EINS
Es ist
zu allen Zeiten gefordert, leise zu sprechen. Erlaubt sind alle Kultursprachen, also kein
Deutsch.
Anne Frank, Tagebuch,
17. November 1942
Der Name des Arztes war Gabor. Wie diese
ungarischen Schwestern mit all ihren Juwelen und ihren Ehemännern,
sagte ich zu meiner Frau. Zsa Zsa, Eva, und wie die dritte heißt,
vergesse ich immer. Ich versuchte, einen Witz daraus zu machen. Ich
versuchte, kein Spielverderber zu sein. Sie werden nirgendwo
hinkommen, wenn Sie so empfindlich sind, hatte man mich gewarnt,
obwohl das nun schon Jahre her war.
Ich war nicht kampflustig. Ich hätte
nicht entgegenkommender sein können, als Dr. Gabor mir die Tür
zwischen dem Wartezimmer und dem Sprechzimmer aufhielt. Mit einem
Nicken seines kleinen, mit ölig glänzenden schwarzen Haaren
bedeckten Kopfs forderte er mich auf, an ihm vorbeizugehen. Ich
betrat das Zimmer.
Die Jalousien waren gegen den
sonnenglühenden Nachmittag dicht geschlossen. Schatten
verschluckten die Ecken des Raums. Unter dem Fenster murmelte eine
Klimaanlage unbestimmte Drohungen. An einer Wand duckte sich ein
schwarzes Ledersofa. Ich umrundete es in einem weiten Bogen und
nahm auf dem Stuhl diesseits des Schreibtischs Platz. Dr. Gabor
trat hinter den Tisch und setzte sich in den mächtigen Stuhl mir
gegenüber. Er war kein großer Mann, einen Kopf kleiner als ich und
dreißig Pfund leichter, schätzte ich. Ich stellte mir vor, daß
seine Füße unter dem Tisch etliche Zentimeter über dem Boden
baumelten, munter und hilflos. Ich könnte ihn leicht
überwältigen.
Er griff nach einem gelben Block und
zog einen der Stifte, die in einer etruskischen Vase steckten,
heraus. Der Tisch war überladen wie ein Pfandhaus mit dem Werkzeug
seines Berufs: das Papier und den Stift, die er zur Hand genommen
hatte, ein Telefon, ein halbes Dutzend Bücher mit den Buchrücken zu
ihm, eine Uhr, ebenfalls mit dem Zifferblatt zu ihm. Dann gab es
noch einige Kuriositäten, aber vielleicht gehörten sie auch zum
Gewerbe: eine Reproduktion von Rodins Bürger
von Calais – seltsam, daß er sich
angesichts seines Berufs nicht für den Kuß
entschieden hatte –, einige präkolumbianische Köpfe mit
ausgehöhlten Augen und aufgerissenen Mündern, zwei afrikanische
Statuen, eine mit einem vorgewölbten Bauch und hängenden Brüsten
wie Auberginen, die andere mit einem Penis wie ein Maschinengewehr.
Dr. Gabor hatte die Figur gegen mich gerichtet. Ich wollte ihm
sagen, daß dies nicht das Problem sei; es hatte eine Zeit gegeben,
da hatte ich Angst, es könnte es werden, aber jetzt nicht
mehr.
Er lehnte sich im Stuhl zurück und
schaute mich durch seine Drahtgestellbrille an. Er hatte den
weiten, hohlen Blick einer Eule. Er war nicht beruhigend. Die
anderen Ärzte hatten mir gesagt, er sei meine letzte Hoffnung,
dieser ungarische Herr in seinem taillierten Zweireiher, der nach
langen Nachmittagen in Boulevard-Cafés und trägen Stunden mit jenen
blonden Damen aussah, die seinen Namen trugen. Der Anzug konnte
kein Zufall sein. Kleidung ist die einfachste Tarnung. Ich hatte
mich wie ein Amerikaner oder wenigstens wie ein G. I. angezogen,
bevor ich an jenem Morgen im August die Gangway hinuntergegangen
war. Vielleicht war das der Punkt. Dr. Gabor, der länger hier war
als ich, seit einigen Jahren vor dem Krieg, wie den gerahmten
Zeugnissen an der Wand zu entnehmen war, zeigte seine Verbindung
zur Alten Welt, aber vielleicht widerstand er auch nur den
Vulgaritäten der Neuen. Ich war sicher, daß er sie als Vulgaritäten
ansah.
»So, Herr van Pels«, sagte er und
wippte ein bißchen in seinem großen Lederstuhl, »Sie haben also
Ihre Stimme verloren.«
Ihr habt eure Handschuhe verloren, ihr
unartigen Kätzchen, liest meine Frau unserer Tochter vor.
Ich nickte, obwohl ich damals noch
flüstern konnte. Drei Wochen später konnte ich nicht einmal mehr
das. Ich war in der Lage, meinen Mund aufzumachen und Worte zu
formen, aber ich brachte keinen Ton heraus. Nun gelang es mir, ein
klägliches Wimmern auszustoßen, schwach wie das eines Babys. Nein,
ein Baby kann schreien. Man sollte nur meine Tochter gehört haben,
wie sie brüllte, als der Arzt sie ins Leben zog. Ihr Schrei hallte
in der ganzen Welt wider. Ich hatte meinen Mund zu einem lauten
Jubel geöffnet, doch ihr Anblick, wie sie an ihren
schleimig-glitschigen Füßen festgehalten und geschwenkt wurde, roh
und blutig wie ein Stück Fleisch, erstickte den Laut in meiner
Kehle. Ich stellte mir vor, wie sie auf den Boden fiel und über das
gemusterte Linoleum rutschte. Ich stellte mir vor, wie der Doktor
einem wilden Bedürfnis nachgab, meine Tochter durch die Luft flog
und gegen die kalkweiße Wand knallte. Meine Frau bezweifelt meine
Erinnerung an den Anblick unserer neugeborenen Tochter. Sie sagt,
ich hätte nicht dort sein können. Aber sie stand damals unter dem
Einfluß von Beruhigungsmitteln, und ich weiß, daß ich mich nicht
irre. Vielleicht schlich ich vor dem Kreißsaal herum und erhaschte
nur einen Blick durch die geöffnete Tür. Der Anblick meiner Tochter
brachte mich damals zum Schweigen, und irgend etwas hat mir jetzt
meine Stimme geraubt. Niemand kann mir erklären, wie das
kommt.
Ich war schon bei einer ganzen Armee
von Ärzten. Sie steckten Tuben in meine Kehle, sie machten
Röntgenbilder von meinem Nacken und drückten da und dort,
untersuchten und stellten endlose Fragen. Ich mußte die Antworten
auf einen Block schreiben. Was essen Sie? Alles. Wieviel trinken
Sie? Nicht viel. Rauchen Sie?
Das fragten alle, und ich sagte, daß
ich das nicht tat. Haben Sie jemals geraucht? Sie klangen wie eine
jener Senatsanhörungen, von denen man immer in der Zeitung liest.
Sind Sie jetzt das und das, oder sind Sie es je gewesen? Nie,
schrieb ich, obwohl ich als Jugendlicher gelegentlich Zigaretten
probiert hatte. Ich mag den Geruch noch immer. Aus irgendwelchen
Gründen finde ich ihn beruhigend. Aber das Vergnügen aus zweiter
Hand reichte mir, ich hatte es mir nie angewöhnt. Das teilte ich
ihnen nicht mit. Auch ohne diese unwesentlichen Details gab es
genug aufzuschreiben.
Sie gingen über zu den Allergien. Sind
Sie auf irgend etwas allergisch? Nicht daß ich wüßte, schrieb ich
auf den Block. Und als Kind? Ist etwas bekannt über Allergien in
der Kindheit? Nein, kritzelte ich. Nichts bekannt über die
Kindheit. Die war konfisziert, verbrannt, aus der Existenz
bombardiert. Sie war an einem geheimen Ort versteckt, so geheim,
daß ich mich nicht an sie erinnerte. Doch das schrieb ich auch
nicht auf.
»Kam der Verlust allmählich?« fragte
mich Dr. Gabor nun. »Geschah es plötzlich, oder haben Sie gespürt,
wie Ihre Stimme schwächer wurde?«
»Über Nacht«, krächzte ich.
»Buchstäblich. Ich ging mit Stimme schlafen und wachte ohne
auf.«
»Ist in jener Nacht etwas
Außergewöhnliches passiert?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Was ist mit Träumen?«
»Ich träume nicht.«
Er starrte mich weiter an.
»Nein, tue ich nicht«, wiederholte ich.
Er lehnte sich weiter in seinem Stuhl
zurück und schaute mich über die lange, schmale Nase an, die ein
Gesicht teilte, das so flach war wie die große ungarische Ebene.
»Erzählen Sie mir von sich, Herr van Pels.«
»Ich bin Bauunternehmer von Beruf«,
flüsterte ich. »Ich habe eine Frau und zwei Töchter, eine ist drei
Jahre alt und eine achtzehn Monate. Ich lebe in Indian Hills. Das
ist unser Projekt, meins und das meines Partners.«
Gabor schaute vom Block auf.
»Das ist alles«, krächzte
ich.
»Wo wurden Sie geboren? Ich bemerke
einen leichten Akzent.«
Sie bemerken einen leichten Akzent,
Doktor? Ausgerechnet Sie mit der singenden Sprechweise, die sich
bewegt wie die ungarische Fahne im Wind. Ich habe bisher noch
keinen Ihrer Landsleute getroffen, der sich von diesem Tonfall
befreien konnte. Mein Akzent verrät weniger. Nicht richtig deutsch,
fangen die Leute an, wenn sie versuchen, mich einzuschätzen. Ein
Hauch Niederländisch, raten sie. Du hast britisches Englisch
gelernt, kein amerikanisches, bemerkte meine Frau, als ich zum
ersten Mal mit ihr sprach. Sie behauptet, sie habe sich in meinen
französischen Akzent verliebt, obwohl ich ihr immer sage, er ist
nicht so gut, wie sie denkt.
Ich bin vielleicht
besser in Französisch, Peter, aber du bist viel besser in Englisch.
»Osnabrück«, flüsterte ich.
»Sie sind Deutscher.«
»Ich bin amerikanischer
Staatsbürger.«
»Deutsch von Geburt, meine
ich.«
»Mein Vater war Niederländer und sein
Vater ebenso. Ich bin nur zufällig in Deutschland
geboren.«
»Wann war das?«
»Am 8. November 1926«, sagte ich, obwohl der
13. August
1946 der Wahrheit näher gekommen wäre. »Und
wann kamen Sie hierher?« »Am 13. August 1946.« »Sie waren während
des Krieges also in Deutschland?« Niemand wird
wissen, daß wir hier sind. Von außen kann man es nicht sehen.
»Ich war in Europa.«
»Sind Sie Jude, Herr van Pels?«
»Sind Sie es, Doktor?«
»Ich bin nicht wichtig. Es ist nur ein
Mittel, das uns helfen soll, Sie zu verstehen.«
»Da ist nichts zu verstehen.«
»Zu verstehen, warum Sie Ihre Stimme
verloren haben. Sie haben gesagt, Sie wurden in Deutschland
geboren, aber Sie waren während des Krieges irgendwo anders.
Deshalb habe ich gefragt, ob Sie Jude sind.«
»Nein. Aber meine Frau ist
Jüdin.«
Normalerweise erzähle ich das den
Leuten nicht, aber da wir nun einmal darüber sprechen wollten, was
ich während des Kriegs in Europa getan hatte, schien es mir
angebracht zu sein. Dadurch konnten auch irgendwelche
unterschwelligen Peinlichkeiten vermieden werden. Vor ein paar
Monaten hat mich der Mann, mit dem ich bei der First-Mutual-Bank zu
tun habe, gefragt, ob ich daran interessiert sei, dem Country Club
beizutreten, aber danach erwähnte er das Thema nie mehr. Ich wäre
keinesfalls beigetreten, doch die Tatsache, daß er seither
außerstande ist, mir in die Augen zu sehen, wenn das Thema Golf
aufkommt, ist schlecht fürs Geschäft.
»Dann waren Sie also in der Armee? Sie
müssen…«, er warf einen Blick auf den gelben Block, »…dreizehn
gewesen sein, als der Krieg begann, und achtzehn, als er
endete.«
»Ich habe die meiste Zeit in Amsterdam
verbracht.«
Ich konnte sehen, wie er beim Schreiben
nachdachte. Was haben Sie in Amsterdam getan, Herr van Pels? Juden
zusammengetrieben, da Sie ja kein Angehöriger des auserwählten
Volks sind, oder einfach nur niederländische Bürger verprügelt? Er
war nicht der einzige, der sich wunderte. Soweit ich sehen konnte,
war verdächtigt zu werden der Preis, den man dafür bezahlen mußte,
kein Jude zu sein. Angesichts der jüngsten Geschichte gab es wohl
keine andere Möglichkeit.
»Was ist mit Ihrer Familie? Ist Ihre
Familie mit Ihnen in dieses Land gekommen?«
Das amerikanische
Konsulat
Rotterdam
Hiermit wird
bestätigt, daß am 10. Februar 1939 Hermann, Auguste und Peter van Pels in die Warteliste für
eine Emigration nach Amerika eingetragen
wurden.
»Meine Eltern sind tot.«
Er schaute mich weiter an.
»Kriegsopfer.« Das Wort war ein
geheimnisvolles Flüstern in dem dämmrigen Raum.
»Brüder oder Schwestern?«
Es wird sein, als
hättest du zwei Schwestern.
Es wird sein, als
hättest du zwei Freundinnen – in derselben Wohnung. Schau mal, Kerli, wie rot er
wird.
»Keine Brüder oder
Schwestern.«
»Irgendwelche überlebenden
Verwandten?«
Wollte er eine Liste? Großvater Aaron
verhaftet nach der Kristallnacht, tot, bevor wir untergetaucht
waren. Tante Hetty in Auschwitz, Tante Klara in Sobibor.
Ich schüttelte den Kopf.
»Tut mir leid«, murmelte er, und ich
konnte sehen, wie er nachdachte. Was immer ich im Krieg erlebt
hatte – und darüber grübelte er noch –, es war kein Zuckerschlecken
gewesen. Bequem, solche Redewendungen. Von Anfang an haben sie mich
von den anderen Displaced Persons und Greenhorns unterschieden, von
den Greenies, wie diejenigen, die seit einer Generation oder auch
nur seit zehn Jahren hier waren, uns nannten.
»Es muß schwierig gewesen sein«, fuhr
er fort.
Schwierig. Ach, diese Worte, auf die
wir kommen, um uns das Undenkbare vom Leib zu halten. Ja, Doktor,
es war schwierig. Doch es war auch hilfreich, obwohl es eine
Schande ist, das zu sagen. Wenn ich nicht allein gewesen wäre, säße
ich jetzt nicht hier. Ich hatte einen Kameraden im D.-P.-Lager,
einen Polen, der nicht seine ganze Familie in einem einzigen
Augenblick oder eben im Laufe eines Jahres verloren hat. Seine Frau
und drei seiner fünf Kinder hatten überlebt. Genaugenommen lernte
ich ihn schon vor dem D.-P.-Lager kennen, als er noch dachte, er
hätte sie alle verloren. Wir lebten damals draußen, Überlebende
unterwegs, und nahmen uns das, was wir brauchten, da, wo wir es
finden konnten.
Es reicht, Peter.
Wir haben genug Spaß für eine Nacht gehabt.
Außerdem, der alte Mann hat nichts. Er schläft im Stall mit seinen Tieren.
Doch dann erfuhr er, daß seine Frau und
drei seiner fünf Kinder überlebt hatten. Im D.-P.-Lager bekamen sie
noch ein Kind. Die Eile, sich in diesem Lager zu reproduzieren, war
auffallend. Ich verstand es, aber ich kannte auch die Tatsachen des
Lebens. Ich würde beim amerikanischen Konsulat in Rotterdam nicht
den Fehler meines Vaters wiederholen. Ein junger, gesunder Mann
ohne Anhang hatte die besten Aussichten, ein Visum zu bekommen.
Hatte man dazu eine Frau, sank man sofort um ein paar Stufen. Hatte
man dann noch vier Kinder, konnte man die Hoffnung fahrenlassen.
Aber der Pole war Maschinenarbeiter, er hatte sich qualifiziert,
trotz Frau und vier Kindern. Er schaffte es, seine ganze Familie
bis zur medizinischen Prüfung zu bringen. Da konnte man nicht mehr
tricksen. Und bei der medizinischen Prüfung war es auch, wo man die
Flecken auf der Lunge seiner Frau fand. Ich konnte nicht begreifen,
warum sie so überrascht waren. Das eigentlich Erstaunliche war
doch, daß nicht jeder im Lager Flecken auf der Lunge oder
Tuberkulose oder ein Dutzend anderer Krankheiten und Gebrechen
hatte. Mein Körper verheimlichte die Erinnerung an jene Jahre,
während der ich wie ein unerwünschtes Andenken auf einem Dachboden
eingesperrt war und von verfaulten Kartoffeln und schimmeligen
Bohnen lebte, obwohl meine Situation mir damals gar nicht so bewußt
war. Aber die Frau des Polen hatte Flecken auf der Lunge. Sie sagte
zu ihm, er solle ohne sie fahren. Wenn die Flecken verschwunden
wären, würde sie ihm mit den Kindern folgen. Er sagte, kommt nicht
in die Tüte. Er hatte seinen amerikanischen Slang seit Monaten
perfektioniert. Kommt nicht in die Tüte, sagte er, sie würden als
Familie gehen oder überhaupt nicht. Überhaupt nicht, darauf lief es
hinaus. Während sie darauf warteten, daß die Flecken verschwanden,
lösten die Behörden das Lager auf und repatriierten alle Insassen.
Und dann ließ Onkel Joe Stalin seinen Vorhang fallen, und nun
steckt der Pole mit seiner Frau und vier Kindern in einem
kommunistischen Loch, falls sie überhaupt noch am Leben sind. Sehen
Sie, Dr. Gabor, es hatte Vorteile, niemanden zu haben, obwohl es
sich nicht gehört, so etwas zu sagen.
»Was war hier in diesem Land? Hatten
Sie irgendwelche Verwandten, als Sie ankamen?«
Er hatte die Bürgschaftspapiere
unterschrieben und das Geld für die Überfahrt geschickt, aber er
hatte nicht gefragt, wann ich ankam, und ich hatte ihm nicht
geschrieben, um es ihm mitzuteilen. Ich konnte mich an den Bruder
meines Vaters kaum erinnern, den Bruder, der in der Liste des
amerikanischen Konsulats in Rotterdam höher gestanden hatte. Onkel
war ein weiteres Wort ohne Bedeutung.
Ich schüttelte den Kopf.
»Es muß schwierig gewesen sein.« Er
wiederholte die Formulierung, die für eine Welt außerhalb seiner
Vorstellungskraft so nützlich war, doch diesmal irrte er sich. Vor
Amerika war es schwierig, wenn man es beschönigend ausdrücken will.
Amerika war tatsächlich ein Zuckerschlecken.
»Ich war glücklich, hier zu
sein.«
»Erzählen Sie mir davon.«
Womit soll ich anfangen, Doktor? Mit
jenem ersten Morgen auf dem Pier? Ich glaube nicht. Noch nicht
einmal meiner Frau habe ich davon erzählt. Oder sollte ich
versuchen, das unwahrscheinliche
Eins-zu-einer-Million-Zusammentreffen danach zu beschreiben, als
ich dachte, das Spiel sei vorbei, noch bevor es begonnen
hatte?
»Amsterdam«, sagte der Mann vor dem
Pier, als er den Aufkleber auf meinem Koffer sah. »Vielleicht
kannten Sie meinen Vater?«
Wir waren nun amerikanische Bürger,
frei, dahin zu gehen, wohin wir wollten, aber wir hingen noch immer
zusammen, aus Furcht oder aus Gewohnheit oder Argwohn. Zumindest
sie taten es. Ich beeilte mich wegzukommen. Aber er hatte sich vor
mich hingestellt, dieses Überbleibsel meiner Vergangenheit, obwohl
ich das in dem Moment nicht wußte. Ich hatte von ihm gehört, aber
wir hatten uns nie getroffen, und dort auf dem Pier, von Angesicht
zu Angesicht, hielt ich ihn einfach für einen weiteren Flüchtling.
Überall in Europa stolperten Menschen zwischen Stacheldraht
hindurch, durch ganze Länder, zurück in zerbombte Viertel, und
immer und immer wieder fragten sie: Du warst doch in diesem oder
jenem Lager, hast du diesen oder jenen kennengelernt? Weißt du
etwas von ihm? Gibt es irgendwelche Nachrichten über ihn? Sie
studierten die Listen des Roten Kreuzes und setzten Anzeigen in
Zeitungen und belästigten jeden, der ihnen die Uhrzeit gab. Und je
länger sie fragten, um so mehr quälten die Antworten sie.
»Vielleicht kannten Sie meinen Vater«,
wiederholte der Mann, obwohl er gemerkt haben mußte, daß ich
versuchte, von ihm wegzukommen. »Fritz Pfeffer. Er war Zahnarzt in
Amsterdam.«
Das war also Werner, der Sohn, gerade
mal ein Jahr jünger als ich, den Pfeffer vernünftigerweise gleich
nach der Kristallnacht mit einem Kindertransport nach England
geschickt hatte. Ich war um die halbe Welt gereist, um ausgerechnet
diesen Jungen zu treffen, den ich zwei Jahre lang beneidet hatte.
Ich schuldete ihm nichts, noch nicht einmal eine Information. Ich
schlug ihm vor, sich mit dem Roten Kreuz in Verbindung zu
setzen.
»Das habe ich schon getan. Mein Vater
starb in Neuengamme. Ich suche nach Menschen, die ihn kannten,
nachdem ich weg war.« Er senkte für einen Moment den Blick, aber er
würde mir nicht leid tun. Er hatte den Krieg in England verbracht.
»Ich habe gehört, er war untergetaucht, zusammen mit einer Familie
Frank«, sagte er.
Ich sagte, ich wisse nichts von einem
Zahnarzt namens Pfeffer oder einer Familie namens Frank. Die
Wahrheit hätte ihm keinen Trost gebracht. Wahrscheinlich sind Sie
da anderer Meinung, Doktor, aber Sie sind nicht in der Position, um
zu richten. Sie wissen nichts von der Bösartigkeit von
Erinnerungen.
»Da gibt es nichts zu erzählen«, sagte
ich zu dem Doktor. »Ich bin mit dem Schiff gekommen. Es legte in
New York an. Ich war, wie gesagt, glücklich, hier zu
sein.«
»Wo haben Sie nach Ihrer Ankunft zuerst
gelebt? Bei einer Familie? In einer Einrichtung?«
Einrichtung. Noch so ein Wort. Aber wie
sollte man das Marseilles sonst nennen? Es war kein Hotel mehr,
trotz der geschnitzten Buchstaben an der Fassade, nur eine
Zwischenstation auf der Reise des Elends, eine laute, halb
zerfallene, kurze Unterbrechung für alte Leute von Vierzig oder
Fünfzig, die nie im Leben Englisch lernen würden, weil sie Angst
vor den Geschichten hatten, die sie erzählen könnten, und für
Kinder, die zitterten, wenn sie sich für den Speisesaal aufstellen
mußten oder den Arzt oder die Duschen, und für Männer und junge
Mädchen mit argwöhnischen Augen und brüchigem Lächeln und fertigen
Antworten auf jede Frage, einem Dutzend Antworten, sag nur, welche
du hören willst. Ein Mädchen, das lange blonde Haare hatte, durch
die sie sich ständig mit den Fingern fuhr, als wolle sie sich
versichern, daß sie wirklich da waren, schenkte mir immer ein
Lächeln, so dünn wie die neuen Zehncentstücke in meiner Tasche,
wenn wir im Foyer aneinander vorbeigingen. Ich lächelte zurück,
blieb aber nie stehen.
Oder sollte ich vom Marseilles-Tango
erzählen, Doktor? Wie könnte ich diesen traurigen Tanz der
Verzweiflung jemandem wie Ihnen beschreiben, mit Ihrem Wall von
Zeugnissen und Diplomen, die aus Ihnen eine aufrechte, erstklassige
Säule jedweder Gesellschaft machen? Sogar wenn Sie den Tanz gesehen
hätten, Sie hätten die Schritte nicht erfaßt.
Sie versammelten sich vor der
Landkarte. SO SIEHT AMERIKA AUS, stand in kindlich großen
Buchstaben darüber. Ein Mann oder eine Frau oder ein Kind deutete
auf einen Punkt. Die Bewegung war blind, zufällig, wie bei einem
Kindergeburtstagsspiel. Der andere Tänzer – eine Ehefrau, ein
Vater, eine alte Tante, durch deren Herz einige Tropfen desselben
Blutes gepumpt wurden – folgte dem vorrückenden Finger und landete
an dem Punkt. Greensboro. Cleveland. Detroit. Dann nahm einer das
rote oder weiße oder blaue Band, das an dem Punkt befestigt war,
zwischen Daumen und Zeigefinger und suchte das entsprechende Bild,
das an der Wand neben der Karte befestigt war. Und nun begann die
Diskussion. Wie jeder Tango war auch der, der in der Lobby des
Marseilles getanzt wurde, leidenschaftlich.
»Es sieht zu sehr aus wie
Lodz.«
»Was redest du da, es sieht kein
bißchen wie Lodz aus.«
»Dort gibt es zu viel Schnee. Wir
werden uns zu Tod frieren.«
»Schau doch diese Palmen. Ein
Dschungel, in den sie uns schicken.«
Sie bewegten sich rückwärts und
vorwärts, sie deuteten auf die Karte, betrachteten die Bilder,
lasen Omen in der Vertrautheit einer gotischen Fassade, dem
schmeichelnden Klang eines Straßennamens, den zufriedenen Blicken
einer Gruppe fremder Menschen, bis ein Geiger, der in einem
Streichquartett in Budapest gespielt hatte, entschied, die Heimat
vom Philadelphia Orchestra könne doch kein so schlechter Platz
sein, und eine Frau, die nie ihr Städtchen in Rumänien verlassen
hatte, schließlich ihrer Sozialarbeiterin glaubte, die versprochen
hatte, daß es in Indianapolis keine Indianer gab. Mir war klar, daß
ich unbedingt von dort weg mußte, und nicht mit Hilfe des
Tangos.
»Ich fand ein Zimmer«, sagte ich zum
Doktor.
Alle hatten gesagt, es sei unmöglich.
Hatte ich denn nichts von der Wohnungsknappheit gehört? Überall im
Land lebten die Menschen in alten Armeebaracken und Waggons und auf
anderer Leute Veranden. Ein Paar hatte sich im Schaufenster eines
Kaufhauses eingerichtet, in der Hoffnung, jemand würde auf es
aufmerksam und ihnen eine Wohnung vermieten. Aber ich schaffte es,
ein Zimmer zu finden, eigentlich einen Schlauch mit einem einzigen
Fenster am Ende, auf Höhe des Bürgersteigs. Es kostete neun Dollar
im Monat, und ich hatte das Glück, es zu bekommen. Sogar der
Souterrainausblick machte mir nichts aus. Spät am Abend oder
frühmorgens lag ich im Bett und beobachtete die Füße der Passanten.
Gelegentlich kam ein Paar hoher Absätze mit freien Zehen vorbei.
Die lackierten Nägel blinzelten mir zu, und in Gedanken schickte
ich einen Sturm los, der die Trägerin solcher gar nicht
unschuldiger Schuhe mit wehenden Haaren und auffliegendem Kleid
durch das Fenster in mein enges Eisenbett zog.
»Ich fand einen Job. Als Kellner.
Nachdem ich den Führerschein gemacht hatte, fuhr ich auch
Taxi.«
»Sehr beeindruckend«, sagte Dr. Gabor,
aber er konnte sich einen Blick auf seine Diplome und Zeugnisse,
mit denen seine Wand tapeziert war, nicht verkneifen, um
sicherzugehen, daß sie noch alle da waren.
Ich machte mir nicht die Mühe, ihm zu
sagen, daß das nicht so beeindruckend war. Wir hatten alle mehr als
einen Job gehabt. Manche gingen auch noch zur Abendschule, aber
dafür war ich nicht geduldig genug. Ich konnte noch nicht einmal
stillsitzen und lesen. Ich versuchte es. Ich ging zur Bibliothek
und entlieh mir Bücher. Damals, in jenem beengten, stinkenden
Versteck, waren Bücher unsere Fluchtmöglichkeit gewesen. Wir hatten
uns durch Goethe und Schiller und Dickens und Thackeray gearbeitet.
Aber in Amerika brauchte ich keine Fluchtmöglichkeit mehr. Wer
wollte schon aus dem Gelobten Land fliehen? Wenn ich eine oder zwei
Seiten in diesen Bibliotheksbüchern gelesen hatte, legte ich sie
wieder zur Seite, nahm Hut und Mantel und stieg die drei Stufen von
meinem Souterrainzimmer zur wirklichen Welt hinauf, die sich direkt
vor meiner Tür befand, plötzlich erreichbar.
Ich streunte durch die Fulton Street
und Borough Hall und über die Grand Army Plaza, ging über die
Brooklyn Bridge, lief den Broadway entlang, die Park Avenue
hinunter und überquerte den East River zum Hudson und zurück. Ich
schlenderte in Prospect und Riverside und im Central Park herum,
beobachtete junge Mütter mit Kleinkindern und Kindermädchen mit
großen englischen Kinderwagen, blieb auf der Straße stehen und sah
Jungen beim Stickball-Spielen zu und folgte diskret elegant
gekleideten Frauen die Fifth Avenue hinauf und die Madison
hinunter. Einmal fuhr ich auch oben in einem Doppeldeckerbus, weil
ich in der Zeitung gelesen hatte, sie würden durch einstöckige
Busse ersetzt, aber ich war zu unruhig für die ganzen
Verkehrsstockungen und die langen Aufenthalte, wenn Passagiere aus-
und einstiegen und in ihren Taschen nach Münzen kramten. Wenn ich
mit etwas fuhr, zog ich die Hochbahn vor. Ich liebte die
Geschwindigkeit und die heimlichen Blicke in anderer Leute Leben.
Ich saß in einem der gelb beleuchteten Wagen und spähte durchs
Fenster in die Harlemer Mietskasernen voller Kinder, in die
Appartements von Tudor City, wo sich Frauen über den Herd beugten
und Männer dasaßen und die Zeitung lasen, und in das wohlhabende
Brooklyn, wo die Mitglieder ganzer Familien ihren individuellen,
aber miteinander verknüpften Beschäftigungen in einem Setzkasten
beleuchteter Innenräume nachgingen. Manchmal, wenn ich in der
Hochbahn saß und sie quietschend und ratternd um die Ecken
schwankte, hätte ich am liebsten meinen Mund aufgerissen und die
Leere in einem langen, durchdringenden Geheul aus mir
herausgelassen. Doch sogar das war besser als Lesen. Ich hatte
keine Geduld für Geschichten, die nicht wirklich waren, oder
Informationen, die ich nicht sofort anwenden konnte.
Mit Filmen war es etwas anderes. Im
Kino konnte ich mein Englisch perfektionieren. Einmal rief eine
Frau aus der Reihe vor mir den Platzanweiser, weil ich die Dialoge
der Schauspieler um den Bruchteil einer Sekunde verspätet laut vor
mich hinmurmelte, aber normalerweise schaffte ich es, die Worte
unhörbar zu wiederholen. Und im Kino war ich weniger einsam. Die
Dunkelheit vibrierte von der Nähe fremder Körper. Die Filmstars
waren alte Bekannte.
Ich habe noch
andere Fotos von Filmstars, Peter, falls du welche über dein Bett hängen willst.
»Und jetzt bauen Sie Häuser«, sagte Dr.
Gabor. »Das ist eigentlich eine Erfolgsstory.«
Ich wußte, was er dachte. Wie hatte ein
Greenie wie ich das geschafft? Ich hatte keinen Vorteil durch Harry
gehabt, es war meine Idee gewesen, aber Harry war darauf
eingestiegen. Keiner von uns braucht sich auf die Brust zu
schlagen.
»Erzählen Sie mir von Ihrer Frau, Herr
van Pels.«
Erzählen Sie, erzählen Sie, er war
hartnäckig. Konnte der Mann nicht hören, daß ich keine Stimme
hatte?
»Haben Sie sie hier oder in Europa
kennengelernt?«
Wenn Sie ihre Zähne sehen würden,
Doktor, würden Sie das nicht fragen. Ihre Zähne sind das Ergebnis
eines Lebens mit pasteurisierter Milch, frischem Gemüse und teurer
Zahnpflege. Als sie mich das erste Mal anlächelte, war ich
bezaubert. Mit ihrer Schwester war es genauso.
»Ich habe sie hier getroffen. Sie ist
hier geboren.«
»Und Sie sagen, sie ist
Jüdin?«
Einmal werden wir
doch wieder Menschen und nicht nur Juden
sein.
Ich nickte.
»Ist das ein Reibungspunkt zwischen
Ihnen?«
So etwas gab es, aber die Reibung war
nicht zwischen uns, sondern in mir selbst. Ich hatte nie vorgehabt,
eine Jüdin zu heiraten, ich war absolut dagegen gewesen, aber wenn
man sich verliebt, kann man nichts machen.
»Ich habe sie geheiratet.«
»Die Tatsache, daß sie Jüdin ist, hat
Sie angezogen?«
Angezogen. Es war Liebe auf den ersten
Blick, aber nicht, weil sie Jüdin war. Ich war berauscht von ihr,
von ihrer Schwester, ihrem Vater, der schon an jenem ersten Abend
sein Vergnügen darüber kaum verbergen konnte, daß noch ein anderer
Mann am Tisch saß. Gleich an jenem ersten Abend fing ich an, mich
ins Herz dieser Familie einzuschmeicheln, und zwar begann ich mit
ihrer Mutter, die mir noch nicht ganz traute. Eine scharfsinnige
Frau, meine Schwiegermutter.
»Es tut mir leid, Doktor, aber ich sehe
nicht, wohin uns das bringen soll. Ich habe meine Stimme verloren.
Andere Probleme gibt es in meinem Leben nicht.« Ich beugte mich vor
und schlug mit den Knöcheln dreimal auf die Holzplatte seines
Schreibtischs. Ich meinte es als Witz, ich bin kein abergläubischer
Mensch.
»Haben Sie so etwas je zuvor erlebt?«
fragte er.
»Ich habe noch nie meine Stimme
verloren«, flüsterte ich.
»Irgendwelche anderen gesundheitlichen
Probleme, die keine physiologischen Ursachen zu haben
scheinen?«
»Sie meinen psychosomatische
Erkrankungen?«
Er zuckte mit seinen gepolsterten
Leinenschultern.
»Kurz nachdem ich hier angekommen war,
habe ich einen Tremor an den Händen und Beinen
entwickelt.
Der erste Arzt, zu dem ich ging, sagte,
ich hätte einen Anfall von Institutionitis.«
»Wie bitte?«
Klar, Doktor, ich werfe Ihnen nichts
vor. Der Mann war ein Spinner, ich ging zu ihm, weil er einen
gewissen Ruf hatte. Jeder im Marseilles wußte, wie sehr er Europa
haßte. Er nannte es den Friedhof der Juden. Von ihm war nicht
anzunehmen, daß er jemanden zurückschicken würde, noch nicht einmal
einen Nichtjuden. Das war meine größte Angst. Wenn sie einem wegen
Krankheit die Einreise verboten, würden sie einen dann nicht aus
demselben Grund ausweisen? Ich wollte nicht vom eigenen Körper
hintergangen werden.
Sie werden das
Husten hören.
Gib ihm mehr
Codein.
Willst du ihn
umbringen?
Wenn die
Lagerarbeiter unten sein Husten hören, sind wir verloren.
Diese Angst, ich könnte zurückgeschickt
werden, hatte mich wochenlang davon abgehalten, einen Arzt zu
konsultieren. Ich lag im Bett, und das Eisengestell schlug gegen
die Wand, so sehr zitterte ich, und mein angstbesessenes Gehirn
halluzinierte andere stinkende Räume. Schließlich blieb mir nichts
anderes übrig, ich ging zu dem Arzt, der Europa haßte.
»Er sagte, ich hätte Angst, mit mir
allein zu sein, und wünschte mich zurück ins D.-P.-Lager«, sagte
ich zu Dr. Gabor. »Ich hatte einige Monate in einem Lager
verbracht, bevor ich mein Visum bekam. Er sagte, ich wollte, daß
andere Leute für mich sorgen. Institutionitis.«
Daran merkte ich, daß die Tremoranfälle
nicht psychosomatisch waren. Denn das Letzte, was ich mir wünschte,
war, von der Gnade anderer abzuhängen.
»Verschwanden die Tremoranfälle, oder
leiden Sie noch immer darunter?«
»Sie verschwanden. Danach ging ich zu
einem anderen Arzt. Es stellte sich heraus, daß ich eine
Schilddrüsenüberfunktion hatte.«
Dr. Gabor notierte etwas, dann legte er
seinen Stift hin und lehnte sich wieder im Stuhl zurück. »Erzählen
Sie mir mehr über die Nacht, in der Sie Ihre Stimme verloren haben,
Herr van Pels. Erinnern Sie sich an irgend etwas
Bemerkenswertes?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Was taten Sie an jenem
Abend?«
»Ich fuhr vom Büro nach Hause, ich
spielte mit meinen Töchtern, meine Frau und ich aßen zu Abend, wir
lasen die Zeitung und sahen fern, wir gingen zu Bett. Es war wie an
jedem anderen Abend.«
»Ist die sexuelle Seite Ihrer Ehe
befriedigend?«
»Absolut.«
»Wie oft haben Sie Verkehr, einmal im
Monat, einmal in der Woche oder öfter?«
»Öfter«, flüsterte ich.
»Auch an jenem Abend? In der Nacht, als
Sie Ihre Stimme verloren?«
Ich betrachtete die afrikanische
Statue, die er mir zugekehrt hatte. Ich nickte.
»Und hatten Sie einen befriedigenden
Orgasmus? Keine Dysfunktion?«
Ein Hauch von Ausschweifung wehte über
seinen Schreibtisch.
»Keine Dysfunktion«, murmelte
ich.
»Und was ist mit Ihrer Frau? Hatte sie
auch einen Orgasmus?«
Meine Frau, Doktor, geht Sie verdammt
noch mal nichts an. Nicht die saugende Süße ihres Mundes oder die
üppige Rundung ihres Hinterns, wie man so sagt, wenn sie etwa ein
Pferd reitet, oder das seltsame Wimmern, das mich immer an die
letzten Töne von Bunny Berigans Trompete erinnert, am Ende von »I
Can't Get Started«. Sie spielte mir diesen Song an jenem Abend vor,
als sie mich ausführte, um mein gebrochenes Herz zu heilen. Ich
sehe sie noch immer vor mir, wie sie diese große, blinkende
amerikanische Jukebox mit Münzen fütterte. Manchmal, wenn ihr jetzt
dieser Ton entfährt, frage ich mich, ob sie in ihrer aufgeregten
Jungfräulichkeit gewußt hatte, daß dies die Töne waren, die sie
ausstoßen würde, und ob sie mir die Musik als Versprechen auf etwas
Zukünftiges vorgespielt hatte. Das frage ich mich, Doktor, aber es
geht Sie einen Dreck an.
Ich nickte wieder und verbarg meine
Hand, die sich zur Faust geballt hatte, hinterm Rücken.
»Und danach? Gab es irgendwelche
Unstimmigkeiten oder Anschuldigungen?«
»Was immer mit meiner Stimme los ist«,
flüsterte ich, »es hat nichts mit Sex zu tun.«
»Ich versuche nur herauszufinden, was
an jenem Abend passiert ist. Haben Sie sich unterhalten? Sind Sie
eingeschlafen?«
»Ich bin eingeschlafen.«
»Und Ihre Frau?«
Die Bürger von
Calais schimmerten sanft im abgedämpften Licht. Die Statue
mußte gut fünf Kilo wiegen. Der erhobene Arm von Pierre de Wissant
könnte jemandem glatt das Auge ausstechen.
»Sie hat gelesen. Sie liest immer,
bevor sie einschläft.«
»Stört Sie das?«
»Ihr Lesen?«
»Ihr Lesen, nachdem Sie sich geliebt
haben?«
»Warum sollte es das?«
»Manche Leute könnten es als emotionale
Vernachlässigung ansehen.«
Sie nennen es emotionale
Vernachlässigung, wenn man in heißen Laken liegt, die nach Sex und
Süße und Seife riechen, mit zitternden Nerven, mit weich
zugedeckten, träumenden Kindern im Nachbarzimmer? Vielleicht haben
Sie den falschen Beruf gewählt, Doktor. Oder vielleicht haben Sie
zu viel Zeit in Boulevardcafés verbracht.
»Das macht mir nichts.«
»Was hat Ihre Frau an jenem Abend
gelesen?«
Die Frage war absurd, aber man hat mir
gesagt, er sei meine einzige Hoffnung. Ich versuchte, mir meine
Frau vorzustellen, wie sie sich im Bett aufsetzte, das Buch vom
Nachttisch nahm und sich in die Kissen zurücklehnte. Ich versuchte
den Band zu sehen, den sie, auf dem blauen Satinüberzug der
elektrischen Zudecke aufgestützt, hielt. Es war keines der dicken,
abgegriffenen Paperbackbücher aus ihrer Collegezeit, die sie
manchmal mit ins Bett brachte. Madame Bovary.
Anna Karenina. Thackerays Buch über den
Colonel. Das kannte ich sehr gut. Wir hatten es im zweiten Frühling
unseres Untertauchens gelesen. Das Buch, das meine Frau an jenem
Abend las, war neu, frisch vom Regal einer Buchhandlung oder direkt
aus dem Buch-des-Monats-Club-Umschlag ausgepackt. Ich kniff die
Augen zusammen, um den Hochglanzeinband zu fokussieren. Kühne
schwarze Buchstaben. Ein Foto.
»Sind Sie in Ordnung?« fragte
Gabor.
»Was?«
»Sie haben gerade nach der Lehne
gegriffen, als würden Sie gleich fallen.«
Ich sagte ihm, daß er sich irrte. Ich
hatte nur meine Sitzposition etwas verändert.
»Wir haben gerade darüber gesprochen,
was Ihre Frau an jenem Abend, als Sie Ihre Stimme verloren, gelesen
hat.«
»Einfach ein Buch.«
»Erinnern Sie sich nicht mehr, was für
ein Buch es war?«
»Spielt das eine Rolle?«
Gabor lächelte zum ersten Mal.
»Wahrscheinlich nicht. Ich war einfach neugierig, was für einen
Geschmack sie hat.«
»Sie liest alles. Aber mir ist nicht
aufgefallen, was sie an jenem Abend gelesen hat.«