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»Wo ist sie?«, fragte ich Kendra.

»Komm zu mir aufs Dach«, sagte sie. »Die Sonne geht gerade auf.«

Wir gingen in den vierten Stock. Ich war in letzter Zeit nicht oft dort gewesen. Als ich nun zusammen mit Lindy da war, erinnerte ich mich an all die einsamen Tage, die ich hier auf dem Sofa verbracht hatte, und auch an den Tag, an dem wir hier gemeinsam waren. Es war wie ein Wunder, wenn das Leben einem eine zweite Chance gab. Ich öffnete das Fenster und zog mich aufs Dach. Dann streckte ich Lindy meinen Arm hin.

Das Dach war flach und von einer Brüstung umgeben, sodass wir darauf herumlaufen konnten. Die Sonne ging auf. New York ist bei Sonnenaufgang der schönste Ort der Welt. Die Leute machen immer einen Riesenwirbel um die Skyline, aber das ist nichts im Vergleich zum rosafarbenen Sonnenlicht, das zwischen den Gebäuden hindurchsickert, vor allem dann nicht, wenn man dabei mit dem Mädchen, das man liebt, Händchen hält.

Ich küsste ihre Hand. »Sieh mal. Wenn das nicht der unglaublichste aller Morgen ist.«

Aber Lindy schaute nicht den Sonnenaufgang oder mich an. Stattdessen schaute sie zur Seite. Ich folgte ihrem Blick und verstand.

Kendra war da. Es war das erste Mal seit dem Fluch, dass ich sie sah. Sie war schön, genau wie sie es an jenem Tag gewesen war, ihr Haar wehte lila und grün und schwarz um ihr Gesicht, ihr Gewand war schwarz. Und hinter ihr hatte sich zu beiden Seiten des Daches eine Krähenschar niedergelassen, die in der aufgehenden Sonne schwarz und grün und lila schimmerte.

»Kyle, du siehst großartig aus.«

»Adrian. Ich bevorzuge Adrian.«

»Ich eigentlich auch. Es passt zu dir.« Sie trat zu Lindy. Oder schwebte, besser gesagt. Es sah fast so aus, als würde sie fliegen. »Lindy, wir haben uns noch nicht kennengelernt. Ich bin Kendra.«

»Kendra, die …«

Ich hatte Lindy in allen Einzelheiten von Kendra erzählt, während wir in der vorigen Nacht auf der Polizeistation gewartet hatten.

»Du kannst es ruhig sagen«, sagte Kendra. »Die Hexe. Ich weiß, was ich bin. Manche Leute würden mich als böse Hexe bezeichnen. Ich bin verantwortlich für den Fluch über Adrian.«

»Und darauf bist du stolz?«

»Ein bisschen. Er ist jetzt ein besserer Mensch als früher.«

Lindy war sich da anscheinend nicht ganz sicher, aber ich nickte, weil ich wusste, dass es stimmte.

»Aber ich gebe zu, dass meine vorherigen Flüche nicht so erfolgreich waren. In meiner Jugend neigte ich dazu, impulsiv zu sein – nach der Devise: Erst in einen Frosch verwandeln und später nachfragen. Die anderen Hexen sind dann über mich hergefallen und haben gesagt, ich würde die Aufmerksamkeit auf das Hexenwesen lenken, wenn ich meine Kräfte zu oft einsetzte, und eine Hexenjagd heraufbeschwören wie damals in Salem. Zur Strafe wurde ich nach New York versetzt, um als Hausangestellte zu arbeiten. Man hat mir verboten, meine Kräfte überhaupt einzusetzen.«

»Aber du hast sie doch eingesetzt«, mutmaßte ich.

Sie nickte. »Ich tat es, weil ich in einen Haushalt kam, in dem ein Teenager lebte, der so schrecklich und unsensibel war, dass ich ihm eine Lektion erteilen musste. Ich belegte ihn mit einem Fluch.«

»Na prima, vielen Dank auch.«

Neben mir drückte Lindy meine Hand.

»Die anderen Hexen waren entsetzt. Ich hatte einen Fluch ausgesprochen – einen großen, offensichtlichen Fluch, der zu einem Zwischenfall führen konnte wie … sagen wir mal, einem Monster, das in der New Yorker U-Bahn Amok läuft. Besonders besorgt waren sie darüber, dass ich mir den Sohn eines Nachrichtensprechers als Opfer ausgesucht hatte.«

»Ja, das war wirklich bescheuert von dir.«

Kendra rollte die Augen. »Deshalb bestimmten sie, dass ich für immer bei ihm bleiben müsste, in Form eben jener Hausangestellten.«

»Magda?« Jetzt hatte ich es kapiert. »Also ist Magda gar nicht echt?«

»Sie ist echt.« Mit einer Handbewegung verwandelte sich Kendra. Jetzt war sie Magda. »Sie ist ich, und ich bin sie.«

»Wow«, sagte ich. »Das ist … ich dachte, du … ich meine, Magda war meine Freundin.«

»Das bin ich, mein Lieber«, sagte Kendra, die jetzt Magda war. »Ich habe mich von Anfang an um dich gekümmert und wollte, dass du glücklich wirst. Ich konnte dir deine Traurigkeit anmerken, aufgrund derer du die wahre Schönheit des Lebens nicht erkennen konntest. Deshalb habe ich das alles getan.«

»Und was ist mit Will? Ist er auch eine Hexe?«

Magda schüttelte den Kopf. »Nein. Ich kannte Will, ich wusste, dass er nett zu dir sein und dir alles beibringen würde, was du wissen musst. Und ich, eine bescheidene Hausangestellte, schlug deinem Vater vor, er solle einen blinden Studenten finden, der dich unterrichtet. Will brauchte einen Job, und durch deinen selbstlosen Wunsch hat er jetzt sogar sein Augenlicht wieder.«

»Aber da war noch der andere Teil des Wunsches. Ich wünschte mir, dass du … dass Magda mit ihrer Familie vereint würde.«

»Und auch das ist geschehen – letzte Nacht, um Mitternacht.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Ich wünsche dir Glück, Adrian.« Sie legte Lindy und mir je eine Hand auf die Schulter, und ich spürte, wie mich ein Stromstoß durchlief, so als würde man aus Versehen seinen Finger zwischen Stecker und Steckdose halten. Ich fragte mich, ob sie uns mit einem Fluch belegte. Ich schaute Lindy an, um zu sehen, ob sie sich in eine Hyäne oder so etwas verwandelte, aber sie schien in Ordnung zu sein.

»Glück?«, sagte ich.

»Nicht dass du es brauchen würdest. Ihr habt euch eure Liebe mehr verdient als die meisten anderen Paare in eurem Alter. Anders als die meisten anderen kennt ihr euch wirklich und passt aufeinander auf. Als du Lindy erlaubt hast, wegzugehen und zu ihrem Vater zurückzukehren, wusste ich, dass alles gut wird.«

»Ich wünschte, du hättest mich ins Bild gesetzt.«

Das ignorierte sie. »Und jetzt bin ich durch deinen Wunsch für Magda wieder mit meiner Familie vereint.«

»Wie meinst du das?«

»Mehr darf ich nicht sagen. Sie warten schon auf mich.«

Sie wedelte mit dem Arm und verschwand. Zumindest glaubte ich das. Aber Lindy deutete nach unten, und da bemerkte ich, dass genau an der Stelle, an der Magda gestanden hatte, nun eine Krähe saß. Eine schöne Krähe. Sie war groß und seidig und hatte schwarze Schwingen, die in der aufgehenden Sonne violett und grün schillerten. Sie hüpfte hinüber zu den anderen, und gemeinsam erhoben sie sich über unsere Köpfe und flogen nach Osten in Richtung Tageslicht.

»Wow«, sagte Lindy, als sie außer Sicht waren. »Das ist jetzt aber echt blöd.«

»Was?«

»Ich habe höflich darauf gewartet, dass sie aufhört zu reden. Aber wenn ich gewusst hätte, dass sich die nette Lady in eine Krähe verwandelt, hätte ich mein Anliegen schneller hervorgebracht.«

»Welches Anliegen?«

»Na ja, ich bin natürlich echt glücklich darüber, dass wir zusammen sind. Aber ich habe dich geliebt, so wie du warst. Vorher. Ich fand Kyle Kingsbury süß und alles, aber Adrian ist derjenige, in den ich mich verliebt habe. Ich habe dich nicht als Monster betrachtet, zumindest nach einer Weile nicht mehr. Ich betrachtete dich als einzigartig. Besonders. Ich glaube, ich habe dich fast von Anfang an geliebt. Ich wusste es nur noch nicht.«

»Du möchtest also, dass ich eine Bestie bin?«, fragte ich.

Sie zuckte die Achseln. »Ich glaube, das wäre nicht wirklich praktisch, oder? Ich meine, es ist einfach leichter, wenn man mit seinem Freund ins Kino geht oder so und es nicht gleich … ähm, in den Nachrichten kommt.«

»Es ist auch einfacher, wenn man sich fürs College bewirbt.«

»Stimmt.«

»Also, was ist dann das Problem?«, fragte ich. »Egal, wie ich aussehe, ich bin immer noch derselbe.«

»Das glaube ich. Aber irgendwie dachte ich, sie könnte ein paar Dinge an dir verändern, weil sie doch eine Hexe ist.«

»Was zum Beispiel?«

»Im Grunde bist du groß, blond und perfekt.«

»Von perfekt weiß ich nichts.«

»Zehn von zehn oberflächlichen Highschool-Mädchen würden zustimmen, dass du perfekt bist.«

Ich dachte an Sloane. »Okay, wenn wir mal annehmen, ich wäre perfekt: Na und?«

»Deshalb wollte ich die Veränderungen.«

»Was für Veränderungen? Du sagtest, ich sei perfekt.«

»Oh, ich weiß nicht. Einen Höcker auf der Nase oder vielleicht eine Warze. Zehn Kilo mehr oder vielleicht einen riesigen Pickel auf der Stirn.«

»Verstehe.« Ich nahm Lindys Hand. »Und warum würdest du das wollen?«

»Weil du perfekt bist. Und ich bin es … na ja, nicht. Typen, die perfekt aussehen, gehen normalerweise nicht mit Mädchen aus, die durchschnittlich sind, weißt du? Vielleicht hat Adrian King mich geliebt, aber wird Kyle Kingsbury bei mir bleiben, oder kann er was Besseres kriegen?«

»Etwas Besseres?« Ich ließ ihre Hand los und umarmte sie stattdessen. »Lindy, du hast mich geliebt, als ich noch nicht mal menschlich war. Du hast mich geküsst, als ich keine Lippen hatte. Du hast erkannt, was tief in mir schlummerte, als ich mir selbst noch nicht ganz darüber im Klaren war. Glaub mir, ich finde auf keinen Fall etwas Besseres. Ich bin der Meinung, du bist perfekt.«

»Oh, wenn du meinst.« Aber sie lächelte.

»Das meine ich in der Tat. Ich werde aussehen, wie immer du mich haben willst. Aber glaubst du, es passiert jedem, dass er in eine Bestie verwandelt und dann wegen wahrer Liebe wieder zurückverwandelt wird? Die meisten Menschen würden das gar nicht für möglich halten, aber uns ist es passiert. Das ist Magie. Für den Rest unseres Lebens werden wir zur Schule gehen, Jobs haben, frühstücken und fernsehen, aber wir werden immer wissen, dass die Welt voller Magie ist, auch wenn wir sie nicht sehen können. Sieh den Tatsachen ins Auge: Das hier ist dieses ›und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage‹, die wahre Liebe wie im Märchen.«

Ich küsste sie noch einmal. Und sie küsste mich. Wir standen da und küssten uns, bis die Sonne ganz am Himmel stand und die morgendlichen Geräusche der Stadt die Luft erfüllten.

Dann gingen wir nach unten und machten Frühstück.