, zog er mit der Linken eine Pistole aus dem Koppel und spannte ihren Hahn. Weiter nach rechts hörte man plötzlich metallisches Geklapper - die Seesoldaten pflanzten ihre Bajonette auf. Jetzt war es schon so hell, daß Bush die Gesichter der Männer rechts und links von ihm zu unterscheiden vermochte.
»Auf!« kommandierte er, und schon quoll es zu beiden Seiten aus dem Graben. »Langsam! Zeit lassen!«
Die letzten Worte hatte er fast mit erhobener Stimme gerufen.
Man mußte darauf gefaßt sein, daß einzelne Hitzköpfe früher oder später zu rennen begannen, je länger man sie davon abhielt, desto besser war es. Er wollte, daß seine Leute das Fort gleichzeitig in einer einzigen Angriffswelle erreichten und nicht keuchend und atemlos einer nach dem anderen anlangten. Zur Linken hörte er deutlich, wie auch Hornblower »langsam, langsam!« rief. Der Lärm der Angriffsbewegung mußte jetzt im Fort zu hören sein, mußte auch die schläfrigen, sorglosen spanischen Wachen aus der Ruhe scheuchen. Es dauerte bestimmt nicht mehr lange, bis einer dieser Posten nach seinem Unteroffizier rief. Der Unteroffizier kam, horchte selbst, überlegte vielleicht noch einen Augenblick und gab dann Alarm.
Das Fort erhob sich vor Bush wie ein kantiges, böses Untier; seine Umrisse standen immer noch schwarz gegen die junge Morgenröte. Jetzt konnte er sich einfach keinen Zwang mehr antun, er mußte rascher voran. Die Linie nahm sofort sein Tempo auf und hielt mit ihm Schritt. Dann begann einer zu schreien, die anderen Hitzköpfe schrien natürlich mit, schon fing die ganze Linie an zu rennen, und Bush stürmte als einer der ersten mit vor. Wie durch Zauberei gelangten sie unangefochten an den Rand des Grabens, dessen Böschung sechs Fuß tief und fast senkrecht in den Felsen eingeschnitten war.
»Weiter, nicht stehenbleiben!« schrie Bush.
Samt Säbel und Pistole rutschte er in den Graben hinunter, er kehrte dazu dem Fort den Rücken und hielt sich mit den Ellenbogen an der Kante fest, ehe er sich fallen ließ. Der Boden des trockenen Grabens war schlüpfrig und uneben, aber er gelangte mit großen Sprüngen rasch zur gegenüberliegenden Böschung, wo sich die Männer bereits schreiend drängten und einander hochklettern halfen.
»Helft mir rauf!« rief Bush den Leuten rechts und links von ihm zu.
Sie setzten ihm die Schultern unter das Gesäß und warfen ih buchstäblich auf den Grabenrand. Jedenfalls landete er auf dem Gesicht oben auf dem schmalen Absatz zwischen der Grabenböschung und dem Fuß der Mauer. Ein paar Meter weiter versuchte ein Matrose bereits, seinen Draggen über die Krone der Mauer zu werfen. Er kam polternd wieder herunter und verfehlte Bush dabei um kaum einen Meter. Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, holte der Matrose den Draggen wieder zu sich heran, nahm ein zweitesmal Schwung und schleuderte den kleinen Anker mit aller Wucht von neuem über die Mauer. Jetzt endlich blieb er hängen, der Matrose stemmte seine Füße gegen die Mauer, griff mit beiden Händen in die Leine und begann wie ein Wilder aufzuentern. Ehe er noch halbwegs oben war, langte schon ein zweiter nach der Leine und stieg hinter ihm her. Um den Tamp der Leine herum drängten sich schreiende, aufgeregte Männer, von denen jeder der nächste sein wollte.
Ein Stück weiter hatte noch ein Draggen gefaßt, auch dort drängten sich die Leute mit lautem Gebrüll um die Leine. Jetzt hörte man lautes, lebhaftes Musketenfeuer, und Bush roch auch schon, daß ihm Pulverdampf um die Nase strich. Auf die frische Nachtluft hin, die er die ganzen Stunden über geatmet hatte, empfand er diesen Geruch als besonders scharf und widerwärtig.
An der Wasserfront des Forts zu seiner Rechten versuchten die Seesoldaten, durch die Geschützscharten in das Innere der Befestigungsanlagen einzudringen. Bush wandte sich weiter nach links, um zu sehen, was dort zu unternehmen war, und machte dabei gleich die entscheidende Entdeckung. Dort, im geschützten Winkel der vorspringenden Eckbastion, befand sich nämlich die Ausfallpforte des Forts, ein breites hölzernes Tor, das mit starken eisernen Beschlägen bewehrt war. Zwei kopflose Matrosen feuerten mit ihren Musketen auf die Köpfe, die sich oben auf der Mauer zu zeigen begannen - an das Tor vor ihrer Nase dachten sie nicht. Dem Durchschnittsseemann eines englischen Kriegsschiffes konnte man eben mit gutem Gewissen keine Muskete in die Hand drücken. Bush erhob seine Stimme daß sie den Lärm wie eine Trompete übertönte.
»Äxte her, Äxte, Äxte!«
Noch immer wimmelten eine Menge Leute unten im Graben herum, die noch keine Zeit gefunden hatten, die innere Böschung zu erklettern. Einer von diesen drängte sich gleich mit geschwungener Axt durch die Menge und begann, sich in die Höhe zu arbeiten. Aber Silk, der herkulische Bootsmannsmaat, der eine Gruppe in Bushs Abteilung kommandierte, kam sofort am Grabenrand herbeigeeilt und riß ihm die Axt aus der Hand.
Dann begann er, das Tor mit genau berechneten, sausenden Hieben zu bearbeiten, wobei er jedesmal alle seine Kraft zusammennahm und dann den Stahl mit voller Wucht in das splitternde Holz jagte. Gleich darauf erschien ein zweiter Axtträger, schob Bush kurzerhand beiseite und begann gleichfalls, auf das Tor loszuhacken. Aber es erwies sich, daß er es weder an Kraft noch an Geschicklichkeit mit Silk aufnehmen konnte. Der ganze Mauerwinkel dröhnte vom Krachen ihrer Hiebe. Jetzt öffnete sich ein eisenvergittertes Guckloch im Tor, und dahinter schimmerte es wie von stählernen Musketenläufen.
Bush hob blitzschnell die Pistole und feuerte hinein. Silks Axt durchschlug mit einem letzten, mächtigen Hieb die starken Bohlen, er riß ihr Blatt mit Gewalt aus dem entstandenen Loch, dann wechselte er sein Ziel und begann, den mittleren Teil des Tors mit waagerechten Zirkelschwüngen zu bearbeiten. Nach drei gewaltigen Hieben hielt er inne und wies den zweiten Axtträger an, wohin er seine Hiebe richten sollte. Wieder und wieder krachte Silks Axt in das Tor, endlich stellte er sie beiseite, griff mit den Händen in das zerfetzte Loch, das sie geschlagen hatte, stemmte den Fuß gegen die Planken und riß mit einer einzigen gewaltigen Kraftanstrengung ein ganzes Stück des Tores heraus. Drinnen lag ein Balken quer über der Öffnung. Silk ging sofort auf das neue Hindernis los und hieb auch dieses mit seiner Axt in Stücke. Dann stürzte er sich, die Axt noch immer in der Rechten, mit heiserem Gebrüll durch da gezackte Loch ins Innere des Forts.
»Mir nach, ihr Männer!« brüllte Bush, was seine Lunge hergab, und eilte hinter ihm drein.
Sie fanden sich in einem offenen Hofraum wieder. Bush wäre ums Haar über einen Toten gefallen, der ihm vor den Füßen lag.
Als er sich wieder gefangen hatte, sah er sich einer Gruppe von Männern gegenüber, die teils splitternackt, teils nur mit Hemden bekleidet waren. Sie hatten kaffeebraune Gesichter und trugen lange, wildgewachsene Schnurrbärte, in ihren Händen schwangen sie blitzende Messer und Pistolen. Silk warf sich wie ein Rasender mit hochgeschwungener Axt zwischen sie. Einer der Spanier brach unter einem Axthieb zusammen, Bush sah einen abgetrennten Finger zu Boden fallen, als die Axt die vergeblich zum Schutz erhobene Hand durchschlug. Pistolen knallten, Pulverdampf wirbelte durch die Luft, als auch Bush jetzt vorwärtsstürmte. Immer mehr Gegner drangen auf ihn ein.
Sein Säbel klirrte gegen ein Entermesser, dann wandte sich die angreifende Schar plötzlich zur Flucht. Er hieb mit aller Kraft nach der nackten Schulter eines Flüchtenden, das Fleisch klaffte blutigrot auseinander, und der rennende Mann brüllte wie am Spieß. Dann war er unversehens fort - verschwunden wie ein Gespenst, und Bush eilte weiter, um andere Gegner zu finden.
Jetzt kam ihm einer der rotröckigen Seesoldaten entgegengestürmt, der Mann hatte seinen Tschako verloren, seine Haare waren wild zerzaust, seine Augen glänzten wie im Fieber, und zu all dem brüllte er ununterbrochen wie ein Berserker. Bush mußte tatsächlich mit aller Kraft parieren, sonst hätte er ihn mit seinem Bajonett durchbohrt.
»Paß doch auf, dämlicher Hund!« brüllte Bush und merkte erst, als ihm die Worte entschlüpft waren, daß auch er mit aller Lungenkraft geschrien hatte. In den Wahnsinnsaugen des Seesoldaten blitzte etwas wie Erkennen auf; er wandte sich, immer noch mit gefälltem Bajonett, zur Seite und stürmte weiter. Im Hintergrund tauchten noch mehr Seesoldaten auf, di mußten also durch die Schießscharten eingedrungen sein. Sie brüllten alle aus Leibeskräften und waren offenbar ganz trunken vom Kampf. Hier kam eine Gruppe Matrosen angestürmt, sie rutschten in Schwärmen die Wälle herunter, die sie eben überklettert hatten. Am anderen Ende des Hofraums standen hölzerne Baulichkeiten, die Stürmenden rannten um ihre Ecken, und aus dem Inneren hörte man einzelne Schüsse und Schreie.
Dort lagen offenbar die Unterkünfte und Vorratsmagazine des Forts, und es sah so aus, als hätte sich die Besatzung dahin geflüchtet, um vor der Wut der Sturmtruppen Schutz zu finden.
Jetzt erschien Whiting auf der Bildfläche; sein roter Waffenrock war voll Schmutz, der Säbel baumelte ihm am Riemen vom Handgelenk Er sah Bush aus trüben, schwimmenden Augen an.
»Bringen Sie die Kerle zur Vernunft!« sagte Bush und schüttelte das Kampffieber mit einer verzweifelten Anstrengung von sich ab. Whiting brauchte offenbar eine ganze Weile, bis er wußte, wen er vor sich hatte, und den Befehl begriff.
»Jawohl, Sir«, sagte er schließlich.
Eine neue Schar Matrosen kam hinter den Gebäuden in Sicht, offenbar war auch Hornblower von der anderen Seite her der Einbruch in das Fort geglückt. Bush sah sich um und rief eine Gruppe seiner eigenen Leute herbei, die gerade in seiner Nähe auftauchte.
»Folgen!« befahl er und eilte weiter.
Eine schwach geneigte Rampe führte innen zu den Wällen empor. Halbwegs nach oben lag ein Toter, aber Bush hielt sich nicht länger bei ihm auf, als es seine Eile zuließ. Am oberen Ende der Rampe war die Hauptbatterie eingebaut, sechs riesige Kanonen, die durch ihre Einschnitte drohend auf die Bucht hinunterwiesen. Und dahinter leuchtete in feuriger Glut der Morgenhimmel - fast halbwegs zum Zenit reichte die blutige Fata Morgana. Aber während Bush noch innehielt, um das Schauspiel in sich aufzunehmen, brach auch schon der erst goldene Sonnenstrahl durch die Wolken über der Kimm, das Rot begann sichtlich zu verblassen, und blauer Himmel mit weißen Wolken und strahlendem Sonnenschein trat an seine Stelle. Wie lange hatte also dieses ganze Unternehmen gedauert? Offenbar nur die wenigen Minuten, die von der ersten Dämmerung zum tropischen Sonnenaufgang reichten. Bush suchte staunend mit dieser Erkenntnis fertig zu werden, denn angesichts der Fülle seiner eigenen Erlebnisse hätte er sich nicht gewundert, wenn es schon später Nachmittag gewesen wäre.
Hier von den Geschützständen aus schweifte der Blick frei über die ganze Bucht. Man sah das gegenüberliegende Ufer, die Untiefe, auf der die Renown gestern gesessen hatte (war es wirklich erst gestern gewesen?), das wellige Land, das sich drüben unvermittelt zu größeren Höhen erhob, die scharfen Umrisse der Batterie am Fuß der Landzunge. Nach links zu fiel die Halbinsel in einer Anzahl scharf zerklüfteter Kaps zum blauen Ozean ab, weiter nach der anderen Seite öffnete sich die saphirene Fläche der Scotchmans Bay, und dort lag beigedreht die alte, gute Renown. Sie wirkte von hier aus so klein und zart wie ein köstliches Spielzeug; ihr backgesetztes Kreuzmarssegel leuchtete hell in der Morgensonne. Bush hielt bei ihrem Anblick den Atem an, nicht weil ihn ihre Schönheit ergriffen hätte, sondern weil ihm leicht ums Herz wurde, als er sie entdeckte.
Das Bild seines Schiffes und alles, was es an Gedanken und Vorstellungen in ihm weckte, vertrieb die letzten Nebel des Kampfrausches aus seinem Gehirn und ließ ihn mit einem Schlage wieder zu sich kommen. Jetzt gab es zunächst einmal tausenderlei Dinge zu tun.
Hornblower kam die entgegengesetzte Rampe herauf und nahm sich in seiner zerfledderten Uniform wahrhaftig aus wie eine Vogelscheuche. Genau wie Bush hielt er den Säbel in der einen, eine Pistole in der anderen Hand.
Neben ihm schwang der kleine Wellard ein überlebensgroßes Entermesser, und dicht hinter ihm folgte ein rundes Dutzen Matrosen mit aufgepflanzten Bajonetten und kampfbereit gefällten Musketen, Leute, die offenbar nicht so außer Rand und Band geraten waren wie die Masse der anderen.
»Guten Morgen, Sir«, sagte Hornblower. Sein reichlich mitgenommener Dreispitz saß ihm noch auf dem Kopf, er hätte also ohne weiteres grüßen können und wollte auch schon die Hand dazu heben, als ihm im letzten Augenblick einfiel, daß er ja noch den gezogenen Säbel damit hielt.
»Guten Morgen«, sagte Bush mechanisch.
»Meinen Glückwunsch, Sir«, sagte Hornblower. Er war sehr blaß, das Lächeln auf seinen Lippen nahm sich aus wie das Grinsen eines Totenkopfes. Dichte Bartstoppeln sprossen ihm auf Kinn und Wangen.
»Ich danke Ihnen«, sagte Bush.
Hornblower stieß seine Pistole in das Koppel und steckte den Säbel in die Scheide.
»Ich habe diese ganze Seite des Forts besetzt, Sir«, fuhr er fort und zeigte dabei hinter sich. »Soll ich mit der Durchsuchung der Räume fortfahren?«
»Ja, machen Sie nur weiter, Mr. Hornblower.«
»Aye, aye, Sir.«
Diesmal konnte Hornblower zu seiner Antwort grüßend den Hut berühren. Durch einen raschen Befehl setzte er einen Unteroffizier und eine Gruppe von Männern als Posten bei den Geschützen ein.
»Sehen Sie dort, Sir«, sagte Hornblower und zeigte nach dem Hang vor dem Fort. »Ein paar sind uns doch entwischt.«
Bush warf einen Blick den steilen Abhang hinunter, der geradenwegs zur Bucht abfiel, und erkannte ziemlich weit unten ein paar Gestalten.
»Wenn das alle sind, können sie uns nicht viel anhaben«, sagte er. Seine Gedanken begannen eben erst, wiede zuverlässig zu arbeiten.
»Nein, Sir, das können sie nicht. Ich habe drüben am Haupttor vierzig Gefangene unter Bewachung. Whiting sammelt, wie ich sehe, soeben den Rest. Wenn ich darf, möchte ich jetzt weitermachen, Sir.«
»Tun Sie das, Mr. Hornblower.«
So hatte also wenigstens ein Mensch während des ganzen Durcheinanders einen klaren Kopf behalten. Bush ging die Rampe auf der anderen Seite hinunter. Ein Unteroffizier und einige Matrosen standen dort auf Wache. Als Bush näherkam, machten sie ihre Ehrenbezeigung.
»Was macht ihr hier?«
»Das ist das Pulvermagazin, Zör«, sagte der Unteroffizier - es war Ambrose, Toppältester im Vortopp, der trotz all seiner langen Dienstjahre in der Marine das breite Devonshire-Englisch seiner Kindheit nicht verleugnen konnte. »Wir sollen das bewachen.«
»Befehl von Mr. Hornblower?«
»Jawohl, Zör.«
Am Haupttor hockte ein elendes Häufchen Gefangener.
Hornblower hatte sie ihm gemeldet. Aber da waren auch Posten, von denen er noch nichts wußte - einer am Brunnen, ein paar weitere am Tor. Woolton, der zuverlässigste Unteroffizier der ganzen Abteilung, war an einem langen hölzernen Schuppen neben dem Tor aufgezogen, er hatte nicht weniger als sechs Posten unter sich.
»Was ist Ihre Aufgabe?« fragte Bush.
»Wache beim Proviantlager, Sir. Es enthält Schnaps.«
»Gut, danke.«
Wenn die Burschen, die den Sturmangriff gemacht hatten - ener Seesoldat zum Beispiel, der mit dem Bajonett auf Bush losgegangen war -, außer Rand und Band, wie sie waren, zuletz noch an den Schnaps geraten wären, dann hätte sich auch der letzte Rest von Zucht und Ordnung aufgelöst.
Abbott, der Bushs eigener Abteilung zugeteilte Fähnrich, kam atemlos herbeigestürz »Sagen Sie, wo stecken Sie eigentlich?« fragte Bush gereizt.
»Seit Beginn des Angriffs haben Sie sich nicht mehr in meiner Nähe blicken lassen.«
»Ich bitte um Entschuldigung, Sir«, sagte Abbott kleinlaut.
Sicher hatte auch er sich von der Wucht des Sturmangriffs mitreißen lassen, aber das war natürlich keine Entschuldigung, war es um so weniger, wenn man sich das Beispiel des jungen Wellard vor Augen hielt, der gewissenhaft an Hornblowers Seite geblieben war und unverdrossen seinen Pflichten nachkam.
»Machen Sie jetzt schleunigst das Signal an das Schiff klar«, sagte Bush. »Vor fünf Minuten mußten Sie das schon fertig haben! Die drei Schuß klar! Wer hat eigentlich die Flagge?
Suchen Sie den Mann, und stecken Sie unsere Flagge über der spanischen an. Los jetzt, sonst mache ich Ihnen Beine!«
Gesiegt zu haben war ein köstliches Gefühl, aber dieses Gefühl hatte auf Bushs Stimmung keinerlei Einfluß mehr, nachdem die Reaktion auf die Erregung des Gefechts einmal eingesetzt hatte. Er hatte nicht geschlafen und nicht gefrühstückt, und obwohl seit der Einnahme des Forts höchstens zehn Minuten vergangen waren, lagen ihm eben diese zehn Minuten schon jetzt wie eine Zentnerlast auf dem Gewissen.
Was hätte man in dieser Zeit nicht alles tun sollen? Da war es eine richtige Erholung, sich einmal von der Betrachtung der eigenen Unvollkommenheiten loszureißen und mit Whiting über die Bewachung der Gefangenen zu konferieren. Sie waren jetzt alle aus den Unterkünften herausgeschafft, es handelte sich um hundert halbnackte Männer und mindestens zwei Dutzend Frauen mit lang herabhängenden losen Haaren, die mit ein paar dürftigen Fetzen mühsam ihre Blöße bedeckten. In eine friedlicheren Augenblick hätte Bush wohl ein Auge auf diese weiblichen Wesen geworfen, aber so wie die Dinge lagen, machte ihn der Gedanke an diese zusätzliche Belastung nur nervös, und darum nahm er auch nur sozusagen statistisch von ihnen Notiz.
Unter den Männern fand sich ein kleiner Einschuß von Negern und Mulatten, weitaus die meisten waren jedoch richtige Spanier. Fast alle Toten, die hier und dort herumlagen, trugen weiße Uniformen mit blauen Aufschlägen - das waren die Posten und die Hauptwache, die die Strafe für ihre mangelnde Wachsamkeit getroffen hatte.
»Wer hatte hier eigentlich das Kommando?« wollte Bush von Whiting wissen.
»Das weiß ich nicht, Sir.«
»Fragen Sie doch einmal bei den Leuten herum.«
Bush sprach nur seine englische Muttersprache, und bei Whiting stand es, nach seinem unglücklichen Gesicht zu urteilen, nicht viel anders.
»Bitte Sie etwas fragen zu dürfen, Sir...« Das war der Sanitätsmaat Pierce, der verzweifelt versuchte, sich bei Bush Gehör zu verschaffen. »Kann ich eine Gruppe Krankenträger haben? Die Verwundeten müssen in den Schatten gebracht werden.«
Ehe Bush ihm antworten konnte, rief Abbott von den Geschützständen her:
»Die Geschütze sind klar, Sir. Kann ich die Pulverladungen aus dem Magazin holen?«
Wieder fand Bush keine Zeit, ihm das zu erlauben, denn schon erschien der junge Wellard auf dem Plan und suchte Pierce gleich mit dem Ellbogen wegzudrängen, um ja sofort Bushs Aufmerksamkeit zu erregen.
»Bitte, Sir, bitte, Sir! Mr. Hornblower läßt gehorsamst fragen ob Sie einen Augenblick auf den Turm kommen könnten. Mr. Hornblower meint, es sei dringend, Sir.«