6
Der nächste Tag war ein Samstag, der Tag an dem wir normalerweise gemeinsam Unterricht hatten. Aber diesmal war es der Tag, an dem Lindy wegging. Nachdem ich ihr ein Taxi gerufen und auf den Busfahrplan geschaut hatte, zog ich mich in mein Zimmer zurück, um sie durch den Spiegel zu beobachten. Kurz überlegte ich, ihr den Spiegel zu geben, damit sie mich sehen und sich an mich erinnern könnte. Aber ich beschloss, dass ich mich nicht von ihm trennen wollte. Wenn ich sie schon nicht haben konnte, wollte ich wenigstens die Möglichkeit haben, sie zu sehen. Wenn ich ihr den Spiegel gab, dann schaute sie womöglich gar nicht nach mir. Vielleicht wollte sie mich lieber vergessen. Damit könnte ich nicht umgehen.
Nun schaute ich also zu, wie sie ihre Sachen packte. Sie nahm die Bücher, die wir zusammen gelesen hatten und ein Foto von unserem ersten Schneemann mit. Von mir hatte sie keine Fotos. Schließlich hörte ich auf, mich selbst zu bemitleiden, und ging frühstücken. Als ich zurück in mein Zimmer kam, traf ich dort auf Will.
Er sah von seinem Buch auf und sagte: »Ich war gerade bei Lindy, und sie sagte etwas sehr Seltsames.«
»Dass sie uns verlässt?«
»Ja.« Will warf mir einen fragenden Blick zu.
»Ich hab ihr gesagt, dass sie gehen soll. Können wir jetzt über etwas Erfreulicheres reden? Zum Beispiel darüber, dass Die Elenden echt ein witziges Buch ist?«
»Aber Adrian, alles lief so gut. Ich dachte …«
»Sie wollte weg. Ich liebe sie zu sehr, als dass ich sie zum Bleiben zwingen könnte. Sie sagt, sie würde im Frühling zurückkommen.«
Will sah aus, als wollte er noch etwas sagen, aber dann hielt er das Buch hoch. »Also, was hältst du von Inspektor Javert?«
»Ich finde, die Figur würde gut in ein Broadway-Musical passen«, sagte ich und lachte, obwohl mir nicht danach war. Ich schaute auf die Uhr. Gleich würde Lindys Taxi da sein. Ihr Bus fuhr in etwa einer Stunde. Wenn das alles ein Film wäre, eine dieser romantischen Komödien für Mädels, käme jetzt irgendeine dramatische Szene, in der ich zur Bushaltestelle rennen und sie darum bitten würde zu bleiben, und Lindy, der endlich bewusst würde, was sie für mich empfindet, würde mich küssen. Ich würde zurückverwandelt. Und wir wären glücklich bis ans Ende unserer Tage.
Im echten Leben fragte mich Will, was ich von Victor Hugos politischen Ansichten in Die Elenden hielt, und ich antwortete ihm, auch wenn ich mich nicht mehr daran erinnere, was ich sagte. Aber ich erinnere mich genau an die Minute (9:42 Uhr), in der das Taxi in die Einfahrt fuhr, um sie abzuholen. Ich spürte ihre Ankunft an der Bushaltestelle (10:27 Uhr) und wusste, um welche Uhrzeit (11:05 Uhr) der Bus abfuhr. Ich beobachtete das nicht im Spiegel. Ich wusste es einfach. Es gab kein Happy End wie im Film, sondern einfach nur ein Ende.
In diesem Winter kehrte ich nicht in die Stadt zurück. Stattdessen blieb ich auf dem Land, machte jeden Tag lange Spaziergänge, auf denen mich nur die anderen, wild lebenden Bestien sehen konnten. Ich begann, das Flugmuster jedes Wintervogels, das Versteck jedes Eichhörnchens und jedes Hasen auswendig zu lernen, und ich dachte ernsthaft daran, das jetzt jeden Winter zu tun. Es war großartig, draußen zu sein. Ich fragte mich, ob so der Yeti entstanden war. Früher hatte ich nie an diese Dinge geglaubt. Jetzt war ich davon überzeugt, dass etwas Wahres dran war.
Ich gebe zu, dass ich den Spiegel benutzte, um Lindy auszuspionieren. Da ich hier keine Rosen hatte, wurde sie zu dem, was die Rosen für mich gewesen waren – mein Leben, meine Leidenschaft.
Zu meiner Ehrenrettung muss ich sagen, dass ich mir nur erlaubte, sie eine Stunde pro Tag zu beobachten. Dabei erfuhr ich, dass sie ihren Vater gefunden hatte, dass sie in eine noch schäbigere Wohnung in einem noch schäbigeren Viertel in Brownsville umgezogen waren und dass sie auf eine derb aussehende Schule ging. Ich wusste, dass es meine Schuld war, dass sie jetzt in dieser Schule steckte. Sie hatte ihr Stipendium in Tuttle verwirkt, weil ich sie aus ihrem Leben gerissen hatte, damit sie bei mir blieb. Ich beobachtete, wie sie zur Schule ging, vorbei an verfallenden, von Graffiti bedeckten Gebäuden, vorbei an Autowracks und Kindern ohne Hoffnung. Ich beobachtete sie in den Korridoren der Schule, schmale, überfüllte Flure mit verbarrikadierten Spinden und Postern an den Wänden, auf denen Dinge standen wie »Auch du kannst erfolgreich sein!«. Ich dachte daran, wie sehr sie mich hassen musste.
März – ich hörte auf, sie tagsüber zu beobachten. Aber am Abend war es noch schlimmer, weil es keinen Hinweis darauf gab, ob sie mich vermisste oder überhaupt noch an mich dachte. Sie las ihre Bücher, wie sie es getan hatte, bevor ich sie kannte.
Schließlich ging ich dazu über, ihr nur noch nachts beim Schlafen zuzusehen. Jeden Tag um Mitternacht schaute ich nach ihr. Zu dieser Stunde konnte ich mir einbilden, dass sie von mir träumte. Ich träumte die ganze Zeit von ihr. Als sie im April noch nicht zurückgekommen war, wusste ich, dass es vorbei war.
Der Schnee lag nur noch in Flecken auf dem Land, und das Eis des Sees schmolz. Es schwamm wie Eisberge auf dem Wasser und weckte die Frösche darunter auf. Das Schmelzwasser der Berge wurde zu Wasserfällen, und das hieß Schlauchboote, Wildwasser-Rafting und Touristensaison.
»Hast du mal daran gedacht, nach Hause zurückzukehren?«, fragte Will eines Tages beim Abendessen. Es war an einem Samstag. Ich hatte aufgehört, draußen herumzulaufen, und stattdessen den Tag damit verbracht, aus dem Fenster zu starren und mich zu ducken, wenn ein Auto – wahrscheinlich voller Rentner – auf unserer Landstraße vorbeikam.
»Welches Zuhause?«, sagte ich. »Zuhause ist da, wo die Familie ist. Ich habe kein Zuhause. Oder vielleicht bin ich ja zu Hause.« Ich schaute Magda an, die mir gegenübersaß. In den letzten Monaten war sie mehr als nur ein Dienstmädchen für mich geworden. »Tut mir leid«, sagte ich zu ihr. »Ich weiß, dass du deine Familie nie siehst. Du musst mich für einen undankbaren …«
»Nein, dafür halten ich dich nicht«, unterbrach sie mich. »Ich habe in letzten zwei Jahren so große Veränderung bei dir gesehen.«
Bei »zwei Jahren« verkrampfte ich mich. Es waren noch keine zwei Jahre, aber fast. Meine Zeit war beinahe um. Eigentlich war sie schon vorbei, denn es bestand keine Chance mehr.
»Davor warst du ein grausamer Junge, ein Junge, der gelebt hat, um andere Menschen traurig zu machen. Jetzt du bist nett und rücksichtsvoll.«
»Ja, nett und rücksichtsvoll.« Ich zuckte die Achseln. »Das nützt mir ja viel.«
»Wenn es irgendeine Gerechtigkeit gibt, dieser schreckliche Fluch würde gebrochen, und du müsstest nicht diese unmögliche Sache machen.«
»Es war nicht unmöglich.« Ich spielte mit meinem Suppenlöffel. Ich war gut darin geworden, mit Klauen zu essen. »Ich war einfach nicht gut genug.«
Ich wandte mich an Will. »Als Antwort auf Ihre Frage – ich hatte daran gedacht hierzubleiben. An beiden Orten sitze ich im Haus fest, bin ich ein Gefangener. Aber zurück in die Stadt zu gehen würde mich daran erinnern, was ich verloren habe.«
»Aber Adrian …«
»Sie wird mich niemals besuchen kommen, Will. Ich weiß es einfach.« Ich hatte ihm nie von dem Spiegel erzählt, deshalb konnte ich jetzt nicht erklären, dass ich sie beobachtete, dass ich keinen Hinweis darauf fand, dass sie mich vermisste. »Ich kann nicht zurückgehen und auf sie warten und warten, wenn sie sowieso nicht kommen wird.«
Als ich an diesem Abend den Spiegel für mein nächtliches Ritual, Lindy beim Schlafen zuzuschauen, in die Hand nahm, sah ich stattdessen Kendra.
»Wann kehrst du denn in die Stadt zurück?«
»Warum fragt mich das jeder? Mir gefällt es hier. In der Stadt habe ich nichts.«
»Lindy ist dort.«
»Wie ich bereits sagte, ich habe in der Stadt nichts.«
»Du hast immer noch einen Monat.«
»Es ist unmöglich. Es ist vorbei. Ich habe versagt. Ich werde für immer eine Bestie sein.«
»Hast du sie geliebt, Adrian?«
Es war das erste Mal, dass sie mich Adrian nannte, und ich starrte in ihre seltsamen grünen Augen. »Hast du irgendetwas mit deinen Haaren gemacht, Stufen oder so? Steht dir gut.«
Sie lachte. »Dem alten Kyle Kingsbury wären meine Haare nie aufgefallen.«
»Dem alten Kyle Kingsbury wären sie schon aufgefallen – er hätte sich darüber lustig gemacht. Aber ich bin nicht der alte Kyle Kingsbury. Ich bin überhaupt nicht mehr Kyle Kingsbury.«
Sie nickte. »Ich weiß. Und deshalb macht es mich traurig, dass du mit Kyle Kingsburys Fluch belegt bist.« Das war fast exakt das, was auch Magda schon gesagt hatte. »Was mich zurück zu meiner Frage bringt – die, der du so raffiniert ausgewichen bist. Hast du sie geliebt?«
»Warum sollte ich dir das sagen?«
»Weil es sonst niemanden gibt, dem du es erzählen könntest. Dein Herz bricht, und du hast niemanden, dem du dich anvertrauen kannst.«
»Und deshalb sollte ich ausgerechnet dir mein Herz ausschütten? Du hast mein Leben zerstört. Jetzt möchtest du auch noch meine Seele? Toll. Ich habe sie geliebt. Ich liebe sie immer noch. Sie war die einzige Person in meinem Leben, die wirklich mit mir gesprochen hat, die mich ohne mein gutes Aussehen, ohne meinen berühmten Vater kannte und mich trotzdem mochte – obwohl ich ein Monster bin. Aber sie liebt mich nicht.« Ich schaute nicht in den Spiegel. Das konnte ich einfach nicht, denn obwohl ich einen sarkastischen Ton angeschlagen hatte, entsprachen meine Worte der Wahrheit. »Ohne sie habe ich keine Hoffnung, kein Leben. Ich werde in Trauer leben und einsam sterben.«
»Adrian …«
»Ich bin noch nicht fertig.«
»Das glaube ich aber schon.«
»Du hast recht. Ich bin fertig. Wenn ich wenigstens normal wäre, dann hätte ich vielleicht eine Chance bei ihr gehabt. Ich meine damit gar nicht mein früheres Aussehen, aber es ist zu viel verlangt, von einem Mädchen zu erwarten, dass es sich für jemanden interessiert, der noch nicht einmal menschlich ist. Das ist doch krank.«
»Du bist menschlich, Adrian. Du hast noch einen Monat Zeit. Möchtest du nicht zurückkehren, wenigstens für diesen einen Monat? Hast du so wenig Vertrauen in sie?«
Ich zögerte. »Ich würde lieber hierbleiben. Hier bin ich kein Freak.«
»Ein Monat. Was hast du schon zu verlieren, Adrian?«
Ich dachte darüber nach. Ich hatte bereits aufgegeben, hatte akzeptiert, dass ich für immer eine Bestie bleiben würde. Plötzlich wieder Hoffnung zu haben, wenn auch nur für einen Monat, würde so schwierig werden. Aber ohne Hoffnung hatte ich nichts, nichts, was mich erwartete, außer dass ich eine Bestie sein würde, mein Leben lang in einem Haus gefangen. Ich würde in meinem von Dad finanzierten Backsteinbau hocken, Mist auf meine Rosen geben, damit sie besser wuchsen, mich durch jedes einzelne Buch in der New Yorker Bücherei arbeiten und auf den Tod warten.
»Ein Monat«, stimmte ich zu.