3

 

 

Lindys Zimmer befand sich zwei Stockwerke über meinem. Es machte mich unruhig zu wissen, dass sie da war, im selben Haus, schlafend, allein. Nachts konnte ich förmlich spüren, wie sich ihr Körper zwischen den kühlen, weißen Laken räkelte. Ich wollte jede einzelne goldene Sommersprosse auf ihrer Haut kennenlernen. Aber jetzt war ich ruhelos. Meine eigenen Laken fühlten sich heiß an, manchmal waren sie verschwitzt und kratzten. Wenn ich im Bett lag, sehnte ich mich nach ihr und stellte sie mir in ihrem Bett vor. Ich dachte an sie, wenn ich schlafen ging, und wachte dann schweißgebadet auf, die Beine in den Laken verheddert. Ich stellte mir vor, wie es wäre, wenn ich mit ihr verheddert wäre. Ich wollte sie berühren. Ich hatte an dem Tag, als sie das Kleid anprobiert hatte, gemerkt, wie weich sie war. Irgendwie wusste ich, dass sie weich genug für uns beide war.

 

»Ich wünschte, wir könnten zusammen zur Schule gehen«, sagte Lindy eines Morgens, als wir mit dem Unterricht fertig waren. »Ich meine, dass du auf meine Schule, meine alte Schule gehen könntest.«

Mir wurde bewusst, dass sie dadurch ausdrückte, dass sie zwar immer noch wegwollte, aber dass sie auch mit mir zusammen sein wollte.

»Würde es mir dort gefallen?« Es war später Nachmittag. Ich hatte – ganz unverfroren – die Läden aufgemacht, und das Licht warf einen goldenen Schimmer auf ihr Haar. Ich sehnte mich danach, es zu berühren, aber ich tat es nicht.

Sie dachte darüber nach. »Wahrscheinlich nicht. Die Kids dort sind alle reich und schnöselig. Ich hab da nicht hineingepasst.«

Ich hatte hineingepasst. Inzwischen erstaunte mich das. »Was würden deine Freunde sagen, wenn sie jemanden wie mich dort sähen?«

»Ich hatte keine Freunde.« Sie lächelte. »Aber ich bin mir sicher, dass einige der Eltern im Eltern-Lehrer-Ausschuss Probleme mit dir hätten.«

Ich lachte, als ich mir das vorstellte. Natürlich kannte ich die Eltern, die sie meinte, ganz genau – nicht dass so jemand verwandt mit mir gewesen wäre – aber es gab Eltern, die zu allen Elternabenden rannten, freiwillig in der Schule mithalfen und sich grundsätzlich über alles beschwerten. Ihnen würde es etwas ausmachen. Ich half ihr dabei, ihre Bücher einzusammeln. »›Ich möchte nicht, dass irgendwelche Monster mit meinem Kind das Klassenzimmer teilen!‹ Das würden sie auf dem Elternabend sagen. ›Ich zahle gutes Geld für diese Schule. Sie können nicht einfach irgendwelches Gesindel aufnehmen.‹«

Sie lachte. »Genau das.« Sie ließ die Bücher auf dem Tisch liegen und ging in Richtung Gewächshaus. Das war zu einem täglichen Ritual geworden. Nach dem Unterricht aßen wir zu Mittag, dann lasen wir und diskutierten anschließend über das, was wir gelesen hatten – Hausaufgaben für Leute, die nie das Haus verließen. Danach gingen wir durch das Gewächshaus, und sie half mir beim Gießen und anderen Arbeiten.

»Wir könnten ab jetzt hier draußen lernen, nun da es kühler ist«, schlug ich vor.

»Das wäre schön.«

»Brauchst du Blumen?« Das fragte ich sie jeden Tag. Wenn die Rosen in ihrem Zimmer verwelkt waren, schnitten wir neue. Das war das einzige Geschenk, das ich ihr machen konnte, das Einzige, was sie von mir annahm. Ich hatte ihr andere Dinge angeboten, aber sie hatte immer abgelehnt.

»Ja, bitte. Wenn du sie nicht vermisst.«

»Ich werde sie vermissen. Aber ich freue mich, wenn ich sie dir schenken kann, Lindy, dass ich jemanden habe, dem ich sie geben kann.«

Sie lächelte. »Das verstehe ich, Adrian.« Wir blieben vor einer weißen Teerose stehen. »Ich weiß, was es bedeutet, einsam zu sein. Ich war mein ganzes Leben lang einsam, bis …« Sie hielt inne.

»Bis was?«, fragte ich.

»Nichts. Ich habe vergessen, was ich sagen wollte.«

Ich lächelte. »Schon gut. Welche Farbe möchtest du dieses Mal? Ich glaube, letztes Mal hattest du Rot, aber die Roten halten nicht lange, oder?«

Sie beugte sich vor und fingerte an einer weißen Rose herum. »Weißt du, ich war damals total verknallt in diesen Typen an meiner Schule.«

»Echt?« Ihre Worte waren wie ein Eispickel, und ich fragte mich, ob es jemand war, den ich kannte. »Wie war er?«

»Perfekt.« Sie lachte. »Der typische Kerl, in den man sich einfach verlieben muss, nehme ich an. Gut aussehend, beliebt. Ich hielt ihn sogar für klug, aber vielleicht wollte ich auch nur, dass er klug ist. Es störte mich, dass ich jemanden nur wegen seines Aussehens mochte. Du weißt ja, wie das ist.«

Ich schaute weg, damit ich meine tierische Hand nicht auf den Rosen sah. Zwischen den Rosen und ihren Erinnerungen an diesen tollen Typen kam ich mir ganz besonders abscheulich vor.

»Aber es ist schon seltsam«, sagte sie. »Die Leute machen so einen Wirbel um das Aussehen, aber nach einer Weile, wenn man jemanden kennt, dann fällt einem das gar nicht mehr auf, nicht wahr? Dann sieht er eben einfach so aus.«

»Findest du?« Ich kam näher und stellte mir vor, wie es wäre, den Umriss ihres Ohres mit meinen Klauen nachzuziehen und ihr Haar zu riechen. »Wie hieß dieser Typ?«

»Kyle. Kyle Kingsbury. Ist das nicht ein unglaublicher Name?«

Sie lachte, als wäre ihr bewusst, wie oberflächlich das klang. »Na ja, das ist nicht alles. Er war so selbstbewusst und unerschrocken und ich überhaupt nicht. Er sagte, was er dachte. Natürlich wusste er nicht, dass es mich überhaupt gab, bis auf das eine Mal … es war bescheuert.«

»Nein. Erzähl es mir.« Aber ich wusste schon, was jetzt kommen würde.

»Ich half bei einem Ball. Ich hasste es, auf Bällen zu helfen. Ich fühlte mich dumm und arm, aber man wurde … dazu angehalten, wenn man ein Stipendium hatte. Jedenfalls war er mit seiner Freundin da – diesem vollkommen niederträchtigen Mädchen namens Sloane Hagen. Ich erinnere mich daran, dass er ihr ein Anstecksträußchen gekauft hatte – eine herrliche weiße Rose.« Sie fummelte an den Rosen vor sich herum. »Sloane bekam einen Tobsuchtsanfall, weil es keine Orchidee war, weil es nicht teuer genug war, nehme ich an. Aber ich erinnere mich daran, dass ich dachte, dass ich für immer glücklich sein würde, wenn ich eine solche Rose von einem Typen wie Kyle Kingsbury geschenkt bekäme. Und gerade als ich das gedacht hatte, kam er zu mir herüber und gab sie mir.«

»Ja?« Mir schnürte es die Kehle zu.

Sie nickte. »Ich merkte ihm an, dass das für ihn nichts Besonderes war, aber in meinem ganzen Leben hatte mir noch nie jemand eine Rose geschenkt. Noch nie. Ich verbrachte die ganze Nacht damit, sie anzuschauen. Mir gefiel die Art und Weise, wie ihr Kelch sie wie eine winzige Hand umschloss. Ich stellte sie sogar in eine kleine Flasche, damit sie länger am Leben blieb. Und dann der Duft – ich fuhr mit der U-Bahn nach Hause und roch die ganze Zeit daran. Dann presste ich sie zwischen den Seiten eines Buches, damit ich mich für immer daran erinnern kann.«

»Hast du sie immer noch?«

Sie nickte. »Oben, in einem Buch. Ich habe sie mitgebracht. An jenem Montag wollte ich eigentlich Kyle suchen und mich noch einmal bei ihm bedanken, aber er war nicht in der Schule. Er war übers Wochenende krank geworden und verpasste den Rest des Schuljahres. Danach ging er aufs Internat. Ich habe ihn nie wiedergesehen.«

Sie sah so traurig aus, und ich dachte daran, dass ich sie ausgelacht hätte, wenn sie an jenem Montag zu mir gekommen wäre und sich für die alte, kaputte Rose bedankt hätte. Ich hätte ihr ins Gesicht gelacht. Zum ersten Mal war ich froh darüber, dass ich an dem Montag nicht zur Schule gegangen war. Kendra hatte sie vor mir beschützt.

»Sollen wir jetzt welche pflücken?«, fragte ich.

»Ich liebe die Rosen, die du mir schenkst, Adrian.«

»Wirklich?«

Sie nickte. »Ich hatte nie schöne Sachen. Aber es macht mich traurig, sie verwelken zu sehen. Die gelben Rosen halten am längsten, aber es ist immer noch zu kurz.«

»Deshalb habe ich dieses Gewächshaus gebaut. So habe ich das ganze Jahr etwas von ihnen. Es wird niemals Winter, obwohl wir bald Schnee bekommen werden.«

»Aber ich mag den Winter. Bald ist Weihnachten. Ich sehne mich danach, nach draußen zu gehen und den Schnee anzufassen.«

»Es tut mir leid, Lindy. Ich wünschte, ich könnte dir alles geben, was du willst.«

Und das wünschte ich mir wirklich. Ich hatte mich so bemüht, alles perfekt für sie zu machen, indem ich ihr Rosen brachte und Gedichte vorlas. Der schöne Kyle Kingsbury hätte einfach nur über den Planeten zu spazieren und gut auszusehen brauchen, damit sie ihn liebte. Wenn sie hier mit ihm festsitzen würde, wäre sie glücklich. Aber wenn sie mit mir hier festsaß, dachte sie an ihn. Aber trotzdem wollte ich nicht wieder mein altes Ich werden, selbst wenn ich es gekonnt hätte. Ich wäre wahrscheinlich wie mein Vater geworden, der außer seinem Aussehen und seinem Geld nichts im Leben hatte. Ich wäre unglücklich gewesen und hätte niemals erfahren, warum.

Wenn ich nicht verwandelt worden wäre, hätte ich nie gewusst, was mir fehlte.

Wenigstens wusste ich das jetzt. Selbst wenn ich für immer eine Bestie blieb, ging es mir besser als je zuvor.

Ich zog eine Rosenschere aus meiner Tasche, fand die vollkommenste der weißen Rosen und überreichte sie ihr. Ich wollte ihr alles geben, sogar ihre Freiheit.

Ich liebe dich, dachte ich.

Aber ich sprach es nicht aus. Es war nicht so, dass ich befürchtete, sie würde mich auslachen. Dafür war sie viel zu gütig. Viel mehr Angst hatte ich davor, dass sie es nicht erwidern würde.

 

»Sie wird mich niemals lieben«, sagte ich später zu Will, als wir in seinem Zimmer waren.

»Warum sagst du das? Es läuft so gut. Wir verbringen eine wunderbare Zeit im Unterricht, und ich spüre, dass die Chemie zwischen euch stimmt.«

»Das liegt daran, dass es Chemieunterricht ist. Aber sie will mich nicht. Sie möchte einen normalen Typen, jemanden, der lange Spaziergänge im Schnee mit ihr machen kann, einen, der das Haus verlassen kann. Ich bin ein Monster. Sie möchte jemand Menschliches.«

Will tätschelte Pilot und flüsterte ihm etwas zu. Der Hund kam zu mir. Will sagte: »Adrian, ich kann dir versichern, dass du menschlicher bist als die meisten anderen Leute. Du hast dich sehr verändert.«

»Aber das ist nicht genug. Ich sehe nicht menschlich aus. Wenn ich nach draußen ginge, würden die Menschen anfangen zu schreien, wenn sie mich sehen. Die meisten Leute achten auf das Aussehen. Das ist die Realität in der Welt.«

»Nicht in meiner Welt.«

Ich streichelte Pilot. »Ich mag Ihre Welt, Will, aber die Bevölkerung dort ist nicht besonders groß. Ich werde sie gehen lassen.«

»Glaubst du denn, dass es das ist, was sie möchte?«

»Ich glaube nicht, dass sie mich je lieben wird und …«

»Was?«

»Wissen Sie, wie es ist, wenn man sich so sehr danach sehnt, jemanden zu berühren, und es nicht kann? Wenn sie mich ja doch niemals lieben wird, sollte ich mich nicht selbst quälen.«

Will seufzte. »Wann willst du es ihr sagen?«

»Ich weiß nicht.« Mein Hals schmerzte fast zu sehr, um die Worte auszusprechen. Es wäre nicht fair, sie darum zu bitten, dass sie mich besuchen kommt. Sie könnte es aus Mitleid tun. Ich hatte meine Chance gehabt, sie dazu zu bringen, dass sie sich in mich verliebt, und ich hatte versagt. »Aber bald.«

 

»Ich lasse sie gehen«, sagte ich zu Kendra im Spiegel.

»Wie bitte? Bist du nicht mehr ganz dicht?«

»Nein. Ich lasse sie gehen.«

»Aber warum?«

»Es ist nicht fair, sie gefangen zu halten. Sie hat nichts Böses getan. Sie sollte die Freiheit haben, zu tun, was sie möchte, ihr eigenes Leben zu leben und im blöden, stinkenden Schnee herumzulaufen.« Ich dachte an das Poster, das im Zimmer eines Mädchens hing, das ich mal gekannt hatte. Ein Schmetterling war darauf abgebildet, zusammen mit den Worten: Wenn du etwas liebst, dann lass es los. Versteht sich von selbst, dass ich das damals superbescheuert fand.

»Schnee?«, fragte Kendra. »Du könntest das Gewächshaus abreißen, dann habt ihr Schnee.«

»Ja, klar. Sie sehnt sich aber danach, hinauszugehen in die richtige Welt.«

»Das ist dein Leben, Kyle. Es ist wichtiger als …«

»Nicht Kyle, Adrian. Und nichts ist wichtiger für mich als das, was sie möchte. Ich sage es ihr heute beim Abendessen.«

Kendra sah nachdenklich aus. »Das bedeutet, dass du den Fluch vielleicht niemals brechen wirst.«

»Ich weiß. Aber ich hätte ihn sowieso niemals brechen können.«

 

An diesem Abend ließ ich mir vor dem Essen Zeit, mir die Haare zu kämmen und mich zu waschen. Ich hörte, wie Magda mich rief, aber ich trödelte weiter. Ich wollte nicht zu Abend essen, weil es das letzte Mal sein könnte. Ich hoffte, dass Lindy die Nacht noch dableiben und erst morgen früh gehen würde, oder noch besser: sich ein paar Tage Zeit lassen würde, um ihre Sachen zu packen – die Bücher, Kleider und Parfüms, die ich für sie gekauft hatte. Was sollte ich tun, wenn sie alles hierließ, wenn sie wegging? Es würde mich nur an sie erinnern, so als wäre sie gestorben.

Natürlich hoffte ich wirklich sehr, aus tiefstem Herzen, dass sie sagen würde: »Oh nein, Adrian, es würde mir nicht im Traum einfallen, dich zu verlassen. Ich liebe dich zu sehr. Aber es war so süß und selbstlos von dir, mich gehen zu lassen, dass ich dir jetzt einen Kuss gebe.« Und dann würde sie mich küssen, der Fluch würde gebrochen, und sie würde für immer zu mir gehören. Und genau das wollte ich wirklich – für immer mit ihr zusammen sein.

Aber darauf konnte ich nicht hoffen.

»Adrian!« Magda klopfte. Ich war fünf Minuten zu spät dran.

»Komm rein.«

Sie stürmte herein. »Adrian. Ich haben eine Idee.« Ich versuchte zu lächeln. »Du nicht müssen Lindy gehen lassen. Mir ist eingefallen, wie du sie mehr frei sein lassen kannst, wie du ihr mehr von allem, was sie möchten, geben kannst.«

»Ich kann nicht nach draußen.« Ich dachte an das Mädchen auf der Halloween-Party. »Es ist nicht möglich.«

»Nicht hier«, sagte sie. »Aber hör zu. Ich habe mir Möglichkeit ausgedacht.«

»Magda, nein.«

»Du sie lieben, oder?«

»Ja, aber es ist hoffnungslos.«

»Dieses Mädchen braucht auch Liebe. Das ich sehe.« Sie bedeutete mir, mich auf den Stuhl neben der Tür zu setzen. »Du zuhören diese eine Mal.«