Nach seiner Zeit in Ergenzingen entwickelte sich Klopp zum »Wandervogel«; die nächsten Vereine waren nur kurze Zwischenstationen: Über den 1. FC Pforzheim (1987) zog es ihn schnell zu den Amateuren von Eintracht Frankfurt, dem einstigen Gala-Auftritt gegen Thomas Berthold sei Dank. Von dort ging es nach nur einem Jahr weiter zu Viktoria Sindlingen, ehe zur anschließenden Saison 1989/90 erneut ein Wechsel anstand: diesmal zu Rot-Weiß Frankfurt unter dessen Trainer Dragoslav Stepanovic, der später in der Bundesliga bei Eintracht Frankfurt und Bayer Leverkusen zu einer Kultfigur wurde.

von Matthias Greulich

Als Hessenmeister 1990 qualifizierten sich Rot-Weiß und Klopp für die Aufstiegsrunde zur 2. Bundesliga, konnten dort jedoch in sechs Spielen nur einen Zähler ergattern – und verpassten den Aufstieg somit deutlich. Zwei Niederlagen setzte es dabei gegen ein gewisses Mainz 05, das sich als Spitzenreiter der Aufstiegsrunde Süd einen Platz in der zweiten Liga erkämpfte. Kurz darauf schloss sich Klopp eben jenen Mainzern an, angelockt durch ihren Trainer Robert Jung, dem die Spielweise des damaligen Außenstürmers imponierte. »Er ist mir aufgefallen, weil er ein sehr kopfballstarker Spieler war und genau so ein Typ in unserer Mannschaft fehlte«, blickt Jung zurück.4

Bei den 05ern fand Klopp endlich sein Spielerglück und blieb dem Klub (nicht nur) bis zum Ende seiner Spielerlaufbahn treu. Sein damaliger Mitspieler Christian Hock erinnert sich an die gemeinsame Mainzer Zeit.

Der Profi Jürgen Klopp: Für britischen Fußball besser geeignet

Die Kuhfelle nimmt Christian Hock schon lange nicht mehr wahr. Mit den Fellen sind die Stühle an der Bar des Hotels in Kassel bezogen, in dem der Gast seit einigen Monaten unter der Woche lebt. Christian Hock, leichter hessischer Dialekt, die Figur erinnert auch mit 41 noch an den wendigen Mittelfeldspieler, der 234 Mal für den FSV Mainz 05 in der Zweiten Liga gespielt hat. Dass er nun als Trainer des Regionalligisten KSV Hessen Kassel in diesem Hotel in Nordhessen ist, hat viel mit Wolfgang Frank zu tun.

Den alten Jahreskalender hat er noch, alle Trainingseinheiten von Frank stehen drin. Tag für Tag. »Da konnte ich für mich nachvollziehen, was wir genau gemacht hatten«, sagt Christian Hock. So ausdauernd wie er war vermutlich kein anderer von Klopps Mitspielern in Mainz. Aber auch Jürgen Klopp speicherte die Trainingsinhalte, die ihn beeindruckt hatten, für sich ab – wenn auch eher geistig denn schriftlich. Ihr damaliger Trainer brachte sie dazu, intensiver über Fußball nachzudenken und sich ihrem Beruf zu hundert Prozent zu widmen.

»Da geht wirklich was!«

Es war am 25. September 1995, als sie in Mainz den Nachfolger von Horst Franz präsentierten, der nach nur einem Punkt und 0:13 Toren aus sieben Spielen entlassen worden war.5 Wolfgang Frank zeigte seinen Spielern schon in den ersten Trainingseinheiten auf, wie die Lösung aussehen könnte. Als es einigermaßen zu klappen schien, machte er Ernst. In einem Testspiel gegen den 1. FC Saarbrücken ließ er seine Profis zum ersten Mal in der Raumdeckung und mit Vierer-Abwehrkette im 4-4-2 agieren. Die Mainzer, die zuvor wochenlang das Verschieben geübt hatten, führten nach einer halben Stunde mit 4:0, beim Stand von 5:0 pfiff der Schiedsrichter ab. »Wir sahen: Da geht wirklich was. Wir haben vielleicht die Spieler dafür, die Viererkette zu spielen!«, sagt Christian Hock. Mit dieser Erkenntnis standen die Mainzer zu dieser Zeit noch fast allein. Der Versuch von Jupp Heynckes in Frankfurt, ballorientiert zu verteidigen, war ein Jahr zuvor am Widerstand von Spielern, Fans und Medien gescheitert.

Der neue Cheftrainer in Mainz hatte andere Erfahrungen im schweizerischen Aarau sowie in Wettingen und Winterthur gesammelt, wo man taktisch weiter war. Neben einem Lehrvideo von Milans Meistertrainer Arrigo Sacchi brachte der Mann, der in den Siebzigern beim VfB Stuttgart, Eintracht Braunschweig, Borussia Dortmund und dem 1. FC Nürnberg ein erfolgreicher Angreifer gewesen war, auch Aufnahmen einer Schweizer Jugendauswahl mit an den Bruchweg. »Das Video lief dauerhaft«, sagt Christian Hock. Mit Stangen markierte Wolfgang Frank, wo jeder im neuen System hinzulaufen hatte. Auch mit Seilen wurde gearbeitet. Im Abstand von zehn Metern standen sie im Verbund zusammen. So lässt sich mit vier Spielern eine Fläche von 50 Metern abdecken. Fast die komplette Breite des Fußballplatzes, der zwischen den Seitenlinien 70 Meter misst.

Einen neuen Mannschaftsführer bestimmte der Trainer bei dieser Gelegenheit ebenfalls. Wolfgang Frank machte Lars Schmidt zum Kapitän, der nun zentral in der Viererkette spielte und offenbar durch das neue Amt gestärkt werden sollte. Rechtsverteidiger Jürgen Klopp war die Kapitänsbinde los. Die Mannschaft hatte damit kein Problem. Binde hin oder her. »Kloppo war doch auch so einer unserer Führungsspieler und ein Sprachrohr des Trainers«, so Christian Hock. »Kloppo« – so riefen sie ihn in Mainz fast alle.

Der Letzte hat einen Plan

Die Spieler des Tabellenletzten hatten zwar immer noch wenig Punkte, aber jetzt schon mal einen Plan, die meisten zum ersten Mal in ihrer Karriere. »Jeder wusste, was auf seiner Position zu tun war. Wenn du einen Fehler gemacht hattest, konntest du sicher sein, dass ein Mitspieler auf seiner vorgegebenen Position zur Absicherung stand, und dass eigentlich nichts passieren konnte. Das war das Allerwichtigste«, so Christian Hock. Um diese Sicherheit zu erreichen, mussten sie allerdings deutlich mehr laufen als zuvor. Die intelligenten Mainzer Profis sahen die Situation nicht als Belastung. Es gab doch die einmalige Chance, als Schlusslicht einfach nur noch zu gewinnen, so Christian Hock. Diese Chance nutzten sie auf eindrucksvolle Weise. Nach der Winterpause kamen sie rasch aus der Abstiegszone weg. In der Rückrundentabelle wurde Mainz Erster, in der Gesamtrechnung landeten sie auf Platz elf.

In knapp einem halben Jahr hatte Wolfgang Frank den Klub verändert. Er redete nun offen vom Aufstieg in die Erste Liga und forderte von Präsident Harald Strutz, das Bruchwegstadion auszubauen, obwohl die Kapazität von 13.000 Zuschauern bis dahin so gut wie nie ausgeschöpft worden war. Sein Ehrgeiz machte auch vor der Persönlichkeitsentwicklung seiner Spieler nicht Halt. In den Teamsitzungen nahm das Mentaltraining immer breiteren Raum ein. Einige, die daraus ihren Nutzen ziehen konnten, hörten ihrem Trainer weiterhin aufmerksam zu. Andere, die darin für sich keinen Wert sahen, fühlten sich gegängelt. »Im Nachhinein muss man sagen: Dieses Gezwungene hat nicht funktioniert. Du kannst niemanden zum Mentaltraining bringen, wenn er nicht will. Damit bewirkst du eher das Gegenteil«, sagt Christian Hock.

Die ausufernden Mentalsitzungen änderten nichts daran, dass die Mainzer Profis immer noch von der Wirksamkeit des intensiven Trainings überzeugt waren. Doch Wolfgang Frank machte es ihnen immer schwerer, nach der Belastung auch mal abzuschalten. Zu Jahresbeginn 1997 waren zehn Tage Trainingslager auf Zypern angesetzt, die der Trainer voller Begeisterung über die guten Trainingsbedingungen und angesichts vereister Plätze in Mainz auf dreieinhalb Wochen ausdehnte. »Er war verbissen und hat nicht die Balance gefunden, um uns zu sagen, dass wir zwischendurch mal ruhiger machen konnten. Man war praktisch drei Wochen unter Hochspannung. Das hat an uns gezehrt«, so Christian Hock.

Zweimal verloren die mental ausgebrannten Mainzer nach ihrer Rückkehr aus Zypern, als Wolfgang Frank aus heiterem Himmel seinen Rücktritt erklärte. Seine Spieler, allen voran Jürgen Klopp, versuchten, ihn umzustimmen. Der Trainer aber blieb seiner konsequenten Linie auch beim Abschied treu. Er war durch niemanden mehr zum Bleiben zu überreden.

Die Generation Frank
So viel Fußball wie unter Wolfgang Frank war selten. Viele Spieler, die in Mainz bei den langen Teamsitzungen des Verfechters der Viererkette dabei waren, sind nach ihrer Profikarriere Trainer geworden. »Das ist ganz sicher kein Zufall«, sagt Christian Hock. »Wir haben uns so intensiv mit Taktik beschäftigt, dass der Schritt dahin, eine Mannschaft zu trainieren, nicht mehr weit war.« Neben ihm und Jürgen Klopp gehören Torsten Lieberknecht (Cheftrainer des Zweitligisten Eintracht Braunschweig), Jürgen Kramny (Cheftrainer VfB Stuttgart II in der Dritten Liga), Sven Demandt (U23-Trainer von Borussia Mönchengladbach), Peter Neustädter (trainierte die U23-Mannschaft von Mainz 05 in der Regionalliga, derzeit vereinslos) und Peter Stöver (Trainer beim 1. FC Kaiserslautern, derzeit Sportlicher Leiter beim Zweitligisten FSV Frankfurt) zur Generation der Mainzer Wolfgang-Frank-Schüler.

Dass Franks Nachfolger Reinhard Saftig und Dietmar Constantini die Viererkette nach einer Schamfrist Viererkette sein ließen, kam bei den Profis gar nicht gut an. Der Kern der Mannschaft war sich sicher, dass es mit dem System von Wolfgang Frank besser gelaufen wäre. Auch Jürgen Klopp und Christian Hock. »Wir hatten und haben da ähnliche Vorstellungen«, sagt Letzterer.

Davon war allerdings wenig zu sehen, wenn der rechte Verteidiger und linke Offensivspieler im Trainingsspiel aufeinander trafen. Die Zweikämpfe zwischen Christian Hock, 1,74 Meter, gegen den 17 Zentimeter größeren Jürgen Klopp, boten den wenigen Trainingskiebitzen in Mainz beste Unterhaltung. Der eine klein und wendig mit einem starken linken Fuß, der andere eher wegen seiner Kopfballstärke und Laufbereitschaft zum Profi geworden, als wegen seiner Technik. »Wir haben uns häufiger quer über den Platz angepöbelt«, erinnert sich Christian Hock. »Der Kloppo konnte sehr impulsiv sein.«

Im Sommer 2005 erklärte sich Jürgen Klopp dazu bereit, von den Redakteuren des Fußballmagazins RUND an einen Lügendetektor angeschlossen zu werden, um persönliche Fragen zu beantworten.6 Auf Nachfrage räumte er dabei auch seinen heftigsten Ausraster ein. »Ich habe, kurz bevor ich Trainer wurde, Sandro Schwarz, einem sehr guten Freund von mir, eine Kopfnuss verpasst. Der hat mich im Training zweimal umgehauen. Ich stehe auf, sehe nur sein Gesicht vor mir, und dann liegt er auf dem Boden. Ich wollte sterben, nur noch sterben, so furchtbar unangenehm war mir das.«

»Lange Bälle und dann einen Kopfball, dass es kracht«

Wolfgang Frank sieht als Hauptgrund für die schon damals emotionalen Ausbrüche seines Rechtsverteidigers dessen Wut über die eigene Limitiertheit mit dem Spielgerät an. »Er ist auch manchmal auf dem Feld ausgerastet, weil er so viele gute Ideen im Kopf hatte, die er mit seinen fußballerischen Fähigkeiten nicht umsetzen konnte. Das hat ihn manchmal so geärgert, dass ich ihn zur Seite nehmen musste«, denkt Frank zurück7. Im Rückblick wähnte sich der Spieler Jürgen Klopp im früheren britischen Fußball besser aufgehoben. »Da hätte ich vielleicht Karriere gemacht. Lange Bälle und dann einen Kopfball, dass es kracht«, vermutete er bereits 2002.8

Von Rot-Weiß Frankfurt war er noch als Stürmer zum Bruchweg gekommen. Um den Sprung aus der dritten Liga in den Profibereich zu schaffen, half ihm seine Schnelligkeit. Im Steigerwaldstadion in Erfurt lief er im August 1991 immer richtig. Als erster Mainzer schoss er vier Tore in einem Zweitligaspiel. Wie so viele Angreifer rückte er weiter nach hinten, je länger die Karriere dauerte. Josip Kuze setzte Jürgen Klopp bereits im rechten Mittelfeld ein, unter Wolfgang Frank ist »Kloppo« dann endgültig auf der rechten Abwehrseite angekommen. Zwischen 1990 und 2001 stehen 325 Spiele und 52 Tore in seiner Statistik. Mehr Zweitligaspiele hat beim FSV Mainz 05 keiner gemacht. Jürgen Klopp war in dieser Spielklasse, die es rustikaleren Spielertypen traditionell leichter macht, die Idealbesetzung.

Gegen Ende der Karriere kam auch der schnelle Klopp nicht umhin, den ruppigen Routinier zu geben. Ein Profi, der gelegentlich austeilen konnte, aber auch schmerzhaft einstecken musste, wie eine Anekdote mit Bernd Hollerbach in der Hauptrolle belegt. Der Mittelfeldspieler, seinerzeit Profi beim FC St. Pauli, geriet mit Jürgen Klopp am Hamburger Millerntor aneinander. Der erinnerte sich 2002 lebhaft: »Wir fuhren einen astreinen Konter und Hollerbach hat mir an der Mittellinie einen Pferdekuss im Oberschenkel verpasst, dass ich fast gestorben wäre. Eine Ungerechtigkeit, die niemand gesehen hat, und alle haben mich als Simulanten ausgepfiffen.«9 Am Lügendetektor von RUND verkabelt, spinnt er die Anekdote nach Zweitligaart weiter. »Nur Holler und ich kannten die Wahrheit. Das hat dazu geführt, dass ich Hollerbach im nächsten Spiel auf den Platz auch ein paar Dinge gezeigt habe.«

Christian Hock gelingt es ebenso wenig wie seinem ehemaligen Mitspieler, diese Zeit mit dem mildernden Abstand von bald zwanzig Jahren fußballerisch zu verklären. »Du hattest zwar viel Platz auf dem Feld, aber von hinten liefen dir die Manndecker hinterher, um dir in die Hacken zu hauen.«

Aus dem Kuhfellstuhl schaut Christian Hock immer mal wieder auf den Tisch zu seinem iPhone. Er darf einen Anruf nicht verpassen. Seine sechsjährigen Zwillinge wollen ihm erzählen, wie es heute in der neuen Schule und nachmittags im Reitstall gewesen ist. Die Familie lebt in der Nähe von Wiesbaden, doch jeden Tag die 460 Kilometer hin- und zurück nach Kassel zu fahren, will Christian Hock nicht. »Wenn ich etwas mache, dann richtig.«

Frank folgt auf Hock

In Kassel wird zwar Profifußball gespielt, aber die Regionalliga hat Mühe, diesen Anspruch mit der Wirklichkeit zu vereinbaren. Die Klubs bekommen einen Bruchteil der Fernseheinnahmen eines Bundesligisten, dennoch trainieren die Fußballer zweimal am Tag. Nach dem Spiel bei Wormatia Worms ist einer von Christian Hocks Spielern auf dem Platz zusammengebrochen. Zum Glück war der Mannschaftsarzt der Wormser in der Nähe und konnte helfen. Um Geld zu sparen, müssen sie bei Hessen Kassel ihren Arzt bei den Auswärtsspielen zu Hause lassen.

Der Unterschied, ob man eine Mannschaft in der Champions League oder in der vierten Liga trainiert, ist groß. Das Meiste aber ändert sich nicht. Der Erfolg oder Misserfolg wird am Trainer festgemacht, der hilflos an der Seitenlinie steht, wenn darüber bisweilen Kleinigkeiten entscheiden. Und wie der Job einen auffrisst, aber wie man sich nach diesem Job sehnen kann, wenn man entlassen wurde. Christian Hock ist jetzt seit sechs Jahren Trainer. Am 18. Oktober 2011, einige Wochen nach unserem Gespräch, wurde er in Kassel beurlaubt. Die Mannschaft und er waren von Kasseler Fans angefeindet worden. Christian Hock hatte sogar eine Morddrohung bekommen.

Mit Wehen Wiesbaden stieg er 2007 fünf Spieltage vor Saisonende in die Zweite Liga auf. Er brauchte zwingend die Fußballlehrer-Lizenz, um weiter arbeiten zu können. Montags bis donnerstags war er beim Lehrgang in Köln. Es kam vor, dass er seine Mannschaft am Freitag zum ersten Mal in der Woche sah und sie am selben Tag schon um 18 Uhr zum Spiel antrat. Fast alle, die mit dieser Doppelbelastung klarkommen mussten, haben sich aufgerieben. Ihm ging es nicht besser. Er wurde entlassen. Den Fußballlehrer machte er zu Ende, die meisten seiner ehemaligen Lehrgangskollegen sind derzeit arbeitslos. Sein Nachfolger in Wehen wurde: Wolfgang Frank. »Ein komisches Gefühl« sei das gewesen, erinnert sich Hock.