SIEBEN
Ihr könnt euch nicht
vorstellen, was da alles drinsteht… und
es wird auch in Deutsch herausgegeben
werden und in Englisch.
Es behandelt alles… alle
Ängste, alle Zwischenfälle,
alle Dispute, das Essen,
die Politik, die Judenfrage,
das Wetter, die
Stimmungen, die Erziehungsprobleme,
Geburtstage,
Erinnerungen, kurz alles.
Otto Frank in einem Brief vom 11. November
1945,
zitiert in Otto Franks
Geheimnis.
Der Vater von Anne Frank
und sein verborgenes Leben
von Carol Ann Lee
Obwohl ich geschlagen
wurde, sind keine Narben geblieben.
Otto Frank 1975 am Jahrestag der
Befreiung
des Lagers Auschwitz, zitiert ebenda
Ich hatte nicht vorgehabt, es zu lesen, doch
schließlich tat ich es doch. Wie hätte ich es nicht tun können? Ich
las es an meiner Werkbank im Souterrain, als alle dachten, ich
würde eine Spielzeugkiste für Abigails Zimmer bauen; und ich las es
im Badezimmer mitten in der Nacht, während Madeleine auf der
anderen Seite der verriegelten Tür schlief. Ich las es auf dem
Parkplatz des Supermarkts, in dem sie nie einkaufte, weil die Waren
hier zwar billiger, aber auch minderwertiger waren, und auf dem
Parkplatz vor dem Bahnhof, bis sie eines Abends fragte, ob das mein
Auto gewesen sei, das sie am Nachmittag beim Vorbeifahren vorm
Bahnhof gesehen habe. Bahnhöfe beunruhigten sie. Ihre Schwester
hatte die Geschichte von einem der Überlebenden erzählt, der früher
in einem Viehwaggon gefahren war und sich nun auf die Schienen
gelegt und gewartet hatte, daß ein Zug kam und ihn überfuhr. Der
Unfall, wenn man das so nennen konnte, führte zu stundenlangen
Stopps der Züge in beide Richtungen. Ich sagte zu Madeleine, das
wäre nicht mein Auto gewesen, doch ich hörte auf, dort anzuhalten.
Aber ich hörte nicht auf, das Tagebuch zu lesen. Ich konnte nicht.
Ich war wie ein Junge mit einem geheimen Laster, wie damals, als
ich auf meinem schmalen Bett lag und mich selbst berührte, ohne
Rücksicht darauf, ob meine Eltern auf der anderen Seite der klammen
Wand etwas hörten oder ob ich blind oder verrückt würde oder mir
Haare auf den Handflächen wuchsen, denn bis so etwas passieren
konnte, war ich vermutlich sowieso schon tot.
Wenn ich nicht gerade las, dachte ich
über das Gelesene nach. Das sei typisch für ein geheimes Laster,
hätte Dr. Gabor vielleicht erklärt, wenn ich weiter zu ihm gegangen
wäre. Das Buch wurde meine wahre Welt, realer als das Souterrain,
wo ich Sachen für meine Frau und meine Kinder bastelte, realer als
das Badezimmer, wo ich dem Buch zu entfliehen versuchte, indem ich
mich unter die Dusche stellte; wie ich auf die Idee kam,
ausgerechnet dort meinen Erinnerungen entgehen zu können, weiß ich
nicht. Realer als der Supermarktparkplatz, wo Frauen mit obszön
gefüllten Einkaufswagen an mir vorbeiliefen. Die Feuchtigkeit des
Kanals, die durch die Wände heraufdrang, war real, der Geruch nach
Schimmel und Schweiß und Fürzen und Pisse und Scheiße war real und
der Geschmack der fauligen Kartoffeln und der verschimmelten Bohnen
und die Kälte, die die Hände meiner Mutter unter den
mottenzerfressenen Handschuhen weiß werden ließ. Auch die Hitze war
real, die vom Himmel knallte und von den Straßen aufstieg, über die
wir nicht mehr gehen durften, und die Gewalt und die Erniedrigung
durch die Gewalt. Ich war in dem Buch gefangen, wie ich damals im
Hinterhaus gefangen gewesen war. Aber – und das war etwas, was ich
nicht verstand – ich empfand Heimweh danach. Ich sehnte mich nach
diesen stickigen Zimmern, in denen die Wände im Sommer dampften und
an denen im Winter das Wasser herunterlief wie kalter Schweiß. Ich
sehnte mich nach jenen Eltern. Ich vermißte Anne. Ich sehnte mich
nach mir selbst.
Manchmal ärgerte ich mich beim Lesen.
Sie hatte nicht nur die Namen geändert, was schon schlimm genug
war. Als sie Pfeffer hinter seinem Rücken im Hinterhaus Dussel
genannt hatte, war das der unschuldige Spaß zweier junger Leute,
die sich gegen die Fesseln wehrten, doch nun war Pfeffer für immer
Dussel. Sie hatte auch meine Mutter und meinen Vater kritisiert und
war über sie hergezogen. Diese sogenannten van Daans waren nicht
meine Eltern, hätte ich sie am liebsten angeschrien, aber ich
konnte es nicht, weil der Geruch der Zigaretten meines Vaters mir
die Kehle zuschnürte und das Lachen meiner Mutter meine Stimme
ersterben ließ. Ich war den Erinnerungen, die das Tagebuch in mir
wachrief, nicht gewachsen. Ich konnte der Anziehung all dieser
Geister nicht widerstehen. Sie entstiegen den abgegriffenen,
grobporigen Seiten, legten ihre Arme um meinen Hals und zogen mich
keuchend und lachend und schluchzend zurück in ihr Leben, zurück in
eine Zeit, in der sie noch am Leben gewesen waren.
Meine Mutter krümmt einen beringten
Finger. Erinnerst du dich noch an den Abend, als ich dir die Haare
geschnitten habe, flüstert sie, und wir tanzen im Zimmer herum, ich
in meiner Badehose und in Tennisschuhen, sie in einem geflickten,
bunt bedruckten Kleid, meine Hände umklammern ihre Handgelenke, sie
fuchtelt im Spaß mit den Armen. Sie lacht und weint und schreit
mich an, ich solle sie loslassen, und ich ziehe und zerre sie im
Zimmer herum, halb im Spaß, halb im Ernst, erschrocken über die
Kraft, die für einen Moment die andere Gewalt überschwemmt, die,
unter der wir leben.
Mein Vater ruft mir zu, ich solle das
Buch zurückgeben, nicht das Buch, über das ich mich in dem
staubbedeckten Auto beuge, sondern ein anderes Buch, weil ich noch
zu jung bin, um von solchen Dingen etwas zu wissen – obwohl ich
nicht zu jung bin, mit ihm und Herrn Frank hinunter ins Büro zu
gehen, in der Hand den Hammer, für den Fall, daß wir den Einbrecher
treffen –, und er reißt mir jenes andere Buch, das über Penisse und
Vaginen und Geschlechtsverkehr, aus der Hand, und wir schubsen und
schlagen und treten, und er verflucht mich und schickt mich ohne
Essen auf den Dachboden, und ich sitze dort und lausche auf das
dumpfe Knurren meines leeren Magens und darauf, wie sie unten essen
und sich unterhalten, ich höre das Klirren des Geschirrs unter mir
und wünsche ihm den Tod, obwohl ich weiß, daß das unter diesen
Umständen eine unmäßige Vorstellung ist. Er ist ein Dummkopf,
schwadroniere ich in Gedanken, er ist ein noch größerer Dussel als
Pfeffer. Pfeffer hat seinen Sohn wenigstens nach England
geschafft.
Doch ein andermal knien mein Vater und
ich nebeneinander, während wir das Gitter an der Vorratskiste
befestigen, die wir bauen, und unsere Schultern berühren sich. Und
Herr Frank, der mir zwar beim Englischlernen hilft, aber nichts
Praktisches herstellen kann, steht daneben und schaut zu. Mein
Vater sagt leise, als wäre das ein Geheimnis, das wir vor den
anderen bewahren müßten, die nicht verstehen, wie man überhaupt
etwas bauen kann: Gut gemacht, Peter, gut gemacht.
Ich saß auf dem Supermarktparkplatz und
hörte das Flüstern meines Vaters, während ich das Buch anstarrte,
das vor mir auf dem Lenkrad lag. Es war ein wenig beschädigt, der
Einband vom Sturz auf die Eisenbahnschwellen gebrochen, ein paar
Seiten eingerissen. Ich streckte die Hand aus, öffnete das
Handschuhfach und nahm eine Rolle Tesafilm heraus. Und so, wie ich
Abigails Knie pflasterte oder Betsys Popo küßte, begann ich, die
Wunden des Buchs mit Pflaster zu bekleben. Ich summte bei der
Arbeit vor mich hin. Madeleine sagt, ich würde oft bei der Arbeit
summen, was ich nicht merke. Doch in diesem Moment nehme ich es
wahr. Ich summe Mozart. Die kleine Nachtmusik erfüllt das Auto, und ich bin
wieder mit Anne auf dem Dachboden. Es ist der Abend des
Ostersonntags, der zweite Ostersonntag, den wir dort verbringen,
der letzte, den wir dort verbringen werden, und wir lauschen der
Musik aus dem Radio, während der Kastanienbaum draußen gehässig den
kommenden Frühling verheißt.
Ich beendete mein Werk und blätterte
wieder weiter in dem Buch.
Es ist der Geburtstag meiner Mutter,
und mein Vater gibt Miep Geld, in der Hoffnung, sie würde rote
Nelken finden, sein traditionelles Geschenk für sie. Meine Mutter
schreit auf vor Entzücken über die rote Glut in unserem grauen
Leben und wirft meinem Vater die Arme um den Hals, sie küßt ihn
innig auf den Mund, doch jetzt wende ich mich nicht angeekelt ab,
wie ich es damals getan habe, ich kneife die Augen zusammen, um
genauer hinzusehen. Wie jung sie sind, meine Mutter drall und
geschäftig, mit weit offenem Mund, bereit, ein Stück aus dem Leben
zu beißen, mein Vater groß, tapfer, eingehüllt in Zigarettenrauch
und abgedroschene Witze erzählend. Was macht
neunhundertneunundneunzigmal Klick und einmal Klack? Ein
Tausendfüßler mit einem Klumpfuß. Haben sie sich geliebt? Haben sie
in diesem miserablen, unpersönlichen Hinterhaus miteinander
geschlafen?
Ich höre, wie sie sich
anschreien.
»Ich werde den Mantel nicht
verkaufen.«
»Gut, dann werden wir in diesem Winter
Kaninchenpelz essen.«
»Du willst nur das Geld für deine Zigaretten
ausgeben.«
»Du willst nur mehr Kleider nach dem
Krieg kaufen. Nach dem Krieg! Was sollen wir essen bis nach dem
Krieg?«
Aber sie haben sich versöhnt. Sie haben
sich immer versöhnt. Er tritt hinter sie, während sie das Geschirr
im Ausguß spült, legt die Arme um sie und nimmt ihre
melonenförmigen Brüste in seine nikotinbraunen Hände. »Nein«,
schreit sie, und das Wort wird in ihrem Mund zu einem Ja. »Kerli«,
flüstert er ihr ins Ohr. Und sie tanzen mit Walzerschritten zum
Bett.
Gierig, nennt Anne sie. O ja, sie sind
gierig.
Ich wende Seite um Seite, hungrig nach
Neuigkeiten von uns. Ein Eintrag läßt mich innehalten.
Peter war sehr
schüchtern, aber dann ließ er doch heraus, daß er seine Eltern gerne mal zwei Jahre lang nicht
sehen möchte.
Ich stolpere im Hinterhaus herum, von
einer feuchten Wand zur anderen. Ich ersticke hier. Ich bin zu groß
für die niedrigen Decken und zu engen Zimmer, ich bin zu stark für
meine schrecklich hilflose Mutter und meinen wütenden, kraftlosen
Vater. Und bestimmt bin ich zu alt, um von beiden geschlagen zu
werden. Meine riesigen Füße machen zu viel Lärm. Meine langen Arme
stoßen dauernd etwas um. Ich habe Angst, sie alle zu zerquetschen.
Ich träume davon, sie alle zu zerquetschen.
Ich streckte die Hand nach einem
Päckchen Zigaretten aus, das Harry auf dem Beifahrersitz vergessen
hatte. Das Buch in einer Hand, schüttelte ich mir eine Zigarette
heraus und drückte den Anzünder. Ich hatte nicht einmal gemerkt,
was ich tat, bis ich inhalierte. Der Geruch meines Vaters umhüllte
mich. Ich konnte kaum atmen. Ich drückte die Autotür auf, um ein
bißchen Luft zu bekommen. Das Buch rutschte mir vom Schoß auf den
Boden. Anne starrte mich nun von dem geteerten Parkplatzbelag an.
Ich hob sie hoch, wischte ihr den Schmutz vom Gesicht und machte
die Autotür wieder zu. Ihre unbeweglichen Augen starrten mich aus
ihrem ewig kindlichen Gesicht an.
»Die Erwachsenen sind genauso neidisch,
weil wir jung sind«, flüstert sie, als wir die Treppe zum Dachboden
hinaufsteigen.
Aber sie sind jünger als wir, zumindest
unschuldiger. Außerhalb des Hinterhauses fallen Bomben und
marschieren Mörder durch die Straßen, und Lastwagen bringen ihre
Fracht ostwärts, während drinnen die Eltern, die nie etwas mit
eigenen Augen gesehen haben, sich darüber einig sind, daß Anne und
ich unsere Abende nicht zusammen verbringen sollten, allein im
Dunkeln.
Und Otto, der noch immer der alten
Sittsamkeit vertraut – ich war im letzten Krieg Offizier in der
deutschen Armee, wird er später zu dem Mann von der Grünen Polizei
sagen, ehe diese Bestie unsere Wertsachen in eine Aktentasche
stopft –, nimmt mich zur Seite und spricht von Rosenpfaden der
ersten Liebe und wie eines zum anderen führt und daß wir uns
aufbewahren sollen für die Zukunft, zumindest Anne.
Zukunft? Was für eine Zukunft? will ich
ihn fragen, aber ich tue es nicht, denn ich möchte so gerne
glauben, daß er recht hat. Trotzdem steigen Anne und ich weiterhin
hinauf auf den Dachboden, wo wir in der Dunkelheit sitzen, die
ersten Boten des Frühlings einatmen, die üblen Gerüche, die vom
Kanal vor dem Haus aufsteigen, und uns für ein reines Leben
zurückhalten. Wenn Gott sie am Leben läßt, sagt sie im Schutz der
Nacht, will sie mehr erreichen, als ihre Mutter es getan hat, sie
will ihre Stimme hören lassen und für die Menschheit nützlich sein.
Wenn ich überlebe, sage ich ihr, will ich nach Niederländisch
Ostindien gehen und etwas aus mir machen. Doch allmählich hören wir
auf zu reden und betreten mit zögernden Schritten Ottos Rosenpfad.
Ich fühle, wie ihr kindlicher Körper in meinen Armen älter wird,
das Leben schrillt in meinen Ohren, oder vielleicht sind es auch
nur die Luftangriffsirenen.
Ich schließe die Augen, doch Anne und
mein Vater und meine Mutter und alle anderen, sogar der arme
Pfeffer, sind hinter meinen Lidern eingebrannt. Es gibt kein
Entkommen. Ich mache die Augen auf. Wassertropfen bedecken Annes
Gesicht und den dunklen Buchumschlag. Es hat angefangen zu regnen.
Ich strecke die Hand aus, um das Fenster wieder
hochzudrehen.
Aber es ist gar nicht offen. Ich hebe
den Blick. Die Sonne hängt wie ein angelaufene Münze über dem
Supermarkt.
Ich nehme ein Taschentuch aus der
Tasche, putze mir die Nase und schaue mich um. Frauen eilen an mir
vorbei, die Körper vorgebeugt in der Anstrengung, ihre übervollen
Einkaufswagen zu schieben, sie streifen mich mit den Augen, schauen
wieder weg. Ein Junge bleibt stehen und starrt mich an. Seine
Mutter packt seine Hand und zieht ihn weiter. Eine andere Frau
vermeidet das von vornherein. Ihr Kind an der Hand, schiebt sie
ihren Wagen in einem weiten Bogen um mich herum. Ich starre aus dem
Käfig meines Autos hinaus auf sie. Ich erkenne das Mißtrauen dieser
Menschen so deutlich, als schwebten Sprechblasen über ihren Köpfen.
Ein Verrückter. Ein Krimineller. Ein Mörder.
In dieser Nacht, als Madeleine neben mir
schlief, verließ ich das Bett und schlich leise hinunter in die
Küche. Nach dem weichen Teppich fühlte sich das Linoleum unter
meinen nackten Füßen kühl und glatt an. Ich schloß die Lamellentür,
bevor ich das Deckenlicht anmachte und gegen die Helligkeit
blinzelte. Auf dem Weg zum Kühlschrank lehnte ich mich ans Fenster,
schützte meine Augen mit der Hand, um das Licht des Zimmers
auszublenden, und schaute hinaus auf die Häuser meiner Nachbarn.
Ein voller Mond vergoß einen geisterhaften Glanz über die Höfe,
aber nirgendwo brannte Licht. Indian Hills schlief ruhig und
friedlich, nahm ich an.
Ich ging hinüber zum Kühlschrank,
machte die Tür auf und räumte den Inhalt aus. Ein Stück nach dem
anderen brachte ich zum Tisch. Zwei Hühnerbeine, eine Scheibe
Hackbraten, eine halbe Pastete, ein Glas Erdnußbutter, eine Flasche
Milch, eine mit Frischhaltefolie bedeckte Schüssel Spaghetti, ein
halbleeres Glas Babynahrung. Ich hatte mich durch ein Hühnerbein
und die Spaghetti gearbeitet, als Madeleine die Tür aufmachte. Sie
blinzelte gegen das Licht. Ihre Augen wanderten vom Teller zur
Schüssel und zur Flasche meines anstößigen Mahls, dann zu
mir.
»Geht es dir gut?« fragte sie
sanft.
»Bin nur ein bißchen
hungrig.«
Ihre Augen leuchteten beim Anblick des
Glases Babynahrung auf.
»Ich muß halb geschlafen haben«, sagte
ich und brachte das Glas zurück in den Kühlschrank. »Ich habe
gedacht, es wäre normales Apfelmus.«
Sie starrte mich noch immer an, als ich
vom Kühlschrank zurückkam, das hübsche, liebevolle Gesicht besorgt
verzogen. Meiner armen Frau dämmerte langsam, daß sie, was ich
schon längst wußte, vielleicht doch nicht das große Los gezogen
hatte.