ZWEI
Er empfand es als
sinnlos, sich in grüblerischer Trauer zu verzehren. Man mußte weiterleben,
weiterbauen.
Otto Frank, Brief an seinen Bruder,
16. März 1946, zitiert in Otto Franks Geheimnis. Der Vater
von Anne Frank und sein verborgenes Leben von Carol Ann
Lee
Ich verließ Dr. Gabors Haus, ein niedriges
Bürogebäude aus Beton, und die Hitze schlug mir wie eine heiße Wand
entgegen. Sie machte die Luft dick und den Parkplatzasphalt unter
meinen Füßen weich. Ich ging zum Auto, zog meine Jacke aus und
legte meine Krawatte ab, ließ aber die Ärmel meines Hemds
zugeknöpft. Es war nicht so, daß ich mich schämte, ich sah einfach
keinen Grund, sie zur Schau zu stellen.
»Was ist das, Papa?« fragt meine
älteste Tochter, ihre kleine Hand schwebt darüber, ängstlich, sie
zu berühren, und doch gierig danach, den Finger darauf zu
legen.
»Nur etwas, das Papa bekommen hat, als
er klein war«, sage ich, und die Antwort lenkt sie ab. Sie möchte
mich nicht als Kind sehen, nicht kleiner, als ich bin. Sie braucht
alles an Größe und Umfang und Substanz, was sie bekommen kann. Sie
ist nicht dumm, meine Tochter.
Ich hatte die Fenster offengelassen,
aber im Auto war es erstickend heiß. Der Ledersitz brannte durch
das Hemd hindurch. Das Lenkrad klebte an den Händen. Nur der
Schlüssel, den ich während der Zeit in Dr. Gabors Praxis in meiner
Tasche gehabt hatte, war nicht zu heiß zum Anfassen. Ich drehte ihn
im Zündschloß und griff nach dem Radioknopf. Das Metall brannte an
meinen Fingern. Sogar die Stimme des Sprechers war überhitzt; ich
war allerdings noch die BBCSprecher gewohnt. Sie waren nicht zu
schlagen gewesen. Die Amerikaner waren einfach selbstgefällig.
Fünfhundert USFlugzeuge hatten Nordkorea bombardiert. Das
Repräsentantenhaus hatte das Einwanderungsgesetz verabschiedet oder
besser das Antieinwanderungsgesetz, gegen Präsident Trumans Veto.
Sechsunddreißig Grad Hitze und keine Erleichterung in
Sicht.
Ich reihte mich in den Verkehrsstrom
ein, der die Route One entlangkroch. Gab es irgend etwas
Bemerkenswertes an jenem Abend, hatte der Doktor gefragt. Alles,
Doktor, alles an jenem Abend und dem davor und dem danach und
heute. Die Scherben des Sonnenlichts, die von der Motorhaube
splittern wie Diamanten. Die Schilder, die in der Hitze flimmern
und mir 26 CENTS FÜR EINE GALLONE und ZWEI-FÜR-EINS und PARKPLATZ
AUF DEM HOF versprechen. Der mürrische Fahrer, der kopflos vor mir
herumfährt, und der andere, der mich mit einer Geste von noblesse
oblige vorbeiwinkt. Die aufragenden schattigen Bäume entlang der
sonnengesprenkelten Zufahrtsstraße und der berauschende Duft frisch
gemähten Grases, als ich mich meinem Zuhause nähere. Alles ist
bemerkenswert, Doktor, und wie seltsam, daß es mir, nach allem,
noch immer das Herz brechen kann. Aber vielleicht ist das der
springende Punkt.
Ich bog in die Indian Hills Road ein.
Mein linker Fuß senkte sich auf die Bremse, während sich mein
rechter vom Gas hob. Diese seltsame Angewohnheit war mir lange
nicht bewußt, bis meine Frau mich darauf hingewiesen hatte. Damals
war sie noch nicht meine Frau.
»Du fährst mit beiden Füßen«, sagte sie
mit der gleichen Faszination, mit der sie die Zahl der Sprachen
nannte, die ich sprach, oder der Bücher, die ich gelesen hatte,
bevor ich aufhörte zu lesen.
»Was meinst du damit?«
»Die meisten Leute bewegen einen Fuß
vom Gaspedal zur Bremse. Du benutzt für jedes Pedal einen Fuß.« Sie
sang, Jimmy Durante parodierend: »Hast du jemals das Gefühl, daß du
gehen willst, und fühlst dabei, daß du bleiben willst?« Sie hatte
sich auch immer gewundert, wie vertraut ich mit amerikanischen
Entertainern und Kinostars war.
»Es ist ein Ausdruck von Ambivalenz«,
sagte sie mit Blick auf meine Füße.
»Es ist meine Art zu fahren«, sagte
ich, obwohl ich eine Zeitlang versuchte, nur einen Fuß zu benutzen,
so wie es, ihrer Aussage nach, alle anderen taten. Doch nach ein,
zwei Wochen kehrte ich zu meiner alten Gewohnheit zurück. Ich
fühlte mich sicherer damit.
Ich fuhr nun mit beiden Füßen und mit
beiden Händen am Lenkrad. Die Tachoanzeige pendelte zwischen
fünfzig und fünfundsechzig Stundenkilometern. Mein Partner Harry
sagt, wenn er jemals einen Gebrauchtwagen kauft, was Gott
verhindern möge, würde er ihn von mir kaufen. Entweder von mir oder
von einer kleinen alten Dame, die nur sonntags mit dem Auto zur
Kirche fährt, fügte er hinzu, um mir zu zeigen, daß er sich lustig
machte. Harry kann sich lustig machen, wie er mag, aber er versteht
nicht, wie leicht ein Unfall passiert. Sogar hier. Besonders hier,
wo Sprinkler Regenbögen über frisch gesäte Rasenflächen sprühen und
blank geputzte Fenster das Leben der Bewohner zu einem offenen Buch
machen und wo es Kinderfahrräder gibt, nicht solche schwarzen, die
durch die Straßen Amsterdams schwärmten, bis die Deutschen sie
konfiszierten, sondern bunte Räder in den Farben von Juwelen, die
meine Schwiegermutter als Zeichen der Liebe von meinem
Schwiegervater einfordert; wie viele Geschäftsleute hat er während
des Kriegs gut verdient. Die Kinder auf den Fahrrädern sind meine
größte Angst. Ich stelle mir vor, wie sie auf die gewachste
Kühlerhaube meines Buicks knallen. Ich sehe, wie sie unter die
Weißwandreifen geraten.
Ich bog von der Algonquin in die
Iroquois ab. Ein instinktives Abbiegen war das, ich könnte meinen
Heimweg mit geschlossenen Augen finden, wäre da nicht diese Angst,
ein Kind zu überfahren. Manchmal, wenn ich hier die Straßen
entlangkomme, stelle ich mir vor, wie alles von oben aussieht. Ich
schaue hinunter und sehe die Bauernhöfe und Cape Cods und Colonials
an den kurvigen Straßen, durch Zufahrtswege mit der Autobahn
verbunden, als Anhängsel der Stadt im Kreis von Middlesex im Staat
New Jersey in den Vereinigten Staaten von Amerika. Und ich sehe
mich selbst, beide Füße auf den Pedalen, beide Hände am Lenkrad,
auf diesen Straßen fahren. Ich sehe, wie Dr. Gabor es nicht konnte,
als er all diese pedantischen Fragen über Sex stellte, den Wald vor
Bäumen.
Als ich nach rechts in die Seminole
einbog, spürte ich das vertraute Aufblitzen der Angst, daß das Haus
nicht mehr da wäre, sondern nur noch rauchende Ruinen. Oder noch
schlimmer, daß sich an seiner Stelle eine friedliche Fläche mit
Gras und Bäumen ausbreitete. Ein Haus hatte es nie gegeben. Ich
hatte das nur geträumt.
Und im nächsten Moment würde ich
aufwachen und mich wieder in einer anderen Welt befinden. Aber das
Haus war da. Ich atmete erleichtert aus und bog in unsere Einfahrt
ein.
Ein Fleck aus Blau und Weiß tauchte in
meinem Blickwinkel auf. Mein linker Fuß drückte auf die Bremse. Ich
machte keine Notbremsung, ich fuhr nur ein wenig langsamer. Ich
drehte den Kopf, um zu sehen, was meinen Blick gefangen hatte.
Scottie Wiener mit sauber geschrubbtem Gesicht, die nassen Haare an
den Kopf geklebt und in einem blau-weiß gestreiften Pyjama, der ihm
ein paar Nummern zu groß war, stand auf dem Nachbarhof. Er war ein
ganzes Stück von der Einfahrt entfernt. Es wäre sehr schwierig
gewesen, ihn umzufahren.
Ich winkte, und Scottie winkte zurück.
»Hi, Mister van Peth«, rief er durch seine Zahnlücke. Die
Nachbarkinder mögen mich. Ich bin geduldig mit ihnen. Ich werde
nicht laut, wie manche ihrer Väter es tun. Ich verliere nie die
Beherrschung. Zumindest haben sie das noch nicht erlebt. Vor ein
paar Wochen habe ich mir von Scottie helfen lassen, die Schaukel im
Garten hinter unserem Haus aufzustellen.
Ich wandte mich von dem knochigen,
zahnlückigen Jungen ab, der im übergroßen gestreiften Pyjama seines
Bruders zu einem alten Mann geschrumpft war, und fuhr das Auto in
die Garage, vorsichtig an dem Kombi vorbei, den meine Frau ganz an
der Seite abgestellt hatte, um Platz für mich zu lassen. Der
Rasenmäher, die Rechen und Schaufeln und andere Geräte waren, um
das Chaos in Schach zu halten, ordentlich verstaut oder
aufgehängt.
Ich hievte mich vom Vordersitz, griff
hinten nach Krawatte und Jackett und schlängelte mich zwischen den
Autos hindurch zur Seitentür. Zehn Tage anhaltender Hitze hatten
das Holz verzogen, ich mußte mit meiner Schulter dagegendrücken, um
die Tür aufzubekommen. Für ein Fertighaus war das Haus gut gebaut,
und ich hatte alles mögliche noch befestigt, aber so solide, wie
ich es mir wünschte, würde es nie sein.
Die kalte Luft schlug mir so hart
entgegen wie vorhin die heiße, als ich Dr. Gabors Praxis verlassen
hatte. Ich hatte eine Klimaanlage im Wohnzimmer und eine zweite in
unserem Schlafzimmer installiert. Ich drückte die Tür hinter mir zu
und öffnete den Mund, dann erinnerte ich mich an meine Stimme und
schloß ihn wieder. Doch weil ich mich nicht zurückhalten konnte,
formte ich mit den Lippen die Worte: »Ich bin zu Hause.«
Home. Das ist
eines meiner englischen Lieblingswörter. Das runde, volle O, das
angenehme M. Es ist ein solideres Wort als das glatte house, besser als das zweideutige safe, was ohnehin ein Märchen ist. Der einzige Safe,
dem ich vertraue, ist der, den ich mit eigenen Händen hinter dem
Wäscheschrank eingebaut habe, als wir in das Haus einzogen.
Home ist etwas anderes, ein Wort mit einer
anderen Farbe.
Ich ging durch das Wohnzimmer. Der
Laufstall mitten im Raum nahm viel Platz ein, aber es war noch
genügend übrig. Das Zimmer war größer als seine Gegenstücke in
Pineview oder in Devon oder in irgendeiner Siedlung in der
Nachbarschaft. Das war meine Idee gewesen. Harry nennt es noch
immer meine Erfindung, obwohl das Konzept so einfach war, daß ich
nicht verstand, warum keiner vor mir auf die Idee gekommen
war.
Ich durchquerte den Raum. Der aschgraue
Bildschirm des Fernsehapparats warf mein Spiegelbild zurück. Ein
großer Mann mit kurzen Haaren, der an einem Finger ein leichtes
Leinenjackett über der Schulter hängen ließ, ein Ehemann, ein
Vater, ein Geschäftsmann, ein Amerikaner. Ich ging die Rollen der
Reihe nach durch, wie ein anderer seine Taschen abklopft, um
sicherzugehen, daß er seine Brieftasche, seine Schlüssel und das
Feuerzeug bei sich hat, falls er raucht, was ich nicht tat. Ich
stieg die fünf Stufen zur Küche hinauf. Eine Ausgabe von The Joy of Cooking mit Flecken und Zutaten von
Hunderten von Abendessen lag offen auf der Anrichte. Der Hochstuhl
in der Ecke war mit den durchgesiebten und pürierten Spuren eines
Kampfs verschmiert. An einem Ende des Resopaltisches waren
Makkaroni und Käse auf einem Teller erstarrt. Es mußte ein
schwieriges Abendessen gewesen sein. Normalerweise wirft meine Frau
die Essensreste der Kinder in den Mülleimer, bevor ich nach Hause
komme. Vielleicht lag es an diesem Anblick, vielleicht auch an Dr.
Gabor, doch plötzlich fühlte ich mich ins Marseilles
zurückversetzt. Nie, noch nicht einmal vor dem Krieg, hatte ich so
viel Essen gesehen. Töpfe mit Suppen und Tröge voller Salat,
Warmhalteplatten mit Fleisch und Fisch und Huhn und Gemüse und
mehrstöckige Türme von Kuchenplatten voller zitternder,
edelsteinfarbener Torten und Cremeschnitten. Es gab so viel zu
essen, wie man wollte, so viel, daß ich mir fast vorstellen konnte,
es würde eines Tages reichen. In der kurzen Zeit, die ich im
Marseilles verbracht hatte, wurde ich zu einer Legende. »Da kommt
er, unser Esser«, sagten die dunkel gekleideten, hühnerbrüstigen
Freiwilligen zueinander, wenn ich mit meinem Metalltablett die
Reihe entlangkam. Auf der anderen Seite der Warmhalteplatten
verzogen sich ihre schweißroten Gesichter zu einem
menschenfresserartigen Grinsen, während sie um die Wette meinen
Teller füllten. Und ich ließ sie gewähren. Ich tat ihnen eigentlich
einen Gefallen.
Ich nahm das halbvolle Milchglas meiner
Tochter und trank es aus. Sogar meine Bitte am ersten Abend im
Marseilles hatte meinen Ruf nicht verhindert. »Ein Glas Milch will
er, mit Fleisch.« Sie schüttelten die Köpfe und schnalzten
spöttisch erschrocken mit den Zungen. »Weißt du denn gar nichts?«
Eine kleine Frau mit spärlichem weißem Haar, die hinter mir in der
Reihe stand, sprach es aus. »Er ißt Milch mit Fleisch. Er ist
treife.« Sie hob ihre wäßrigen Augen zur Decke und schüttelte eine
kindlich kleine Faust zum Himmel. Die Nummer auf ihrem Arm wurde
von der Deckenlampe beleuchtet. »Tut ihm etwas. Ihr habt noch nicht
genug getan. Tut ihm etwas dafür.« Die Frauen hinter den
Essenströgen senkten den Blick. Dann öffnete die winzige wütende
Frau die Faust und trug ihr Tablett zu einem der Tische, als hätte
sie nie etwas gesagt.
Ich brachte das Glas meiner Tochter und
ihren Teller zum Ausguß und schaute aus dem Fenster, während ich
Wasser hineinlaufen ließ. Die Mimosenbäume, die ich vor einem Jahr
gepflanzt hatte, gediehen. Meine Frau hatte einen Kastanienbaum
gewollt, aber irgend etwas in mir hatte sich gegen die Vorstellung
gewehrt, aus unserem Fenster auf einen Kastanienbaum zu blicken.
Das sagte ich ihr allerdings nicht. Welcher Mann hat schon
Vorurteile gegen einen Kastanienbaum? Ich erwähnte nur vage einen
Kastanienmehltau und betonte, Mimosen seien exotischer. Meine Frau
liebt das Ungewöhnliche. Ich bin der lebende Beweis
dafür.
Schmale Waldstreifen trennen die Indian
Hills vom Golfplatz des Country Clubs, dem ich, wie dieser Typ von
der FirstMutual-Bank vorschlug, beitreten solle. Aber dann fand er
heraus, daß meine Frau Jüdin ist. Die Wälder und der Golfplatz sind
verkaufsfördernd, doch mir ist der Blick auf die Häuser meiner
Nachbarn lieber, besser gesagt, der Blick ins Innere ihrer Häuser.
Keiner in Indian Hills läßt in der Küche oder im Wohnzimmer die
Rolläden herunter oder zieht die Vorhänge vor. Im ersten Stock ist
Privatsphäre erlaubt, doch im Erdgeschoß ist Offenheit gefordert.
Meine Frau sagt, es bereitet ihr ein unbehagliches Gefühl, wenn sie
aus dem Fenster schaut und eine Nachbarin in der spiegelverkehrten
Küche sieht, wie sie Zwiebeln schält oder Eier aufschlägt oder
Geschirr spült genau wie sie selbst. Aber ich liebe es, in meinem
Haus zu stehen und die Gier in ihren Gesichtern zu sehen, wenn sie
ihre blutigen Steaks kauen und ihr tiefgefrorenes Gemüse essen. Ich
liebe es, die Selbstzufriedenheit ihrer ungeschützten Mienen zu
sehen, wenn sie sich vor dem Fernseher räkeln, und die
atemberaubende Unschuld ihrer Umarmungen und Küsse, wenn sie ihren
Kindern gute Nacht sagen, sicher, daß es einen nächsten Morgen
geben wird.
Als ich da stand und aus dem
Küchenfenster schaute, tauchte Jane Wiener hinter ihrem auf. Sie
stand an der Anrichte, den Kopf gesenkt, ihre kindlich schmalen
Schultern bewegten sich, während sie arbeitete. Sie hob einen Arm,
um sich die glatten, schwarzen Haare aus der Stirn zu schieben, und
schaute mit ihren großen, dunklen Augen hinaus auf den Vorplatz.
Plötzlich verzog sich ihr feinknochiges Gesicht zu einem Lächeln,
über etwas Lustiges oder ein kleines Glück, und ich stellte mir,
obwohl ich sie auf diese Entfernung nicht sehen konnte, ihre
Grübchen vor.
Warum soll ich
immer lachen?
Weil das hübsch
ist. Du bekommst dann Grübchen in die Wangen.
Ich mag Jane, obwohl ich sie nicht
besser kenne als die anderen Frauen der Straße, das heißt, nicht
sehr gut. Doch aus irgendeinem Grund fühle ich mich zu ihr
hingezogen.
Ich drehte den Wasserhahn zu,
durchquerte den Raum und stieg die paar Stufen hinauf zur oberen
Diele. Als ich näher kam, hörte ich Quietschen und Gekicher und die
Stimme einer Frau, die ein bißchen falsch summte. »Mein Schiff hat
Segel, aus Seide gemacht«, wurde lauter. »Was für eine Mutter singt
ihren Kindern Kurt Weill vor?« hat meine Schwiegermutter gefragt.
Eigentlich meinte sie: Was für ein Mädchen heiratet einen Greenie,
von dem sie nichts weiß, einen Fremden, der trotz der Nummer auf
seinem Arm genausogut ein Dieb oder ein Mörder oder ein Nazi sein
könnte, schließlich wissen wir, was manche taten, um zu überleben.
Dabei hat meine Schwiegermutter keine Ahnung, was manche taten, um
zu überleben, doch das ist nicht der Punkt. Sie möchte etwas über
mich erfahren.
Ich öffnete die Tür zum Badezimmer.
Meine Frau kniete vor der Wanne, mit dem Rücken zu mir, ihre
blassen Fußsohlen entblößt. Wie kann sie nur so herumlaufen und
ihre verletzliche Haut Glas und rostigen Nägeln und hundert
verborgenen dummen Fallen aussetzen? Mein Blick glitt über ihre
schmalen Beine, die herausfordernden Beine einer Tänzerin, zu ihren
violetten Shorts, die ihren Hintern in eine reife Pflaume
verwandelten. Meine Hand bog sich dieser Form entgegen.
Hinter ihr planschten entzückt zwei
seifige, sonnenbraune Körper. Meine ältere Tochter stand auf und
streckte mir die Arme entgegen, rutschte aus und verschwand wieder
in der Wanne. Ich sprang nach vorn. Der Arm meiner Frau, braun und
voller Schaum wie die Körper der Mädchen, senkte sich hinein und
zog Abigail wieder ins Blickfeld, aus ihren Haaren lief Wasser, ihr
Mund war zu einem lauten Gelächter geöffnet.
»Dad-dy, Dad-dy, Dad-dy!« Betsy
kreischte wie eine Sirene. Nein, wie der Ton einer
Entwarnung.
Meine Frau drehte sich zur Tür um. Die
Hitze und die Feuchtigkeit hatten ihre dunklen Haare in eine wilde
Wolke verwandelt. Sie schenkte mir ihr milchgenährtes
Lächeln.
Das, Dr. Gabor, ist die Definition von
außergewöhnlich.
»Erzähl mir von dem Arzt«, sagte meine
Frau.
Ich räumte das Geschirr vom Abendessen
zur Spüle, während sie sich der üblichen Routine hingab. Abwischen,
abspülen, bücken, abwischen, abspülen, bücken. Sie hielt die Teller
unter fließendes Wasser, bevor sie sie in die Spülmaschine räumte,
genau wie es die anderen Frauen in diesen sanft geschlängelten
Straßen taten. Normalerweise necke ich sie damit, wie alle
Ehemänner ihre Frauen necken, und die Normalität dieses
Schlagabtauschs macht mir immer Spaß, aber an diesem Abend neckte
ich sie nicht, weil ich wußte, wie viel es sie gekostet hatte, so
lange zu warten, bis sie sich nach Dr. Gabor erkundigte.
Am Morgen hatte sie mir versichert, daß
sie die Vertraulichkeit einer therapeutischen Beziehung achte.
Meine Frau hatte am Barnard College einige Kurse in Psychologie
belegt, obwohl sie es, anders als ihre Schwester, nicht im
Hauptfach studierte. Aber sie hatte genug gelernt, um sich Sorgen
zu machen. Sie hatte Angst vor dem, was der Doktor vielleicht
herausfinden würde, und vor dem, was ich, seiner Anweisung nach,
auf irgendwelche Fehler bei ihr zurückführen würde. Deshalb konnte
sie nicht anders, sie mußte mich nach ihm fragen, trotz ihrer
Achtung für die therapeutische Beziehung und trotz der Tatsache,
daß sie es sich durch die Heirat mit mir abgewöhnt hatte, zu genau
nachzufragen.
»Er hat eine Menge Fragen
gestellt.«
»Worüber?«
»Über alles. Mich. Dich.«
Sie drehte sich um und sah mich an. Sie
hatte sich das Gesicht gewaschen und die Haare gekämmt, aber
keinerlei Make-up aufgelegt. Ihre Haut war braun von den
Nachmittagen, die sie mit den Kindern im Garten verbracht hatte.
Ihre langgeschnittenen Augen, braungefleckt mit grünen Glitzern und
zuviel Selbstvertrauen, verengten sich besorgt. »Was wollte er über
mich wissen?«
»Du mußt nicht flüstern«, sagte ich.
»Du hast deine Stimme nicht verloren.«
Sie drehte sich wieder zur
Spülmaschine.
Ich hatte den gereizten Ton nicht
beabsichtigt, aber ich wollte nicht über Dr. Gabor sprechen. Es war
fast so schlimm wie die Unterhaltung direkt mit ihm. Fünfzehn
Dollar für eine Stunde, um zu diskutieren, welche Bücher meine Frau
las.
»Er wollte auch etwas über meine
Familie wissen. Über früher.«
Sie stand noch immer mit dem Rücken zu
mir. Das waren die Fragen, die sie stellte. »Erzähl mir davon«,
hatte sie mich am Anfang gefragt, »ich möchte es wissen.«
Ich wollte nicht, daß sie es wußte,
doch das war ein weiterer Punkt, den ich nicht aussprach.
»Und über Sex.«
»Das habe ich mir gedacht.« Sie drehte
sich wieder zu mir um, und ihre lange Oberlippe wurde länger,
während sie die Zähne auf die Unterlippe preßte. Sie mißtraute
ihrem Mangel an Erfahrung. Ich hatte ihr nie gesagt, wie dankbar
ich dafür gewesen war.
»Ich habe ihm erklärt, was immer mit
meiner Stimme nicht in Ordnung sein mag, damit hat es nichts zu
tun.«
»Was glaubt er, womit es zu tun
hat?«
»Er hat keine Ahnung. Deshalb hat er
mir doch all diese Fragen gestellt. Er wollte sogar wissen, was du
liest.«
Ich hatte nicht beabsichtigt, damit
herauszurücken, obwohl ich unfähig gewesen war, nicht am Nachttisch
auf ihrer Seite des Bettes innezuhalten, als ich vor dem Abendessen
oben war. Aber ich hatte meine Stimme schon vor Wochen verloren.
Seither hatte sie bestimmt ein halbes Dutzend Bücher gelesen. Nun
lag Der Anwalt des Teufels von Taylor
Caldwell auf dem Nachttisch.
»Was für eine seltsame
Frage.«
»Er hat die Netze ausgeworfen. Er hat
keine Ahnung, was er finden will.«
»Er will wissen, woran du dich
erinnerst. Es ist freies Assoziieren.«
Wie ich schon sagte, sie hatte ein paar
Kurse belegt.
»Aber ich kann mich nicht
erinnern.«
Das war keine Lüge. Es gibt Dinge, die
hätte ich ihr erzählen können, zog aber vor, es nicht zu tun. Bei
anderen Dingen bin ich mir allerdings nicht sicher. Ich habe keine
Probleme mit der jüngsten Vergangenheit. Nie vergesse ich ihren
Geburtstag oder unseren Hochzeitstag oder den Moment, an dem ich
wußte, daß ich sie heiraten würde, ein Moment, von dem sie
behauptet, daß er fast ein Jahr später lag als der Tag, an dem sie
beschlossen hatte, mich zu heiraten. Ich kann mich an das
Geburtsgewicht meiner Töchter erinnern und an die Tage, an denen
ich sie und meine Frau aus dem Krankenhaus nach Hause holte, und an
die erste Nacht, die ich an Abigails Bettchen verbrachte. Ich kann
mich an das Ergebnis einer Besprechung im Büro erinnern und alles
wiederholen, was gesagt wurde und wer es gesagt hat, ich kann die
Materialkosten vom letzten Jahr und dem Jahr davor aufsagen, und
ich kann Baubeschreibungen behalten.
Was mein jetziges Leben betrifft, bin
ich Experte. Aber meine frühere Existenz ist ein Geheimnis. Sogar
wenn ich versuche, mich daran zu erinnern, habe ich
Schwierigkeiten. Nur manchmal, wenn ich es nicht versuche, wenn ich
mit den Kindern spiele oder in meinem Büro sitze oder über Dinge
nachdenke, die gar nichts mit der Vergangenheit zu tun haben,
explodiert etwas in meinem Kopf, wie die Bomben der alliierten
Flugzeuge, die hoch über den Turm der Westerkerk flogen, und ich
starre die Welt an, wie ich damals solche Luftangriffe angestarrt
habe, scharf und weiß und blendend. Ich höre sogar die Sirenen und
rieche die Explosionen. Zum Beispiel vor ein paar Monaten, als wir
an der Baustelle ein Feuer hatten und Harry nicht aufhörte, sich
über den Gestank zu beklagen. Aber man weiß nicht, wie Feuer
riecht, solange man keine brennende Stadt gerochen hat. Das ist die
Art, wie Erinnerungen in meinem Kopf aufblitzen. Doch bevor ich sie
festhalten kann, wird die Welt wieder dunkel, wie es bei den
Luftangriffen war. Ich weiß bestimmte Fakten aus meinem Leben, ich
kann sie sogar der Reihe nach aufzählen, weil sie sich so und nicht
anders abgespielt haben müssen. Aber ich habe keine richtige
Erinnerung daran, wann die Dinge passiert sind und wo sie passiert
sind oder ob sie mir oder jemand anderem passiert sind. Ich wurde
vor sechs Jahren in einer Zollhalle am Hudson River geboren. Ich
wurde empfangen ein Jahr davor, in einer von Blitzen erhellten
Nacht in einer nach Mist stinkenden Scheune irgendwo in
Deutschland. Jedwede frühere Existenz ist ein Gerücht, das ich
überhöre. Statt Erinnerungen habe ich Instinkte, statt einer
Vergangenheit habe ich diese unerklärliche, krank gewordene,
vollkommen außergewöhnliche Gegenwart.