Der Aufstieg des FSV Mainz 05 im Jahr 2004 war hart erkämpft. Ziemlich langer Weg bis dahin. Zweimal hintereinander waren die Mainzer gescheitert, dünn und hauchdünn. Zweimal rappelten sich die Stadt und ihr Klub wieder auf. Hätte die Stadt, hätten die Fans, nicht jeden neuen Anlauf mitgemacht, wäre es nicht gegangen. Die Mainzer »Stehaufmännchen«. Klopp gelang es, Motivation aus dem Scheitern zu ziehen, die Spieler glaubten daran, dass es irgendwann klappt. Und als die Chancen am schlechtesten waren, kam der Aufstieg. Drei Spielzeiten später stieg Mainz aus der Bundesliga ab und ohne Klopp wieder auf.

von Roger Repplinger

Knapp

Am 5. Mai 2002 spielt in Berlin, in der Alten Försterei, der FSV Mainz 05 gegen Union Berlin. Es ist das letzte Spiel der Saison. Mainz braucht einen Punkt, um in die Erste Liga aufzusteigen. Zwei Chancen, diesen Punkt zu holen, hatte Mainz unter Trainer Jürgen Klopp schon vergeben. In Duisburg und zu Hause gegen die SpVgg Greuther Fürth. »Fürth!«, sagt der Mainzer Trainer, »Fürth!!« Gegen die klappt nie was. In beiden Spielen hatte es Spielstände gegeben, da war Mainz durch, am Ende reichte es nicht. Auch nicht gegen Berlin. Ein Journalist des Berliner Kurier hatte mit erfundenen Zitaten die Stimmung gegen Klopp und Mainz angeheizt.

Mainz verliert mit 1:3 gegen Union, der VfL Bochum steigt nach einem Sieg gegen Alemannia Aachen auf. Klopp bricht vor dem Interview mit dem ZDF zusammen und heult. Bei der offiziellen Pressekonferenz sagt er: »Ich will nicht weiter lamentieren. Wir hätten es hier regeln können, wir haben es nicht getan. Wir haben unseren Anhängern den größten Wunsch nicht erfüllt. Aber wir werden es wieder versuchen.« Und später: »Ich habe in Berlin geheult wie noch nie in meinem Leben. Doch so, wie ich leiden kann, kann ich mich auch freuen. Von mir aus kann es morgen wieder losgehen. Wir werden die begonnene Entwicklung vorantreiben.«

Knapper

Wieder Mai, diesmal ist es der 25., ein Sonntag, im Jahr 2003. Das letzte Spiel der Saison, diesmal in Braunschweig. In der vergangenen Saison fehlte ein Punkt, diesmal ein Tor. Knapper geht es nicht. Mainz gewinnt gegen Eintracht Braunschweig mit 4:1. Als das Gegentor fällt, denkt sich keiner was dabei. Mainz lässt zahlreiche Chancen liegen. Eintracht Frankfurt erzielt in der Nachspielzeit das entscheidende 6:3 gegen Reutlingen. Mainz und Frankfurt haben 62 Punkte, die um ein Tor bessere Tordifferenz entscheidet für die Eintracht. Torschütze des entscheidenden Frankfurter Tores ist Alexander Schur, ein Freund Klopps, mit dem er bei Rot-Weiß Frankfurt unter Dragoslav Stepanovic gespielt hat.

Das Spiel in Braunschweig ist schon aus, Mannschaft und Trainer stehen auf dem Rasen, die Arme um die Schultern gelegt, als die Nachricht von Schurs Tor eintrifft. Andrey Voronin tröstet seinen Trainer, der tröstet ihn, Klopp rennt in die Kabine, Christof Babatz bekommt einen Weinkrampf. Klopp, 36 Jahre alt, bricht erst in Tränen aus, als ihn sein Sohn im Kabinengang fragt, ob er am nächsten Tag in die Schule gehen muss. »Da habe ich losgeheult«, sagt er.

In der Pressekonferenz erklärt Klopp: »Ich glaube nicht an den Fußballgott, nur an den richtigen. Ich glaube daran, dass alles im Leben für etwas gut ist. Irgendwann werde ich erfahren, für was das hier heute gut war.« Auf der Rückfahrt feiern die Spieler trotzig mit Bier, Polonaise und Liedgut: »Nie mehr Zweite Liga.« Am nächsten Tag, vor dem Staatstheater, Tausende beklatschen die Mannschaft, sagt Klopp: »Gestern hab ich mir ja noch überlegt, für was das alles gut ist, und mir ist eingefallen, für was: Irgendjemand hat entschieden, dass irgendwann mal gezeigt werden muss, dass man tatsächlich einmal, zweimal, dreimal, vielleicht sogar viermal hinfallen kann und immer wieder aufstehen kann, und er hat gedacht, es gibt keine bessere Stadt dafür.«

Es reicht

Erneut Mai, wieder der 25., diesmal das Jahr 2004. Die Mainzer, die bei einigen Journalisten als »unaufsteigbar« gelten, spielen eine durchwachsene Saison. Vor der letzten Partie ist die Ausgangssituation schlechter als in den Spielzeiten davor, in denen es nicht gereicht hat. Alemannia Aachen ist Dritter, hat 53 Punkte, aber die gegenüber Mainz schlechtere Tordifferenz, und muss beim Karlsruher SC, der gegen den Abstieg kämpft, antreten. Mainz ist Vierter mit 51 Punkten und hat es mit Eintracht Trier zu tun.

Ebenfalls 51 Punkte, aber das schlechtere Torverhältnis, hat Energie Cottbus, die ein paar Wochen vorher wie der sichere Aufsteiger ausgesehen hatten, und bei denen der Mainzer Stürmer Michael Thurk bereits einen Vertrag zur neuen Saison unterschrieben hat. Ein paar haben auch noch Rot-Weiß Oberhausen, 50 Punkte, auf der Rechnung. An diesem 25. Mai hat Christian Heidels Tochter Kommunion, da kann der zu diesem Zeitpunkt noch ehrenamtlich arbeitende Manager im katholischen Mainz nicht kneifen, und geht in die Kirche. Am Ende des Gottesdienstes stimmen Pfarrer und Organist der Albanskirche »Steht auf, wenn ihr Mainzer seid«, an. Alle stehen auf und singen mit. Der Pfarrer lächelt.

Heidel, der ein Autohaus führt, glaubt an den Aufstieg: »Mit Beistand von oben, was soll da noch schief gehen?« Thurk macht das 1:0 (23.), Oberhausen und Cottbus gehen ebenfalls in Führung. In der 43. Minute brechen die Leute, die vor der Leinwand sitzen, die hinter dem Stadion aufgebaut ist, in Jubel aus. Der KSC ist durch Stürmer Conor Casey, der später für Mainz spielt, in Führung gegangen. In der 66. Minute Freistoß für Mainz, Babatz, der Präzision im Fuß hat, flankt, Manuel Friedrich erst mit dem Kopf, dann mit dem Fuß: 2:0. Die Fans jubeln noch, als Babatz den flinken Thurk schickt, der den Ball über Triers Torwart Axel Keller hebt. Das Spiel des FSV ist zu Ende, während in Karlsruhe der Ball noch rollt. Der KSC ist nur noch zu zehnt, Marco Engelhardt ist vom Platz geflogen, hält aber Ergebnis und Klasse. Klopp, der noch immer keine Lizenz hat, sagt: »Das ist kein normaler Aufstieg.«

Abstieg

Die guten Auftritte der Saison 2005/06, als die Mainzer dank Fairplay-Wertung zum ersten Mal in ihrer Vereinsgeschichte international spielen, sind auch ein Fluch. Die Spieler haben nun ein Niveau erreicht, das sie für andere Vereine interessant macht. Innenverteidiger Mathias Abel wechselt zu Schalke 04, Mittelfeldspieler Toni da Silva zum VfB Stuttgart. Auch drei Stürmer schließen sich anderen Klubs an: Benjamin Auer dem VfL Bochum, Michael Thurk geht zu Eintracht Frankfurt und Mohamed Zidan zum SV Werder Bremen. Die Spieler, die kommen, füllen die Lücken nicht. In der ersten Bundesliga-Saison hatte der FSV sieben Niederlagen hintereinander kassiert, war neun Spiele ohne Sieg geblieben. Klopp weiß: »Da bist du als Trainer ganz alleine, du kannst keinen anderen Trainer fragen: Was macht man nach fünf, sechs, sieben Niederlagen hintereinander? Das kann dir keiner sagen, weil andere Trainer dann längst entlassen sind.«

2006/07 holt der FSV in der ersten Saisonhälfte nur elf Punkte. Klopp grübelt in der Nacht, kann nicht mehr schlafen. Er fragt sich: »Was soll ich machen?« Er erhöht den Druck aufs Team, erlässt ein Schunkelverbot im Stadion und fordert die Fans auf, gewonnene Zweikämpfe zu bejubeln. Klopp probiert alle möglichen Varianten aus, erst als er wieder 4-4-2 spielen lässt, fängt sich die Mannschaft – auch dank des Psychologen Hans-Dieter Hermann und Verpflichtungen in der Winterpause. Zwischenzeitlich sieht es gut aus, am Ende reicht es nicht. Mainz verliert gegen die Bayern und muss nach zweimal Rang elf in den Vorjahren zurück in die Zweite Liga.

Abschied

In der Saison 2007/08 ist die Zweite Liga nicht normal: Borussia Mönchengladbach, der 1. FC Köln, der SC Freiburg und der 1. FC Kaiserslautern sorgen für außergewöhnlich hohes Niveau. Dazu noch der FSV Mainz. Diesmal fällt der letzte Spieltag auf den 18. Mai. Mainz gegen den FC St. Pauli, ein Sieg reicht nur, wenn der Dritte TSG Hoffenheim zuhause gegen die SpVgg Greuther Fürth nicht gewinnt. »Fürth!«, sagt Klopp, »Fürth!!« Wenn die im Spiel sind, kann es nicht gut gehen. Mainz gewinnt mit 5:1 gegen die Hamburger, Hoffenheim mit 5:0 gegen die Fürther. Wieder weint Klopp, denn er hatte mit Christian Heidel vereinbart: Er bleibt nur, wenn Mainz aufsteigt. Für diesen Fall hatte Heidel, seit 2006 hauptamtlicher Manager, ein gut dotiertes Angebot im Schreibtisch.

Also bedeutet der verpasste Aufstieg Klopps Abschied. Petr Ruman nimmt seinen Trainer in den Arm. Der macht einen Diener vor der Südtribüne, von der Ehrenrunde schafft er nur zwei Drittel, dann rettet er sich vor seinen Emotionen und den Fans in die Kabine.

Verabschiedung von Mainz
Etwa 20.000 Menschen kommen am 23. Mai 2008 zum Gutenbergplatz in der Mainzer Innenstadt, um Klopp gebührend zu verabschieden. »Alles, was ich bin, alles, was ich kann, habt ihr mich werden lassen«, stammelt ein ergriffener Jürgen Klopp, der diesen Satz nur mühsam zu Ende bringt, dabei von den Mainzer Fans mit »Jürgen, Jürgen«-Sprechchören gefeiert wird. »Ich habe hier von Christian Heidel und Harald Strutz die Chance bekommen, meinen Traumberuf zu ergreifen. Ich habe Unterstützung (…) erhalten, das kann man sich gar nicht vorstellen. Ich habe mit Harald Strutz einen Präsidenten gehabt, der mein Freund war, bevor ich es wusste. (…) Dass ich euch nie vergessen werde, könnt ihr euch vorstellen.«

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4Zitat von Robert Jung aus einem Interview mit dem Internetportal bundesliga.de, veröffentlicht am 02. Mai 2011

5Zwei Tore waren den Mainzern eigentlich beim Saisonauftakt gegen Hannover 96 (2:2) gelungen, doch aufgrund der fehlenden Spielberechtigung für den Mainzer Torschützen zum 1:0, Thomas Ziemer, wurde die Partie mit 0:2 gewertet.

6Ausgabe des damaligen Printmagazins RUND (heute als Online-Portal fortgeführt) vom 20. Juli 2005

7Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 01. Mai 2011

8Zitat aus dem vom FC St. Pauli herausgegeben Fußball-Stadtteilmagazin 1/4NACH5 vom 06. September 2002

9ebenda

10Anmerkung des Herausgebers: Die Trennung vom Libero fiel auch deshalb schwer, weil Deutschland zu dieser Zeit mit dem »ewigen Loddar« Lothar Matthäus sowie Dortmunds Matthias Sammer noch zwei herausragende Prototypen dieser international aussterbenden »Gattung« besaß. Zudem wird der Libero seit Franz Beckenbauer fast als deutsche Erfindung betrachtet. Neben Wolfgang Frank mit Mainz gelten hierzulande auch Bernd Krauss und Ralf Rangnick als Pioniere der Viererkette, die sie in den 1990er Jahren erfolgreich bei Borussia Mönchengladbach bzw. dem SSV Ulm einführten.

11Anmerkung des Herausgebers: Das »Spiel gegen den Ball« meint das raumorientierte Abwehrverhalten einer Mannschaft, im Gegensatz zur früheren Manndeckung, die sich direkt am Gegenspieler orientierte. Ziel ist es, beim gegnerischen Ballbesitz durch kluges Verteidigen die Räume enger zu machen und so den Spielaufbau zu erschweren. Dies geschieht durch ein gemeinsam abgestimmtes Verschieben der Mannschaftsteile in Ballrichtung. Idealerweise wird der Ball durch eigene Überzahl in Ballnähe zurückerobert.

12Diese sowie alle weiteren Zitate von Jürgen Klopp innerhalb dieses Buches stammen – sofern nicht ausdrücklich eine andere Quelle angegeben ist – vom Internationalen Trainerkongress 2011 in Bochum (25. bis 27. Juli), als Klopp sich am letzten Veranstaltungstag zunächst den Fragen von Moderator Max Jung vom TV-Sender Sky stellte, ehe er anschließend gemeinsam mit den Trainerkollegen Friedhelm Funkel, Michael Oenning, Mirko Slomka und Matthias Sammer an einer Podiumsdiskussion teilnahm (ebenfalls moderiert von Jung). Das Thema des Kongresses lautete: »Schnelles Umschalten auf Angriff und Abwehr – technische und taktische Aspekte«.