Nach achtzehn Jahren in Mainz, davon gute sieben als Trainer, war für Jürgen Klopp die Zeit einer neuen Herausforderung gekommen. Es trieb ihn dauerhaft in die Bundesliga, mit Mainz war er 2007 wieder in die Zweite Liga abgestiegen. Allerdings hielt sich Klopp dabei eine Hintertür offen: Nach monatelangen Spekulationen um des Trainers berufliche Zukunft präsentierten Klopp und Mainz im August 2008 eine überraschende Lösung: Sollte ihm mit dem FSV der direkte Wiederaufstieg in die Bundesliga gelingen, würde sich sein auslaufender Vertrag automatisch um ein Jahr verlängern. Doch dazu kam es nicht: Als mal wieder Vierter mit lediglich zwei Punkten Rückstand auf einen Aufstiegsrang verpassten die Rheinhessen nur knapp die sofortige Rückkehr ins Oberhaus. Klopp und Mainz – diese gewachsene, emotionale Verbindung war nun also tatsächlich Geschichte.

»Hätte weitaus schlimmere Angebote
als das vom BVB geben können«

In Dortmund hatten sich im Sommer 2008 die Borussia und ihr Trainer Thomas Doll getrennt, der vor allem auf die Erfahrung älterer Spieler vertraute. Doch der BVB strebte, auch der Finanznot geschuldet, nach einer neuen Philosophie und wollte verstärkt auf junge Spieler setzen; dazu den Fans im Signal Iduna Park wieder einen attraktiven Spielstil präsentieren. Dafür schien der Mainzer Trainer Klopp genau richtig, der in einem Team ohne Stars ansehnlichen wie taktisch reifen Fußball spielen ließ.

Mit diesen Argumenten ausgestattet, mussten die Dortmunder für ein Engagement kaum Überzeugungsarbeit bei Klopp leisten. Auch die Atmosphäre stimmte sofort, die BVB-Verantwortlichen Michael Zorc und Hans-Joachim Watzke vermittelten Klopp das Gefühl, ausschließlich ihn zu wollen: »Ehrlich gesagt, wussten wir (Anm.: Klopp und seine Co-Trainer) sofort, dass wir das machen. Wir haben dann nur so getan, als würden wir noch ein bisschen zocken«, verriet Klopp Jahre später.13 »Es hätte weitaus schlimmere Angebote als das von Borussia Dortmund geben können«, stellte sich Klopp gleich gut gelaunt beim BVB vor – gepaart mit seinem typischen Grinsen und einer betont ironischen Formulierungskunst, ein von Klopp gern gebrauchtes rhetorisches Stilmittel. Mit solchen Sprüchen verbreitete der Medienprofi gleich zu Beginn Spaß. Spaß, den sie beim BVB in den letzten Jahren schmerzlich vermisst hatten.

Auch das Stadion war für Klopp ein gewichtiges Argument pro Dortmund: »Wenn du die ersten Male in unser Stadion kommst und da 80.000 Leute sind, dann denkst du: Boah! Aber man gewöhnt sich nicht daran. Es ist jedes Mal derselbe Kick, wenn du in dieses Stadion reinkommst. Du kriegst immer wieder Gänsehaut«, begeistert er sich noch immer.14

Wenn nur noch imaginärer Torjubel bleibt

Der BVB war für den damals 41-Jährigen ein dankbares neues Betätigungsfeld. Der einst stolze Klub von internationaler Bedeutung war ins sportliche Mittelmaß abgerutscht und hatte die Vorsaison 2007/08 auf einem mageren Platz dreizehn beendet. Der Einzug ins DFB-Pokalfinale, in dem gegen Bayern München mit 1:2 nach Verlängerung – fast schon überraschend knapp – verloren wurde, hatte zumindest für die Qualifikation zum UEFA-Cup gesorgt. Noch knapp eine Woche zuvor hatte der BVB in der Bundesliga beim selben Gegner mit 0:5 eine herbe Klatsche erlitten und sich dabei als hoffnungslos unterlegen erwiesen. In München setzte sich bei den mitgereisten BVB-Fans der Sarkasmus gegen die Enttäuschung durch: Kurz vor der Pause, es stand bereits 0:4, vollführen sie mehrfach einen imaginären Torjubel – so lange, bis ihr Team mit 5:4 »führte«. Auf dem Rasen allerdings war die Realität eine andere.

Die Tristesse der Dortmunder Spielzeit 2007/08 beschreibt folgender Auszug aus einem Kommentar von Philipp Köster im April 2008:15 »(…) Und in der Zeit, in der ein in der Defensive eroberter Ball den Weg in die Dortmunder Spitze gefunden hat, gehen manche Zuschauer auf der Südtribüne zweimal Bier holen. (…) Nun können die Dortmunder so weitermachen. (…) Oder es stellt tatsächlich mal jemand die Frage nach einem stimmigen sportlichen Konzept. Das wäre etwas ganz Neues.«

In dieser Situation kam Klopp nach Dortmund. Um Aufbauarbeit zu leisten. Um ein stimmiges sportliches Konzept mitzubringen. Die Erwartung war hoch, aber nicht unermesslich. Den schwarz-gelben Fans dürstete es nach schön anzuschauendem, aber viel mehr noch nach leidenschaftlich geführtem Fußball. Titel schienen vermessen, doch wieder eine Mannschaft, die es leicht machte, sich mit ihr zu identifizieren – das wünschten sie sich in Dortmund. Klopp gab dem BVB-Volk, wonach es gierte, versprach ab sofort »Vollgas-Veranstaltungen«. Würde die Mannschaft halten können, was der neue Trainer ankündigte?

Dortmunder Stimmungslage im Sommer 2008:
Ein Trainingstag in Brackel

Juli 2008.16 Mit dem Sparzwang der Vorjahre hat sich das Mannschaftsbild des BVB gewandelt und ist nicht mehr geprägt von den großen Stars wie noch um die Jahrtausendwende. Ein Stefan Reuter, ein Jürgen Kohler, ein Jan Koller – sie alle sind Dortmunder Geschichte. Der neue Star ist der Coach. Überlebensgroß mahnt der neue Trainer auf Plakaten an der Bundesstraße 1, die mitten durch die Stadt führt: »Lass’ Dir Deinen Stammplatz nicht wegnehmen!« So sollen die Dauerkarteninhaber gehalten werden, die inzwischen entwöhnt sind von ansehnlichen Kombinationen, Tempodribblings und allem, was Fußball so schön macht. Und das Wochenende für Wochenende. Sie gehen noch immer zu den Heimspielen, weil man das halt so macht in Dortmund. Nicht so sehr den aktuellen Spielern zuliebe, sondern wegen der bedingungslosen Liebe zum Verein.

Brackel, ein Vorort im Dortmunder Osten. Gesprochen mit langem Vokal, also »Braakel« statt »Brakkel«. Auf dem Trainingsgelände des BVB ist der zupackende »Kloppo« ganz in seinem Element: Er müht sich, »Chancentod« Nelson Valdez mehr Treffsicherheit zu vermitteln und in Schöngeist Giovanni Federico das, wie er sagt, »Kampfschwein zu wecken«. In Brackel können es die Trainingskiebitze tagein, tagaus überprüfen: Klopp ist im Hauptberuf nicht Medienprofi, sondern Fußballlehrer, der unermüdlich an der Umsetzung seiner Spielidee arbeitet. Intensiv lässt er das Arbeiten gegen den Ball üben, das gemeinschaftliche Verteidigen im Teamverbund. Alle müssen mitmachen, auch offensive Mittelfeldspieler und Stürmer. Denn die Borussia kassierte in der Vorsaison 62 Gegentore. Zu viele. Und mehr als alle anderen Bundesligisten.

Als der BVB im inoffiziellen »T-Home-Supercup«17 2008 den »Fehler« begeht, die Bayern mit 2:1 zu schlagen, träumen sie in Dortmund wieder von höheren Zielen, die User »Ikpeba« auf transfermarkt.de auf den Punkt bringt: »Kloppo, bring’ uns die Freude am Fußball wieder!« Darunter machen sie es nicht. Klopp weiß, dass schon alles passen muss, um auch »Ikpeba« zufriedenzustellen. In Dortmund hat er sich erstmal nur zur Miete niedergelassen. Sicher ist sicher.18 Er ist bemüht, die Ansprüche zu senken und lobt nach dem mühsamen Pokalsieg bei Drittligist Rot-Weiß-Essen: »Die Mannschaft hat das neue Gesicht angedeutet, von dem wir alle seit Wochen reden.«

Klopp unterbricht die Trainingseinheiten immer wieder, lässt wiederholen, bis sie seinen Vorstellungen entsprechen, bis sie automatisiert sind. Denn die »flache Vier« im Mittelfeld, sie sitzt noch nicht. Doch eingespielte Vorgänge sind wichtig. Wer auf dem Feld erst nachdenken muss, der hat schon verloren: »Wenn ich auf die Grundlinie durchkomme und im Strafraum ist einer glockenfrei, sollte man den idealerweise dann auch sehen. Da muss ich schon ein bestimmtes Blickfeld haben, wo der Mitspieler auftauchen könnte«, fordert Klopp.

Den klassischen Spielmacher gibt es im BVB-System nicht; die beiden »Sechser« Tinga und Sebastian Kehl sollen mit den Außen Jakub »Kuba« Blaszczykowski (bei seiner Verpflichtung 2007 bereits als »polnischer Luis Figo« gerühmt) und Tamas Hajnal die Räume eng machen. Es bleibt noch viel zu tun. Klopp weiß das.

Klopp bringt »die Süd« wieder hinter ihr Team

Trotz Platz dreizehn, der schlechtesten Platzierung des BVB seit genau 20 Jahren, lockten die Schwarz-Gelben auch 2007/08 die meisten Zuschauer an: 72.510 waren es im Schnitt. Dennoch ist sie zu dieser Zeit nur noch ein Anachronismus, die einst grandiose Stimmung im Signal Iduna Park. Ebenso wie das sportliche Spektakel, das dort herrschte, als der Park noch Westfalenstadion hieß. Doch mit den teuer erkauften Titeln der Ära Gerd Niebaum und Michael Meier stieg auch die Erwartungshaltung der Fans. Das Stadion wuchs zwar auf fast doppelte Größe an, aber die Anzahl »echter« Fans, die nicht nur deshalb kamen, weil sie am Erfolg teilhaben wollten, weil es »en vogue« war, zur Borussia zu gehen – sie konnte damit nicht Schritt halten. Der Heimvorteil kehrte sich um, zuweilen schienen die eigenen Spieler den Unmut der gigantischen Südtribüne zu fürchten, wenn der eigene Pass beim Gegenspieler ankam. Es kann verdammt laut sein, wenn 25.000 Anhänger plötzlich gemeinsam schweigen.

Ganz anders hingegen zeigte sich damals die Stimmung bei Auswärtsspielen: Unter jenen BVB-Fans, die für ihre Fahrten quer durch Deutschland regelmäßig ihr Wochenende opfern. Fans, die schon Mitte der 1980er Jahre, als die künftigen Erfolge nicht absehbar waren, zu ihrem Verein hielten, können selbst bei einem 0:5-Rückstand in München noch feiern. Mit Sarkasmus zwar, aber sie pfiffen ihr Team zumindest nicht aus.

»Eine Wand des Sounds«
Klopp sollte es gelingen, den alten Südtribünen-Geist zu wecken, die Fans wieder bedingungslos hinter die Borussia zu bekommen. Sicher, beim Eilen von Sieg zu Sieg wie in der Meistersaison mag das keine Kunst sein. Doch charakteristisch fiel ein englischer Zeitungskommentar aus, geschrieben nach dem 1:1 in der Champions League im September 2011 gegen den FC Arsenal:
»(Arsenal-Trainer Arsène) Wenger hatte das Westfalenstadion19 als Tempel des deutschen Fußballs beschrieben und es war schwer, ihm zu widersprechen. (…) Die riesige Gelbe Wand ist wie das Holte End im Villa Park20, nur größer. (…) Nach dem Anstoß war sie auch eine Wand des Sounds«, schrieb die von der Atmosphäre beeindruckte Independent.
Erst in der 89. Minute gelang dank eines fulminanten Schusses von Ivan Perišic der späte aber vollkommen verdiente Ausgleich, nachdem der BVB seit der ersten Halbzeit einem unglücklichen Rückstand hinterhergelaufen war. Der Partie vorausgegangen war eine ernüchternde 1:2-Heimniederlage gegen Aufsteiger Hertha BSC Berlin in der Bundesliga. Nun, gegen Arsenal, hatte vor allem die »Gelbe Wand« der Südtribüne ihr Team mit unermüdlicher Anfeuerung förmlich zum Ausgleich getrieben – unterstützt auch von den übrigen, sonst eher zurückhaltenden Tribünen.

Rasenschach verpönt

Ähnliche Ziele wie der enthusiastische Neue hatten in Dortmund zuvor auch schon andere Trainer formuliert, um dann von der Realität widerlegt zu werden. Klopps Vor-Vorgänger Jürgen Röber hielt bei seiner Präsentation eine flammende Rede über Leidenschaft und Einsatzwillen. Nach nicht einmal drei Monaten war er seinen Posten wieder los. Während der Saisonvorbereitung 2007 war die Euphorie nach einem 4:0-Testspielsieg über den AS Rom riesengroß. Vergessen wurde, dass die Stars der Roma gerade erst aus dem Urlaub zurückgekehrt waren und gedanklich noch am Strand lagen. Die folgende 1:3-Auf-taktpleite gegen den MSV Duisburg war der Beginn einer trostlosen Bundesligasaison, an deren Ende auch für Röbers Nachfolger Thomas Doll das Kapitel Borussia beendet war.

»Rasenschach hat noch keine meiner Mannschaften gespielt« gibt Klopp gleich bei seiner Vorstellung im Mai die Richtung vor – und will seinem Team eine neue Philosophie vermitteln. »Wiedererkennungswert« müssten die Spiele des BVB haben, fordert er. Dabei besitzt der Trainer den Mut, die von den Mittdreißigern Christian Wörns und Robert Kovac verkörperte alte Manndeckerschule in Rente zu schicken. Stattdessen setzt er auf die Youngster Mats Hummels und Neven Subotic, beide 19 Jahre alt und somit das jüngste Innenverteidiger-Paar der Bundesligageschichte – medial gerne auch als »Kinderriegel« bezeichnet. Subotic war direkt mit Klopp aus Mainz gekommen, nachdem er sich dort im Vorjahr als Stammspieler etabliert hatte.

In Brackel wird in diesem Sommer 2008 jeder noch so kleine Hinweis, dass es mit der Borussia wieder aufwärts gehen könnte, mit Dankbarkeit registriert. Stellvertretend für die BVB-Anhänger blickt ein Trainingskiebitz optimistisch in die Zukunft: »Eigentlich wollte ich in der neuen Saison meinen Enkel ins Stadion schicken, der hat vielleicht noch die Geduld für so ein Gegurke wie in den letzten Jahren.« Nun will er selber hingehen und den Stammplatz behalten. »Wegen Kloppo«, wie er sagt.

Die irre Aufholjagd im Revierschlager

Wie von Klopp gefordert, behielten reichlich BVB-Fans ihren »Stammplatz«. Nach dem Rekordverkauf im Vorjahr von 50.549 Dauerkarten, pendelte er sich 2008 bei einer immer noch bemerkenswerten Anzahl von 49.500 ein. Dank überzeugender Auftritte wurde bald darauf die 50.000-Marke wieder geknackt, ehe nach dem Meisterjahr mit 53.000 abgesetzten Dauertickets ein neuer Bundesliga-Rekord aufgestellt wurde. Nicht nur die Mannschaft hörte auf ihren neuen Trainer.

Klopps Arbeit trägt auch sportlich sofort erste Früchte: Der Auftakt in die neue Spielzeit 2008/09 fällt mit einem 3:2 bei Bayer Leverkusen nach Maß aus. Ein großer Wermutstropfen ist allerdings die Verletzung von Dede, seit 1998 beim BVB eine »Bank« als linker Außenverteidiger. Der Brasilianer zieht sich einen Kreuzbandriss zu und fällt dadurch monatelang aus. Klopps Heimspieldebüt am 2. Spieltag wird mit einem 1:1 gegen den amtierenden Deutschen Meister Bayern München zumindest zu einem Achtungserfolg. Der 1:0-Sieg bei Energie Cottbus gerät dann zur gelungenen Einstimmung auf das anstehende Revierderby gegen den ewigen Erzrivalen Schalke 04. Klopps erstes Derby sollte gleich zu einem Meilenstein seiner Premieren-Saison in Dortmund werden.

Jeder Neuankömmling in Dortmund oder Schalke bekommt es unverzüglich eingeimpft: Es gibt in der Bundesliga 34 Spieltage, aber nur zwei Begegnungen, in denen es um mehr als drei Punkte geht. In diesen Spielen geht es um die sportliche Vorherrschaft im Revier, um die Harmonie am Arbeitsplatz jedes Fußballfans in schwarz-gelb oder blau-weiß: die beiden Derbys gegen den großen Rivalen.

Ausgerechnet dieses bereits traditionell hochbrisante Revierderby geriet zu einem der wichtigsten Spiele in Klopps erster Dortmunder Saison: Vor eigenem Publikum lag der BVB am 13. September 2008 nach knapp einer Stunde mit 0:3 desillusionierend zurück. Schalkes Angreifer Kevin Kuranyi hätte bei einer Großchance für die endgültige Entscheidung zugunsten von Königsblau sorgen können, doch er vergab. Besser machte es kurz darauf BVB-Verteidiger Neven Subotic, der in der 67. Minuten auf 1:3 verkürzte. Ein Treffer, der nicht nur seiner Mannschaft, sondern auch den 25.000 auf der Südtribüne neues Leben einhauchte. Und die ihr Team immer leidenschaftlicher nach vorne trieb, als der zur Pause eingewechselte Alexander Frei nur drei Minuten später mit einem Traumschuss in den Winkel für den Anschluss zum 2:3 sorgte – allerdings aus nicht geahndeter Abseitsposition.

Derbyheld Alexander Frei

Schalke verlor nun die Nerven und musste die letzte knappe Viertelstunde zu neunt agieren, nachdem sowohl Christian Pander als auch Fabian Ernst vom Platz gestellt worden waren. Trotz wütender Angriffe wollte dem BVB der Ausgleich zunächst nicht gelingen, ehe Gäste-Verteidiger Mladen Krstajic der Ball im Strafraum an den Arm geschossen wurde. Die Folge: ein zweifelhafter Strafstoß. Ob berechtigt oder nicht, Alex Frei war es schnuppe: Er versenkte die Kugel in der vorletzten Spielminute zum nicht mehr erwarteten 3:3 – der Signal Iduna Park geriet zum Tollhaus! Was für ein Comeback: Denn für den Schweizer Ausgleichsschützen war dies sein erster Saisoneinsatz nach zuvor monatelanger Verletzung. Vermutlich rettete die Gäste nur der erstaunlich pünktliche Schlusspfiff des Schiedsrichters – ohne jede Nachspielzeit – vor einem weiteren Gegentreffer und somit einer schmachvollen Niederlage.

Mit Blick zu seinem Schalker Trainerkollegen Fred Rutten, der ebenfalls erst vor dieser Saison bei seinem neuen Klub angeheuert hatte, staunte Klopp nach dem Spiel: »Das war für uns beide ein Crash-Kurs, was in einem Derby alles abgehen kann.«

Ein Derby, für das Klopp und sein Trainerteam ihre Kicker besonders motiviert hatten: Vor Spielbeginn hatten sie den BVB-Profis ein Video gezeigt, auf dem eine Zusammenfassung vergangener siegreicher Derbys zu sehen war – verbunden mit dem Hinweis, nun selbst Geschichte zu schreiben. Auch wenn Klopp dabei vermutlich an einen anderen Spielverlauf gedacht hatte, seine Spieler hatten zweifellos auf ihn gehört.

Keine klassische Rollenverteilung
Nach drei Jahren in Dortmund verließ Derbyheld Alexander Frei den BVB 2009 und ging zurück in seine Schweizer Heimat zum FC Basel. Dass die Borussia ihren Torjäger ziehen ließ, lag auch an der veränderten Spielphilosophie unter Jürgen Klopp, in der die klassische Rollenverteilung passé ist, wie Thomas Hennecke als Leiter der Redaktion West des Kicker Sportmagazins erklärt:
»Bei Klopp verschwinden die Grenzen zwischen den einzelnen Mannschaftsteilen. Verteidiger eröffnen das Spiel und schieben es an; Stürmer leiten die ersten defensiven Störmanöver ein. Entsprechend systemkompatibel müssen Klopps Spieler sein. Angreifer wie Mladen Petric oder Alexander Frei hat er abgegeben, weil sie sein laufintensives Anforderungsprofil nicht erfüllten. So kritisch diese Personalien 2008 (Petric) und 2009 (Frei) auch von mir hinterfragt wurden, Klopps Entscheidungen machten Sinn. Und die Nachfolgefrage hat er mit Lucas Barrios goldrichtig geregelt: In ihm hat Klopp einen Angreifer nach Maß gefunden. Einen »Knipser«, der auch Bälle behaupten und ablegen kann und die taktischen Vorgaben seines Chefs punktgenau erfüllt.«

Mit dem Remis gegen Schalke war der BVB auch nach dem vierten Spieltag noch unbesiegt und blieb auf Augenhöhe mit dem punktgleichen Reviernachbarn aus Gelsenkirchen. Das zarte Pflänzchen Aufbruchstimmung, das Klopp in den ersten Wochen seit seiner Amtsübernahme erweckt hatte, es durfte sich weiter entwickeln. Daran konnte auch die deutliche 1:4-Niederlage bei 1899 Hoffenheim eine Woche später nichts ändern. Letztlich beendete der BVB die Saison auf einem achtbaren sechsten Rang – und verpasste damit nur um zwei Zähler den Einzug in die Europa League, dem Nachfolger des bisherigen UEFA-Cups.

Bitter dabei: Aufgrund eines eigentlich irregulären Treffers in der Nachspielzeit zog der Hamburger SV »last minute« noch am BVB vorbei auf Platz fünf. Dem Siegtor zum 3:2 bei Eintracht Frankfurt war eine Abseitsposition voraus gegangen. Dennoch: Im Vergleich zu Rang dreizehn im Vorjahr hatte die Mannschaft einen enormen Schritt nach vorne gemacht. Der Anfang einer Entwicklung war gemacht.

Welch enorme Bedeutung ein Sieg im Revierderby besitzt, merkte Klopp spätestens zwei Jahre später, als die Borussia – wieder am 4. Spieltag – in beeindruckend souveräner Manier in der »Höhle des Löwen«, der Schalker Veltins Arena, mit 3:1 triumphierte. Bei ihrer Rückkehr nach Dortmund per Bus wurden die siegreichen Helden von Hunderten BVB-Fans stürmisch gefeiert, Doppeltorschütze Shinji Kagawa sogar auf Schultern getragen. »Das war pure Ekstase. Gänsehaut pur, so was habe ich noch nie erlebt. Jetzt hat auch der Letzte gesehen, was so ein Derby-Sieg bedeutet«, staunte Klopp.21

Inventur in der Winterpause

Mit weniger Glück als beim Derby im September 2008 verlief Klopps erster Auftritt mit dem BVB auf internationalem Terrain. In der ersten Runde des UEFA-Cups traf Dortmund auf den italienischen Vertreter Udinese Calcio. Ernüchternd fiel das 0:2 auf eigenem Platz aus, als sich die Gastgeber etwas naiv auskontern ließen. Begeisternd dagegen war die Aufholjagd im Rückspiel in Udine, das nach 120 Minuten eine 2:0-Führung der Borussen sah. Nur aufgrund des verlorenen Elfmeterschießens verpassten die Westfalen den Einzug in die Gruppenphase. Für die Italiener war erst im Viertelfinale gegen Werder Bremen Endstation.

Noch während seiner ersten Saison in Dortmund krempelte Klopp sein Team kräftig um: Zum Wintertransfermarkt 2008/09 verließen Antonio Rukavina, Diego Klimovicz, Giovanni Federico, Delron Buckley, Marc-André Kruska und Robert Kovac den Verein, die beim BVB nur noch eine Nebenrolle gespielt hatten. Bereits vor Saisonbeginn hatte Abwehrhaudegen Christian Wörns, mehrjähriger Kapitän und seit neun Jahren bei der Borussia, kein neues Vertragsangebot mehr erhalten und seine Karriere beendet.

Ein glückliches Händchen besaßen die Dortmunder bei den Neuverpflichtungen, die sich fast durchweg als wertvolle Verstärkungen erweisen sollten: Bereits im Sommer war neben Klopps Weggefährten aus Mainz, Neven Subotic, mit Angreifer Mohamed Zidan (im Tausch mit Mladen Petric) ein weiterer Ex-Mainzer dazu gekommen, der bei den 05ern unter Klopp seine bisher stärksten Leistungen gezeigt hatte. Nuri Sahin, der bereits als 16-Jähriger für den BVB debütiert hatte und nach seiner Ausleihe von Feyenoord Rotterdam zurückgekehrt war, entwickelte sich nach seiner Rückkehr zum großen Mittelfeldlenker.

Auch weitere Neuzugänge saßen: Ob der brasilianische Innenverteidiger Felipe Santana, der ungarische Mittelfeldspieler Tamas Hajnal, DFB-Nationalspieler Patrick Owomoyela oder der südkoreanische Außenverteidiger Young-Pyo Lee, der als Vertreter des verletzten Dede zum BVB stieß – sie alle wurden während Klopps Dortmunder Anfangszeit zu Stützen des umgekrempelten BVB-Kaders. Auch der im Winter für ein halbes Jahr von Tottenham Hotspur ausgeliehene Kevin-Prince Boateng deutete schon damals sein Talent an, das er heute beim AC Mailand zur vollen Entfaltung bringt. Die Radikalkur wirkte, Klopps neues Team nahm immer mehr Konturen an.

Siegesserie nach Vertragsverlängerung

Das Jahr 2009 begann für den BVB mau: Von den ersten sieben Rückrundenspielen wurde nicht eines gewonnen. Doch die Vereinsführung dokumentierte ihr Vertrauen in die Arbeit von Jürgen Klopp und verlängerte den Vertrag vorzeitig bis 2012. Der Lohn: Direkt das nächste Spiel gegen Werder Bremen wurde mit 1:0 gewonnen, in den letzten zehn Bundesliga-Partien folgten acht Siege, die Schwarz-Gelb noch auf Rang sechs hievten.

Klopps Farbenlehre
Für Kicker-Redakteur und Dortmund-Experte Thomas Hennecke bewies Jürgen Klopp 2009 in der Phase siegloser Spiele seine Beharrlichkeit, als der Trainer seinem Stil unbeeindruckt treu blieb: »Damals gab es Schlagzeilen wie ›Ist Klopps Zauber verflogen?‹ Davon hat er sich überhaupt nicht beirren lassen. Und da habe ich gelernt, dass er nicht im Wochenrhythmus schwarz oder weiß sieht, sondern seine Grautöne mitnimmt und – um in der Farbenlehre zu bleiben – unglaublich konsequent an einem roten Faden arbeitet. Ganz gleich, was geschrieben oder gesagt wurde und an taktischen Änderungen gefordert wurde.«
In dieser Charaktereigenschaft liegt für Hennecke ein wesentlicher Schlüssel zu Klopps erfolgreicher Arbeit: »Auch in sportlichen Schwächephasen weicht er nicht einen Millimeter von seinem Kurs ab. Weil er von dem, was er tut, total überzeugt ist. Die sportliche Entwicklung der folgenden Monate hat ihm dann auch hundertprozentig Recht gegeben. Das ist für mich ein ganz wesentlicher Bestandteil seiner Persönlichkeit, dass er nicht ständig sein Koordinatensystem wechselt. Egal, von wo der Wind bläst – Klopp knickt nicht ein. Diese Standfestigkeit zahlt sich aus.«

Die Entwicklung setzt sich fort

Die Saison 2009/10 wurde für Borussia Dortmund zu einem weiteren Jahr der Stabilisierung; mit dem abschließenden Tabellenplatz fünf zeichnete sich Konstanz ab – wonach es zu Saisonbeginn allerdings erst überhaupt nicht ausgesehen hatte. Der BVB startete holprig und musste einige Rückschläge verdauen: Ein saftiges 1:4 gleich am zweiten Spieltag beim Hamburger SV lieferte erste Anzeichen dafür, dass Klopps geliebtes »Spiel gegen den Ball« von seiner Mannschaft nur unzureichend umgesetzt wurde. Das 0:5 im Freundschaftsspiel gegen Real Madrid hinzugerechnet, kassierte die Klopp-Truppe binnen fünf Tagen neun Gegentore. Die Defensive zeigte sich plötzlich vogelwild. So kam die Borussia am fünften Spieltag auch vor eigenem Publikum gegen Bayern München mit 1:5 böse unter die Räder.

Zu allem Überfluss ging das nächste Heimspiel ebenfalls verloren, mit 0:1 ausgerechnet gegen Schalke 04. Die Zwischenbilanz nach sieben Ligaspielen: erst ein Sieg, Platz 15, nur ein Zähler von der Abstiegszone entfernt. Es war nur etwa ein Fünftel der neuen Saison gespielt, doch sie schien schon jetzt verkorkst – und dies ausgerechnet in dem Jahr, in dem der BVB 09 sein 100-jähriges Vereinsbestehen feierte. Eigens dafür war auch Real Madrid angereist, hatte jedoch dem überforderten Gastgeber mit der 0:5-Packung seine Feier gründlich verhagelt.

Doch ähnlich wie zu Beginn des Kalenderjahres startete der BVB auch jetzt wieder eine furiose Aufholjagd – diesmal auch ohne eine erneute Vertragsverlängerung von Jürgen Klopp. Bis zur Winterpause rollten seine »Jungs«, wie Klopp seine Spieler bevorzugt nennt, das Feld von hinten auf, verloren kein weiteres Spiel mehr und rückten bis auf Rang fünf vor. Diese Position sollte der BVB bis Saisonende verteidigen und damit direkt in die Europa League einziehen. Wäre da nur nicht die erneute Niederlage gegen Schalke 04 (1:2) in der Rückrunde gewesen …

Und auch das Wiedersehen mit seinen alten Weggefährten in Mainz, die 2009 aufgestiegen waren, hatte sich Klopp sicher anders vorgestellt: Das 0:1 am 30. Spieltag sorgte für gemischte Gefühle bei Klopps Rückkehr an den Bruchweg.

Der fünfte Platz 2010 und damit die Qualifikation für das internationale Geschäft wurde von den BVB-Fans bereits begeistert gefeiert. Doch da ahnten sie noch nicht, welch herausragenden Feieranlass ihnen ihr Team ein Jahr später bescheren sollte …

Die Meistersaison

Die Saison 2010/11 sollte pünktlich zu Klopps zehnjährigem Trainerjubiläum zum bisher größten Erfolg seiner Laufbahn werden. Dabei war es nicht allein der Gewinn der Meisterschaft an sich, der begeisterte, sondern vor allem die Art und Weise, mit der sie errungen wurde. Um es mit Klopps eigenen Worten zusammenzufassen: »Dieser Kindergarten nagelt hier durch die Liga, als gäb’s kein Morgen. Das ist außergewöhnlich.«22 Mit dem 2:0-Sieg über den 1. FC Nürnberg, zwei Wochen vor Saisonende, hatte seine Mannschaft gerade den vorzeitigen Titelgewinn perfekt gemacht.

Nach dem letzten Spieltag feierte das Team erst in einem italienischen Restaurant, ehe sie es in einer Diskothek bis in die Morgenstunden so richtig krachen ließ. »Und dabei hat die Mannschaft gefeiert, wie sie gespielt hat: sehr leidenschaftlich«, verriet Klopp später. Und das zurecht, getreu des Trainers Motto: »Wer hart arbeitet, der darf auch feiern!«

Dabei hatte es zunächst alles andere als nach einer glanzvollen Spielzeit ausgesehen: Gleich der Saisonauftakt gegen Bayer Leverkusen ging vor eigener Kulisse mit 0:2 in die Hose. Was niemand ahnte: Es sollte bis zum Hinrundenausklang, dem 0:1 bei Eintracht Frankfurt, die vorerst letzte Niederlage bleiben. Dazwischen lag eine fantastische Serie von vierzehn Siegen und einem Remis. Es war die zweitbeste Hinrunde, die je ein Bundesligist gespielt hat.

Während der Winterpause wurde in der Öffentlichkeit intensiv darüber diskutiert, ob diese junge Truppe bereits reif sei für den Titel. Ob sie während der Pause nachzudenken beginne und ihre Unbekümmertheit verliere. Ob sie ihren satten Zehn-Punkte-Vorsprung noch verspiele. Ob, ob, ob. Doch gleich zum Rückrundenauftakt strafte der Spitzenreiter alle Zweifler Lügen, als er mit Bayer Leverkusen bei einem der ärgsten Verfolger einen beachtlichen 3:1-Erfog landete.

Erster Sieg beim FC Bayern seit zwanzig Jahren

Als ein weiterer Meilenstein zur Meisterschaft erwies sich die Partie am 24. Spieltag bei Bayern München im Februar 2011. Die Bayern waren nach dem frischen 1:0-Auswärtssieg in der Champions League bei Titelverteidiger Inter Mailand mit frischem Selbstvertrauen gestärkt und suchten nun ihre letzte Chance, noch in den Titelkampf eingreifen zu können. Ihr Präsident Uli Hoeneß erwartete gegen Dortmund »einen ganz klaren Sieg mit zwei Toren Unterschied«, wie er in der Bild-Zeitung optimistisch ankündigte. Gesagt, getan – nur dass beim 3:1 die zwei Tore Unterschied zugunsten der Gäste ausfielen.

Klopp hatte sein Team exzellent eingestellt und die gefürchtete Münchener Flügelzange um die Superstars Franck Ribéry und Arjen Robben matt gesetzt: Auf der linken Dortmunder Außenbahn doppelten Marcel Schmelzer und Kevin Großkreutz gegen Robben, auf der anderen Seite fand Ribéry kein Mittel gegen Lukas Piszczek, der defensiv auch von Mario Götze unterstützt wurde. Entstanden dann einmal Räume im zentralen Mittelfeld, wurden diese von den beiden »Sechsern« Nuri Sahin und Sven Bender gestopft. Im Ergebnis gelang es den Bayern nicht, ihr Spiel wie gewünscht aufzuziehen – dies auch, weil der Aktionsradius des Münchener Organisators Bastian Schweinsteiger aufgrund des engmaschigen und weit vorne beginnenden Dortmunder Abwehrverhaltens eingeschränkt war. Bemerkenswert: Ausgerechnet bei diesem Triumph stand mit einem Durchschnittsalter von 22,3 Jahren die jüngste Dortmunder Startelf der Bundesliga-Geschichte auf dem Spielfeld.

Nach diesem Erfolg, zugleich der erste des BVB bei den Bayern seit 1991, bekannten sich Spieler und Verantwortliche erstmals öffentlich dazu, Meister werden zu wollen. Zuvor schien auf Nennung des bösen »M«-Wortes eine vereinsinterne Strafe ausgesprochen worden zu sein, so, wie sich jeder Borusse darum gewunden hatte. Doch angesichts von nun zwölf Punkten Vorsprung auf den Zweiten Bayer Leverkusen – und sogar deren sechzehn auf den Titelverteidiger aus München – wären jede andere Zielsetzung auch nicht mehr glaubhaft gewesen.

Und tatsächlich gab der BVB seine Spitzenposition bis zum Saisonende nicht mehr her. Mit einem Durchschnittsalter von 24,2 Jahren wurde der »Kindergarten« zur jüngsten Meistertruppe der Bundesliga aller Zeiten.

Jugend statt Routine

Nach der Beinahe-Insolvenz des BVB hatte die schwarz-gelbe Fangemeinde von der nächsten Meisterschaft nicht einmal mehr zu träumen gewagt – und die folgenden Jahre in sportlicher Mittelmäßigkeit, Tendenz fallend, schien sie zu bestätigen: 2004 Sechster, 2005 Siebter, 2006 wieder Siebter, 2007 Neunter und 2008 Dreizehnter – ehe dann Jürgen Klopp das Ruder übernahm und die Trendwende einleitete.

Der zuvor letzte Dortmunder Trainer, dem dieses Kunststück gelang, war 2002 Matthias Sammer. Seine damalige Meistermannschaft lässt sich mit der von 2011 allerdings kaum vergleichen: Ihr Gerüst bestand in erster Line aus erfahrenen und oft kostspielig erworbenen Akteuren wie Jens Lehmann, Jürgen Kohler, Stefan Reuter, Christian Wörns, Dede, Miroslav Stevic, Jan Koller, Marcio Amoroso, Ewerthon oder Tomáš Rosický. Eigengewächse oder Nachwuchskräfte wie Lars Ricken und Christoph Metzelder waren eher die Ausnahme, ganz im Gegensatz zu 2011.

Der BVB machte aus der Not eine Jugend und setzte auf unverbrauchte, hungrige Spieler. Auf dem Feld agierte keine abgeklärt-reife Startruppe mehr, sondern »junge Wilde« wie der gebürtige Dortmunder Kevin Großkreutz, der das »Wir-sind-alles-Dortmunder-Jungs-Gefühl« vorlebt wie kein Zweiter. Ihm zur Seite standen ebenso hungrige Jungprofis wie Marcel Schmelzer, Mats Hummels, Mario Götze, Nuri Sahin oder Sven Bender. Das unbekümmerte, frische Auftreten dieser sportlichen Draufgänger machte es leicht, sich mit diesem Team verbunden zu fühlen.

BVB-Fans drängte sich der angenehme Eindruck auf: Hier wird Fußball ehrlich gelebt, die Nähe zu Region, Fans und Verein ist keine Worthülse, sondern wird mit Leben gefüllt. Dies ist ein wesentlicher Grund, warum dem Team von 2011 die Sympathien derart zuflogen. Ein Team, dessen Leistung ihr Torhüter Roman Weidenfeller treffend zusammenfasste – wenn auch nicht in reinstem Oxford-Englisch: »I think we have a grandios Saison gespielt!«, gab er beim spontanen Interview mit einem arabischen TV-Sender zu Protokoll. Ein Bonmot, das zum geflügelten Wort der folgenden Festivitäten wurde.

Festivitäten, die über zwei Wochen gingen und nach dem Sieg über Nürnberg ihren Anfang nahmen. »Wir hatten das Glück, schon vorzeitig Meister zu werden und so haben wir bei wunderschönem Wetter direkt eine große Party gestartet, sehr spontan, sehr ursprünglich. Das hat einen Riesenspaß gemacht«, erinnert sich Klopp gerne zurück.

Wie sehr Jürgen Klopp die Intensität berührte, mit der Dortmund seine Meisterhelden feierte, machte er im Mai 2011 in einem Interview deutlich:23

»Ich habe an diesem Wochenende, im Stadion, auf der Feier abends, am Sonntag beim Umzug durch die Stadt an mehreren Punkten gedacht: So was Schönes werde ich nicht mehr erleben! Das war jetzt der Höhepunkt! Und dann kamst du um die nächste Straßenecke, und es hat dich wieder überwältigt (…) Man hat zum ersten Mal wirklich verstanden, wie groß dieser Verein ist. Borussia Dortmund, das ist eine unglaublich große Energie (…) Wir haben fast alle mal Tränen in den Augen gehabt, manche haben richtiggehend geheult vor Freude. So etwas willst du wieder erleben. Dir wird an so einem Tag klar: In Dortmund ist Fußball nicht diese schönste Nebensache der Welt. Es ist eine Hauptsache (…) Die Leute hier, das habe ich spätestens am Sonntag verstanden, sind in weniger fantastischen Phasen mit dem gleichen Gefühl für den BVB da wie jetzt. Dieser Zusammenhalt verkürzt die schlechten Phasen.«

Als 23. Meistertrainer seit Gründung der Bundesliga verspürte Klopp weniger persönlichen Stolz über das Erreichte, sondern eine tiefe Freude darüber, den Menschen in der Region einen Traum erfüllt zu haben. Einen Traum, von dessen Erfüllung sie nach dem letzten Titelgewinn 2002 fast nicht zu hoffen gewagt hatten. Viel wichtiger war es, dass die Existenz des Vereins gesichert werden konnte, dass er überlebte. Ein Dank für den immensen Kredit, den der BVB unter seinen treuen Fans noch besaß, als die Banken ihn zu verweigern drohten.

Begehrlichkeiten der Konkurrenz: Wie lange bleibt das Team zusammen?
Für die jüngste Meisterschaft muss sich der BVB nicht schämen, denn sie war nicht mit einer existenzgefährdenden Schuldenpolitik erkauft. Sie wurde ehrlich erarbeitet – und das mit begeisterndem Fußball. Doch wie lange kann diese Fußball-Romantik aufrechterhalten werden, wie lange ist dieser Kader gewillt, sich gemeinsam weiter zu entwickeln und den Verlockungen anderer Klubs zu entsagen? Wie lange dauert es, bis die Automatismen des Geschäfts den nostalgischen Charakter verdrängen? Mit Nuri Sahin ging im Sommer 2011 der erste Schlüsselspieler zu einem europäischen Spitzenklub. Er wechselte zu Real Madrid. Weitere könnten folgen. Größte Begehrlichkeit weckt Jung-Nationalspieler Mario Götze, dem selbst der sonst in seinen Bewertungen so zurückhaltende DFB-Sportdirektor Matthias Sammer das Prädikat »außergewöhnlich« verleiht.
Ein kolportiertes Angebot des FC Arsenal für Götze über 40 Mio. Euro soll der BVB 2011 abgelehnt haben. Bayern-Präsident Uli Hoeneß bekannte öffentlich, Götze zukünftig gerne im Münchener Trikot zu sehen. Doch Borussia Dortmund kann es sich finanziell wieder leisten, seine Leistungsträger zu halten und somit die sportliche Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten. Er muss sein Tafelsilber nicht mehr verscherbeln. Die Teilnahme an der Champions League 2011/12 beschert zusätzliche Einnahmen. Doch was ist, wenn Verträge auslaufen und Spieler oder ihre Berater lukrativere Abschlüsse fordern? Steigt dann wieder der finanzielle Druck, der bei ausbleibendem sportlichen Erfolg für neue Explosionsgefahr sorgt? Klubchef Watzke schließt das aus. Dann müssten eben Spieler den Klub verlassen, der Verein werde nicht mehr über seine finanzielle Schmerzgrenze hinausgehen. Und so lange die Zorcs, Klopps und ihre Scouts weiterhin über ein gutes Näschen für Talente à la Shinji Kagawa, Sven Bender & Co. verfügen, kann die Erfolgsstory weitergeschrieben werden. Wenn.
Für Klopp ist seine Meistertruppe eine »ganz besondere Mannschaft«, deren großen Teamgeist und unverbrauchten Charakter er wahren will. Es ist ihm zu wünschen.

Trainer des Jahres

Als Lohn für seine Leistung – und stellvertretend auch die seiner Mannschaft – wurde Klopp im Juli 2011 von den deutschen Sportjournalisten zum »Trainer des Jahres« und somit zum Nachfolger des früheren Bayern-Trainers Louis van Gaal gewählt. Dabei fiel sein Vorsprung bei der Wahl gewaltig aus: Mit 743 von 972 Stimmen vereinnahmte Klopp schlappe 76 Prozent der Stimmen auf sich, die nächstplatzierten Trainerkollegen Mirko Slomka (Hannover 96) und Lucien Favre (Borussia Mönchengladbach) kamen auf 52 beziehungsweise 38 Stimmen.

»Eine vollkommene Szene«
Die Saison 2010/11 bot für den BVB viele Höhepunkte. Für Jürgen Klopp ist dabei auch eine Szene in bester Erinnerung, wie sie in dieser Form wohl nur einem Trainer auffällt, der akribisch an der Raumaufteilung seiner Mannschaft feilt. Dieses Idealbild kam am sechsten Spieltag zustande, in der Entstehung des Treffers durch Shinji Kagawa zum 2:1 beim FC St. Pauli (Endstand 3:1). Klopp gerät förmlich ins Schwärmen, denkt er daran zurück24:
»Die Strafraumbesetzung geht nicht besser als in dieser Szene. Wir wollen bei einem geordneten Angriff immer mindestens mit drei, besser vier Spielern im gegnerischen Strafraum sein, mindestens zwei weitere rund um den Strafraum. Götze geht mit dem Ball bis zur Torauslinie, passt von der rechten Seite zurück, Richtung Elfmeterpunkt, wo Großkreutz steht. Kevin könnte schießen, schießt aber nicht, sondern täuscht nur an, weiß aber, ohne zu gucken, dass Kagawa hinter ihm ganz frei stehen muss, weil das unser Spielzug so vorgibt. Kevin lässt also für Shinji durch, der den Ball flach in die Torecke schießt. Wäre der Ball an den Pfosten gegangen, dann steht dort verabredungsgemäß auch noch Bender, der den Abpraller hätte reinschieben können. Eine vollkommene Szene. Ich habe das Bild abgespielt und war glücklich.«
Klopp wertet Spiele umfangreich aus und gönnt sich dabei auch mal bis zu 30 DVDs pro Woche, um der Mannschaft positive wie negative Szenen vorzuführen – und zwar aufgesplittet nach Mannschaftsteilen, die so gezielt angesprochen werden. Ein Trainer, der seinen Spielern für den Urlaub ein Trainingsprogramm mitgibt und sich per SMS über das Gelingen informieren lässt. Ein Perfektionist.

Der Ausgezeichnete selbst sah die Meisterschaft bereits kurze Zeit später ganz pragmatisch und nüchtern: »Schon im Urlaub war sie Vergangenheit. Das ist schwer zu erklären. Es klingt jetzt so, als wäre es eine Formalität, das ist es gar nicht. Es ist ein wunderschönes Gefühl, aber das breitet man nicht aus.« Schon unmittelbar nachdem der Titel feststand, hatte Klopp betont, dass er eher Erleichterung denn überbordende Euphorie verspürte – die dann allerdings umso stärker bei der Meisterfeier aus ihm herausbrach.

Diese Einschätzung gut nachvollziehen kann Matthias Sammer, der Klopp beim Internationalen Trainerkongress 2011 in Bochum aus eigener Meister-Erfahrung ansprach: »Jürgen, als ihr Deutscher Meister wurdet, hast du gesagt: ›Ich habe gedacht, das fühlt sich ein bisschen anders an.‹ Aber ich kann dir sagen: Das wirst du immer in dir tragen. In dem Moment war es für dich einfach nur Erleichterung – und die spüren die Großen.«

Die Erleichterung, ein bevorstehendes Ziel nicht aus den Augen verloren und es letztlich erreicht zu haben. Denn ein zweiter Platz hätte ein Jahr zuvor noch als großer Erfolg gegolten, nicht aber nach diesem Saisonverlauf, in dem der BVB alles in Grund und Boden spielte.

»Wir sind guter Fußball« steht in großen Lettern an der Tunneleinfahrt der B1 in Dortmund-Mitte geschrieben. Klopps BVB füllt diesen Anspruch mit Leben.

Nächstes Ziel Berlin

»Ich möchte helfen, dass der Verein wieder richtig in die Spur kommt«, gab Klopp zu Beginn seiner Tätigkeit in Dortmund das Ziel aus. Die Mission ist gelungen, sportlich wie wirtschaftlich. Dabei erwies sich Klopp auf beiden Gebieten als Volltreffer und griff auch schon mal selbst zum Telefonhörer, um einen zweifelnden Sponsor von einem weiteren Engagement beim BVB zu überzeugen. Wie schon bei Mannschaft und Fans leistet der »Menschenfänger« auch auf diesem Gebiet ganze Überzeugungsarbeit. Für den Vorsitzenden der Geschäftsführung, Hans-Joachim »Aki« Watzke, ist diese Unterstützung Gold wert – ist doch die gesamte Klubführung weiterhin auf die wirtschaftliche Konsolidierung von Borussia Dortmund konzentriert.

»Über die Meisterschaft 2002 konnte ich mich schon nicht mehr richtig freuen« 25, bekannte Watzke Anfang 2011 rückblickend angesichts der schon damals höchst angespannten Finanzlage. Watzke war zu dieser Zeit Schatzmeister des Vereins. Nur wurde der monetäre »Schatz«, den es zu hüten galt, immer kleiner. In Zeiten der Finanz- und Eurokrise wäre die BVB-Rettung wohl ausgeschlossen gewesen. Glück im Unglück, dass sich der Verein seine existenzielle Krise zumindest in einem Zeitfenster günstiger wirtschaftlicher Rahmenbedingungen nahm, die eine Rettung noch möglich machten. Umso mehr konnte sich Watzke, der sich selbst für einen »Fußballromantiker« hält, über die Meisterschaft 2011 freuen. Schließlich beruhte sie auf einem auch wirtschaftlich soliden Fundament.

Da Fußball ein Tagesgeschäft ist, gilt es, den Erfolgsweg auch in der Saison 2011/12 beizubehalten und Nachhaltigkeit zu dokumentieren. Auch der VfB Stuttgart 2007 und der VfL Wolfsburg 2009 wurden überraschend Meister, fielen danach jedoch ab. Dabei bedeutet Stetigkeit nicht zwangsläufig Titelverteidigung. Angesichts der sportlichen und inzwischen allmählich auch wieder wirtschaftlichen Potenz des BVB sollte das Ziel die regelmäßige Teilnahme am internationalen Wettbewerb sein.

Ohne Frage bleiben weitere Herausforderungen. Da ist zum einen die Chancenauswertung, die noch immer eine offene Baustelle ist. »Wir haben ab und zu damit zu kämpfen, dass bei hohem Tempo die Genauigkeit flöten geht«, hat Klopp erkannt. Dies gilt sowohl für das Passspiel, als auch für den Torabschluss, bei dem es schon mal an der nötigen Ruhe fehlt.

Verbesserungsfähig ist auch die bisherige BVB-Bilanz unter Klopp im DFB-Pokal: 2008/09 folgte das »Aus« im Achtelfinale gegen den späteren Titelträger Werder Bremen; in den beiden Folgesaisons waren mit dem VfL Osnabrück (erneut Achtelfinale) sowie Kickers Offenbach (zweite Hauptrunde) jeweils unterklassige Vereine Endstation. Doch wie der BVB seit seinem großartigen 4:1-Pokalsieg von 1989 über Werder Bremen weiß, ist der Finalort Berlin und sein Olympiastadion unbedingt eine Reise wert …

So stürmte die Borussia zum Titel:
Die Taktik des BVB in der Saison 2010/11

Die Spiele von Borussia Dortmund erstaunten im Meisterjahr die Massen. Dank seiner begeisternden Auftritte gewann der BVB viele Sympathisanten auch noch weit außerhalb von Dortmunds Stadtgrenzen. Doch wie genau lief das Dortmunder Spiel ab? Mit welcher taktischen Ausrichtung legte Klopp den Grundstein für die grandiosen Vorstellungen seiner Elf? Eine Analyse (siehe Grafik auf der nächsten Seite).

Dortmund spielte 2010/11 im 4-2-3-1-System, in dem Nuri Sahin und Sven Bender als »Doppel-Sechs«26 im defensiven Mittelfeld agierten. Während sich Bender fast vollständig auf seine Aufgabe als zweikampfstarker »Staubsauger« vor der Abwehr konzentrierte, schaltete sich Sahin als Bereichsleiter in puncto Taktvorgabe und Organisation immer wieder mit ins Offensivspiel ein. Daher ist Bender in der Grafik etwas zurückgezogen postiert. Um das Spiel vor sich zu haben, rückte auch Sahin immer mal wieder weiter zurück, um sich die Bälle direkt von den Abwehrspielern zu holen und einen neuen Angriff einzuleiten. So gehörte er häufig zu den Spielern mit den meisten Ballkontakten seiner Elf.

Für den kreativen Part in der Offensive zeichneten vor allem die »Zauberfüßchen« Mario Götze und Shinji Kagawa verantwortlich, die nicht nur selbst Torgefahr verkörperten, sondern auch Stoßstürmer Lucas Barrios in Szene setzten. Kevin Großkreutz bereicherte das offensive Dreier-Mittelfeld mit enormem Einsatz und Läufen bis zur Grundlinie. Mit spielerischer Dominanz, also schnellem Kurzpassspiel, ohne lange den Ball zu halten, zog das Mittelfeld die gegnerische Abwehr auseinander, bis sich dort Löcher auftaten. Flexible Spielverlagerungen von einer Seite zur anderen sorgten für zusätzliche Unordnung.

Dortmunds taktische Aufstellung in der Saison 2010/11
(Die Grafik wurde erstellt von Thomas Bauer, Geschäftsführer der österreichischen Werbeagentur Designers in Motion, deren Leistungsspektrum Kreation, Media, Web und Mobile beinhaltet. Seit seiner Firmengründung 2006 wurde das Team mehrfach mit Preisen ausgezeichnet.)

Großkreutz und Götze verschoben sich bei gegnerischem Ballbesitz weit nach vorne, um durch dieses Pressing auf den Außenbahnen eine Spielverlagerung ins dicht gestaffelte Mittelfeld zu provozieren – wo Sven Bender & Co. oft die Bälle eroberten. Dabei handelte die gesamte Elf gemeinschaftlich und schob sich weit nach vorne in die gegnerische Hälfte, um früh zu attackieren – eine effektive, aber auch kraftraubende Spielweise. Dieses konsequente und frühe Arbeiten gegen den Ball war einer der Schlüsselfaktoren für den Dortmunder Siegeszug durch die Liga.

Barrios interpretierte seine Rolle nicht als passiver Stürmer, der auf Vorlagen wartet, sondern ließ den Ball häufig auf die nachrückenden Mittelfeldspieler prallen, um sie mit in die Angriffe einzubinden. Im Strafraum angekommen, erhielt Barrios den Ball dann zurück, um seine hervorragenden Vollstreckerqualitäten in Torerfolge umzumünzen. Sein Vorteil: ob per Kopf oder per Fuß, der gebürtige Argentinier, der für Paraguay spielt, kann unterschiedlich angespielt werden, ohne an Torgefahr einzubüßen. Damit Barrios als einzige nominelle Spitze nicht allein auf weiter Flur spielte, war er auf das regelmäßige Aufrücken der offensiven Mittelfeldspieler angewiesen – was auch erfolgte.

Borussias Außenverteidiger Marcel Schmelzer und Lukas Piszczek rückten immer wieder gezielt und weit vor, um Überzahl im Mittelfeld zu schaffen und über ihre Flanken nach innen für zusätzliche Torgefahr zu sorgen. In diesen Fällen wichen Großkreutz oder Götze in die Mitte aus, um ihnen Platz zu schaffen. Bei Ballbesitz des Gegners verschoben sich Schmelzer und Piszczek auf eine Linie mit den Innenverteidigern Mats Hummels und Neven Subotic. Als technisch starke Abwehrspieler leiteten diese beiden bei Balleroberung als erste Akteure den eigenen Angriff ein. Insbesondere Hummels setzte dabei auch auf längere Bälle in die Spitze, um somit schnell das Mittelfeld zu überbrücken und die Unorganisiertheit des Gegners im Moment des Ballverlustes auszunutzen. Von den Innenverteidigern gehen in der Grafik keine Pfeile aus, da sie sich positionstreu verhielten.

Nur bei eigenen Ecken oder Freistößen rückten Hummels und Subotic vor, um ihre Kopfballstärke auch offensiv zur Geltung zu bringen. In diesem Fall wurden sie von den Außenverteidigern und vom defensiven Mittelfeld abgesichert. Hinter der Abwehr stand mit Roman Weidenfeller ein mitspielender Torwart, der nicht nur stur auf seiner Torlinie klebte.

Grundsätzlich präsentierte sich der BVB als eine derart kompakte Einheit, da sich alle Spieler sowohl in Defensiv- als auch in Offensivaufgaben einbanden. Eine strikte Aufgabentrennung existierte nicht. Durch paralleles Verschieben in Ballrichtung blieben die Abstände zwischen den einzelnen Mannschaftsteilen gering, die Räume auf dem Spielfeld ausgewogen besetzt. Dank dieses Spielverständnisses kassierte Dortmund in 34 Spielen lediglich 22 Gegentore und spielte 14 Mal »zu null« – auch dank der guten Reflexe Weidenfellers auf der Linie.

Um Spielern eine Erholungspause zu gönnen, setzt Klopp hin und wieder auf eine Variation seiner Startelf. Doch Verletzungen wie von Kagawa oder Sahin ließen eine größere Rotation nicht zu, sodass die erste Elf nur selten freiwillig verändert wurde. Während Dribbelkönig Kagawa aufgrund eines bei der Asienmeisterschaft erlittenen Mittelfußbruches fast die gesamte Rückrunde ausfiel, verpasste Sahin wegen eines Innenbandteilrisses im rechten Knie den Saisonendspurt.

Für den in der Vorrunde so großartig aufspielenden Neuzugang Kagawa rückte Götze nach innen, dafür übernahm Jakub »Kuba« Blaszczykowski seinen vakanten Posten auf rechts. Alternativ rückte Robert Lewandowski auf die »10« ins zentral-offensive Mittelfeld und Götze blieb dann auf halbrechter Position – so wie beim 3:1-Erfolg in München. »Edeljoker« Lewandowski war immer dann erste Wahl, wenn Barrios ausfiel – und traf nach seinen Einwechslungen in der Liga vier Mal ins Tor.

Im defensiven Mittelfeld stand Antonio da Silva als erster Stellvertreter für Bender oder Sahin bereit. Kapitän Sebastian Kehl, ebenfalls auf der »Sechs« zuhause, verpasste verletzungsbedingt den überwiegenden Teil der Saison. In der Innenverteidigung bewies Felipe Santana bei seinen Einsätzen, dass er ein gleichwertiger Stellvertreter für die gesetzten Hummels und Subotic ist. Ersatzkeeper Mitchell Langerak kam nur in einem Spiel zum Einsatz – das ausgerechnet beim furiosen Erfolg über den FC Bayern, währenddessen er fehlerlos agierte.

Der holprige Saisonstart 2011/12:
mögliche Gründe

Die Dominanz in der Meistersaison bewahrte den BVB nicht vor Anlaufschwierigkeiten in der folgenden Spielzeit. Nach Punkten war die Borussia nach sechs Spieltagen so schlecht in die Saison gestartet wie kein Meister seit 27 Jahren. Schon während der Sommerpause 2011 hatte Klopp geahnt, dass die bevorstehende Spielzeit für den Titelverteidiger eine schwierige werden würde: »Wir werden viele Probleme bekommen in dieser Saison, das ist doch ganz normal. Wir werden auch mal wieder ein Spiel verlieren, dann werden wir sehen, was es auslöst. Aber wir haben eine relativ gute Basis, wie die Testspiele gezeigt haben.«

Ganz wichtig für Klopp ist, die außergewöhnliche Meistersaison nicht ständig als Maßstab heranzuziehen – vor allem, um Druck von seiner Mannschaft zu nehmen: »Wir dürfen nicht vergleichen. Wir dürfen nicht dieses Jahr gegen Hamburg spielen und denken: ›Letz-tes Jahr haben wir sie weggeräumt.‹ Wir müssen weiter in jedes Spiel eintauchen, uns komplett auf die Aufgabe einlassen. Dann haben wir eine relativ gute Chance, auch in dieser Saison ziemlich stark zu sein.«

Schneller als es Klopp lieb sein konnte, sollte der BVB mit Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Wurde der Meister nach dem glanzvoll herausgespielten 3:1-Auftaktsieg über den Hamburger SV bereits medial abgefeiert, folgte bereits eine Woche später beim 0:1 bei 1899 Hoffenheim die – dort schon fast traditionelle – Ernüchterung. Nach weiteren Niederlagen zuhause gegen Aufsteiger Hertha BSC Berlin und bei Hannover 96 (jeweils 1:2) fand sich Dortmund nach dem sechsten Spieltag und bereits drei Niederlagen (so viele wie während der gesamten vorherigen Hinrunde nicht) lediglich auf Rang elf wieder.

Bei einer Pressekonferenz nach dem Spiel gegen Hertha zeigte sich Klopp noch recht entspannt: »Das war ein Ausschlag nach unten, den man auch mal erleben muss und durch den man wieder merkt, wie geil es ist, ein Spiel zu gewinnen.« Bitter war jedoch die Niederlage in Hannover, die nach eigener 1:0-Führung durch zwei Gegentore in den letzten fünf Minuten zustande kam. »Wir haben das Spiel aus der Hand gegeben. Das war ein aktiver Vorgang, der zu Passivität führte«, formulierte Klopp anschließend etwas paradox. Im Gefühl des sicheren Sieges hatte der BVB in der Schlussphase zu wenig Initiative gezeigt und damit Hannover gestärkt.

Auf die Palme brachte Klopp, dass die Borussia vier der ersten sechs Saisongegentore nach Standardsituationen kassierte: »Das geht gar nicht. Damit sich bei den Spielern nicht der Eindruck festsetzt, die Niederlage wäre zufällig passiert«, werde er nun »deutliche Worte« sprechen. Vielmehr habe die Gier gefehlt.

Viel Aufwand, wenig Ertrag

Die Krux des BVB zum Saisonstart: Wie schon im Vorjahr betrieb die Borussia weiterhin einen extrem großen Aufwand, um Torchancen zu kreieren – war aber bei ihrer Verwertung viel zu inkonsequent. Noch immer arbeitete die Mannschaft massiv nach vorne und hinten, rückte mit hohem läuferischen Aufwand geschlossen vor und zurück. Doch im Gegensatz zur Vorsaison, als ebenfalls viele Chancen versiebt wurden, es aber dennoch meist zum Sieg reichte, wurde das Team für seine Betriebsamkeit nun nicht mehr mit guten Ergebnissen belohnt. Ungewohnte individuelle Fehler in der Abwehr führten zu unnötigen Gegentoren – so wie exemplarisch in der Champions League Ende September 2011 bei Olympique Marseille.

Der BVB dominierte das Spielgeschehen und erarbeitete sich einige gute Gelegenheiten. Doch das erste Tor schossen die Franzosen, begünstigt durch ein Wegrutschen von Dortmunds Innenverteidiger Neven Subotic. Nach der Pause drängte Dortmund auf den Ausgleich, doch auch der zweite Treffer fiel für Marseille: Diesmal durch einen unnötigen Kopfball in die Mitte von Mats Hummels, der zur Torvorlage für den Gegner geriet. Dass dem dritten Treffer zum 0:3-Endstand ein zweifelhafter Strafstoß vorausging, war da fast schon nebensächlich. 0:3: Ein aberwitziges Ergebnis für eine Borussia, die Großchancen en masse besaß, aber im Abschluss zu verspielt und zu verschnörkelt agierte.

Da verwunderte es nicht, dass die Mannschaft angesichts vermeidbarer Fehler anschließend Frust schob. Eigentlich das bessere Team zu sein, sich dann jedoch selbst um die Früchte der eigenen Arbeit zu bringen, das zermürbt. Denn für »eigentlich« gibt es noch immer keine Punkte. Klopp selbst wirkte kurz nach der bitteren Niederlage in Frankreich sehr nachdenklich. Dass seine Mannschaft ein Spiel auf diese Art verlieren konnte, das irritierte, das wurmte ihn. Doch der gängige Erklärungsansatz, dass Fehler auf internationalem Parkett konsequenter bestraft werden, er hatte einmal mehr gegriffen.

Ein nicht minder frustrierter BVB-Sportdirektor Michael Zorc hatte in Marseille bereits während der Pause im TV-Interview analysiert: »Wir haben mehr Ballbesitz, laufen mehr, liegen aber hinten. Wir sind zu nervös und haben einfache Ballverluste. Insgesamt muss sich unser Spiel ändern.« Da hatte es noch »nur« 0:1 gestanden. Nur wie musste sich das Spiel des BVB wieder ändern?

Weniger Tore ohne den Knipser

Deutlich bemerkbar machte sich zu Saisonstart das Fehlen von Torjäger Lucas Barrios, 2010/11 mit 16 Ligatoren Dortmunds mit Abstand treffsicherster Schütze. Der paraguayische Nationalstürmer zog sich bei der Südamerika-Meisterschaft im Sommer 2011 einen Muskelbündelriss zu, der ihn zu einer mehrwöchigen Pause zwang. Ohne Barrios mangelte es dem BVB im Angriff an Durchschlagskraft. Auch wenn Jürgen Klopp Saisonvergleiche nicht schätzt, so macht ein Blick in die Statistik doch ein Manko deutlich: Bis zum sechsten Spieltag verwerteten die Schwarzgelben von 34 Torchancen nur magere 20,6 Prozent.27 Kein Team der Liga wies bis dahin einen schwächeren Wert auf. Hatte die Borussia 2010/11 nach acht Spieltagen bereits 20 Tore auf dem Habenkonto vorzuweisen, standen ein Jahr später erst 13 zu Buche. Auch in seiner Funktion als Ballableger für die nachrückenden Mittelfeldspieler fehlte Barrios seiner Mannschaft.

Im Sommer hatte der Klub darauf verzichtet, auf dieser Position nachzulegen und einen ähnlich starken »Knipser« zu verpflichten. Ein Fehler? Wäre Barrios allerdings fit geblieben und ein möglicher Neuzugang hätte lediglich die Bank gewärmt – wäre Ärger dann nicht vorprogrammiert gewesen?

Ohnehin wollte Klopp die Schwächephase nicht an einzelnen (fehlenden) Spielern festmachen, sondern deckte ein grundsätzliches Fehlverhalten auf – mangelnde Kompromisslosigkeit: »Auch wir dürfen den Ball mal auf das Tribünendach feuern. Ist die Situation defensiv unsicher, müssen wir das Spiel unterbrechen, indem wir den Ball einfach ins Aus schießen. Ist die Situation offensiv unsicher, müssen wir auf das Tor schießen. Das sind Dinge, die uns zurzeit schwer fallen.« 28

Nach der Enttäuschung von Marseille reagierte Klopp und setzte beim folgenden Bundesliga-Spiel gegen den FC Augsburg (4:0) die formschwachen Neven Subotic, Sebastian Kehl (in der Liga ohnehin meist durch Ilkay Gündogan ersetzt), Kevin Großkreutz und Shinji Kagawa auf die Bank. Dabei betonte der Trainer, dass die Umstellungen nicht aufgrund von Leistungs-, sondern Kraftgründen erfolgt seien – auch, um sie vor weiterer öffentlicher Kritik zu schützen.

Anderes Spiel ohne Taktgeber Sahin

Zusätzlich fiel auf, dass sich ohne den zu Real Madrid gewechselten Nuri Sahin die Spielanlage der Borussia etwas verändert hatte. Der extrem passsichere Organisator ließ sich häufig bis in die Abwehr zurückfallen, um sich von dort selbst die Bälle zu holen. Dort konnte er sich zunächst ohne direkten Gegenspieler einen Überblick verschaffen und hatte das Spiel vor sich.

Doch sich die Bälle von den Innenverteidigern abzuholen, um dann das Spiel zu strukturieren, entspricht weniger der Vorgehensweise von Neuzugang Ilkay Gündogan, der nun häufig Sahins angestammten Platz neben Sven Bender im zentral-defensiven Mittelfeld übernahm. Wobei ein direkter Spielervergleich nicht fair ist, denn in Gündogans Alter (Jahrgang 1990) war auch der gut zwei Jahre ältere Sahin noch nicht auf seinem heutigen Leistungsstand. Dennoch, egal, ob Gündogan, Kehl oder Antonio da Silva neben dem gesetzten »Arbeitstier« Bender spielt: Borussia fehlte der Taktgeber, den zuvor Sahin so exzellent gab.

Die Folge: Weil die Ideen im Mittelfeld fehlten und der Ball daher häufiger vorsichtig zurück als nach vorne gespielt wurde, begann der Dortmunder Spielaufbau nun verstärkt weiter hinten, bei den Verteidigern. Als Beleg dafür dient ein Blick in die Statistik: Addierten sich die Ballkontakte der beiden Innenverteidiger Hummels und Subotic im Vorjahr noch auf jeweils gut 60 pro Spiel, waren es bis einschließlich des siebten Spieltages der neuen Saison bei beiden knapp 90. Sechs Tore und neun Torvorlagen steuerte Sahin im Meisterjahr zum Dortmunder Erfolg bei – dazu seine Stärke bei Standards. Dass die Borussia sich schwer tut, den türkischen Nationalspieler adäquat zu ersetzen, verwundert nicht.

Gegner mit defensiver Ausrichtung

Dass nach einem großen Erfolg das letzte Fünkchen Konzentration und Entschlossenheit zumindest zeitweilig nachlässt, ist menschlich. Dies wurde jedoch für den BVB zu einer ungünstigen Kombination, wenn er nun Woche für Woche auf Gegner traf, die wild entschlossen waren, den amtierenden Meister zu besiegen. Umso befreiender fiel der Sieg am siebten Spieltag bei Klopps alter Liebe Mainz 05 aus: Zum einen, weil er im Vergleich zur Partie in Hannover mit umgekehrten Vorzeichen verlief: Diesmal war es der BVB, der einen 0:1-Rückstand in letzter Minute in einen 2:1-Sieg verwandelte. Zum anderen war dies nach über einem halben Jahr, dem 3:1 vom Februar 2011 in München, der erste Auswärtssieg.

Nach Meinung von Neven Subotic hatten die Dortmunder Gegner mit Beginn der Saison 2011/12 ihre Spielweise umgestellt, auf eine verstärkt defensive Ausrichtung: »Fast alle Gegner stehen gegen uns noch viel tiefer hinten drin. Es gibt kaum noch eine Mannschaft, die sich auf einen offenen Schlagabtausch einlässt. Fast alles spielt sich im Mittelfeld ab, dadurch geht es noch mehr über den Kampf. Trotzdem hatten wir viele Chancen, haben aber leider zu wenig Tore erzielt«, stellte der Verteidiger nach dem sechsten Spieltag fest.29 Auf das Verhalten von Klopp habe dies jedoch keinen Einfluss gezeigt, ergänzte der serbische Nationalspieler: »Ich kenne ihn jetzt seit fünf Jahren, er ist so wie immer.«

Um auch gegen tief verteidigende Gegner Chancen zu kreieren, fordert Klopp, das Spiel immer wieder geduldig von einer Seite auf die andere zu verlagern – so lange, bis sich eine Lücke eröffnet, in die ein gezielter Angriff gesetzt werden kann. Diese Geduld aufzubringen, ist eine der Aufgaben für den Titelverteidiger in der Spielzeit 2011/12.

Borussia Dortmund pflegt unter Jürgen Klopp einen aufwendigen und aufopferungsvollen Stil. Es wird sich zeigen, ob die Mannschaft dieses »Spielen bis zum Anschlag« mit ähnlichem Erfolg wie bisher beibehalten kann oder ihren Fußball etwas anpassen, ökonomischer spielen muss – gerade auch durch die zusätzliche Belastung der Champions League. Groß genug ist der Kader, um ohne große Qualitätsverluste personelle Wechsel vorzunehmen und somit auch weiterhin in jedem Spiel kämpferisches »Vollgas« geben zu können.

2010/11 gelang es der Mannschaft in beeindruckender Weise, auf den Punkt fokussiert zu sein und die Konzentration über die gesamte Spieldauer aufrecht zu erhalten. Die Herausforderung wird sein, das Maß an Konzentration wiederzufinden, das offenbar während der Sommerpause 2011 eingebüßt wurde.

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13Zitiert gemäß Bild am Sonntag vom 15. Mai 2011 sowie gemäß der Dokumentation im WDR-Fernsehen »Young Generation – das Fußballwunder von Dortmund«, ausgestrahlt am 10. Mai 2011

14Zitat aus dem Gespräch mit dem freien Journalisten Freddie Röckenhaus in der Süddeutschen Zeitung, online veröffentlicht am 20. Mai 2011

15Philipp Köster ist Chefredakteur des Fußballmagazins 11Freunde, sein Kommentar wurde am 17. April 2008 bei Spiegel online veröffentlicht.

16Folgender Text zum Trainingslager in Brackel und zur Dortmunder Stimmungslage 2008 ist in Teilen erstmals im August 2008 im Online-Magazin RUND erschienen.

17Der T-Home-Supercup von 2008 war ein Vorläufer des heute wieder offiziellen Supercups, ausgespielt in einer Partie zwischen Deutschem Meister und DFB-Pokalsieger.

18Zu einem späteren Zeitpunkt entschied sich Klopp allerdings dann doch für einen Hauskauf im Dortmunder Umland.

19der heute offizielle Stadionname lautet Signal Iduna Park

20Fantribüne des englischen Klubs Aston Villa in dessen Stadion Villa Park

21Zitat gemäß bild.de, online veröffentlicht am 28. September 2010

22Zitat von Jürgen Klopp aus dem Aktuellen Sportstudio des ZDF vom 30. April 2011

23Folgendes Zitat stammt aus einem Interview mit dem freien Journalisten Freddie Röckenhaus für die Süddeutsche Zeitung, online veröffentlicht am 20. Mai 2011.

24Folgendes Zitat von Jürgen Klopp stammt aus einem Interview in der Süddeutschen Zeitung, online abrufbar ab dem 19. November 2010.

25Zitat aus dem Spiegel, Ausgabe 2/2011

26Doppel-Sechs: zwei zentral-defensive Mittelfeldspieler

27Gemäß Angabe des Kicker Sportmagazins vom 22. September 2011

28Jürgen Klopp nach dem 0:3 in Marseille, zitiert in den Ruhr Nachrichten

29Zitat aus Interview mit Neven Subotic bei bild.de nach der 1:2-Niederlage in Hannover im September 2011