DREI





Andere glauben, daß eine Displaced Person
ein menschliches Geschöpf ist, was sie nicht ist,
und das gilt besonders für die Juden,
                    die niedriger sind als Tiere… eine untermenschliche Spezies ohne jede kulturelle
oder soziale Verfeinerung unserer Zeit.
General George S. Patton


Zwölf Menschen im Stadtgebiet von New York sind auf Grund der Hitze gestorben, ein Arbeiter brach wegen Dehydratation zusammen, doch endlich änderte sich das Wetter, und ich ging weiterhin zu Dr. Gabor. Hatte ich denn eine andere Möglichkeit? Ich konnte nicht ohne Stimme durchs Leben gehen.
 »Kehren wir zum Krieg zurück«, sagte er bei meinem nächsten Besuch.
 »Ich erinnere mich nicht an sehr viel.«
 »Sie haben gesagt, Sie haben die meiste Zeit in Amsterdam verbracht?«
 Ich nickte.
 »Ihr Vater war bei der Besatzungstruppe?«
 »Ich habe Ihnen gesagt, daß mein Vater Niederländer war. Wir gingen vor dem Krieg zurück, im Juni 1937.«
 »Warum?«
 »Geschäfte.«
 »Und als der Krieg begann?«
 Er würde nicht lockerlassen. Was tat ein Niederländer, der in Deutschland gelebt hatte, während des Krieges in Amsterdam?
 »Ich war in Auschwitz.« Meine Stimme knirschte wie ein Schlüssel, der in einem verrosteten Schloß umgedreht wird.
 Er schaut von seinem gelben Block auf. »Als Wärter oder als Häftling?«
 Dieser verdammte Hurensohn.
 »Als Häftling.«
 Der Hurensohn blinzelte. Die Bilder rückten sich zurecht, wurden zu einem Blick. So etwas hatte ich schon lange nicht mehr gesehen. Der Krieg war seit sieben Jahren vorbei. Ich war nicht der einzige, der ihn unbedingt vergessen wollte. Doch es gab eine Zeit, da kannte ich diesen Blick so gut wie meinen Handrücken oder die Nummer auf meinem Arm. Der Blick war voller Mitleid und Scham. Und dazu Abneigung. Er haßte mich nicht, wie er es bei der Vorstellung getan hätte, ich hätte Juden verhaftet und Niederländer zusammengeschlagen, andererseits mochte er mich aber auch nicht dafür, daß ich dort gewesen war.
 Erinnere dich daran, wo du gewesen bist, was du gesehen hast, es wird dich bei den Menschen nicht beliebter machen.
 »Hatten Sie nicht gesagt, Sie waren in Amsterdam?«
 »Das war ich auch. Bis zum August 1944. Dem vierten August, um genau zu sein. Ich wurde verhaftet und nach Westerbork gebracht, dann nach Auschwitz.«
 »Aus welchem Grund?«
 »Glauben Sie wirklich, die hätten einen Grund gebraucht?«
 »Wenn man Jude war, nicht, aber wenn man kein Jude war, gab es üblicherweise einen Vorwand. Politische Aktivitäten. Homosexualität.«
 »Das nicht.«
 Er legte seinen Stift hin und lehnte sich im Stuhl zurück. »Politische Aktivitäten?«
 Sie hatten dreißig oder vierzig Widerstandskämpfer zusammengetrieben, doch irgendwie kam heraus, daß unter ihnen ein Jude war. Die SS-Männer polterten durch die Waggons, sie schwangen ihre Gewehre, benutzten ihre Fäuste, schrien, daß man seine Hose runterziehen solle. Nur auf deutsch, was ich mich weigerte zu sprechen oder auch nur zu denken.
 »Politische Aktivitäten«, stimmte ich zu.
 »Erzählen Sie mir davon.«
 Ich zuckte die Schultern. »Ich erinnere mich nicht mehr daran. Ob Sie es glauben oder nicht.«
 »Ich glaube Ihnen. Das ist ein übliches Phänomen bei Menschen, die im Lager waren.«
 »Ich bin nicht wie sie«, krächzte ich.
 »Sie meinen, Sie sind kein Jude?«
 »Ich meine, ich weigere mich, in der Vergangenheit zu leben. Ich spreche nicht darüber. Ich denke sogar nicht daran. Wenn mein Geist rückwärts wandert, bleibt er an der Gangway stehen, über die ich vom Schiff herunter hier ins Land gekommen bin.«
 »Gut, dann erzählen Sie mir davon.«
 Sie könnten es nicht verstehen, Doktor. Sie, der Sie vor dem Krieg mit einem medizinischen Examen hergekommen sind, mit einem Schiffskoffer und mit Ihren Büchern. Oder haben Sie das Gepäck und all die Bücher zurücklassen müssen? Waren Sie Hitler nur um einen Schritt voraus? Aber noch im letzten Augenblick geschafft, Sie schlauer ungarischer Teufel. Für jene von uns, die erst danach gekommen sind, lagen die Dinge anders.
 Die Sonne brannte von einem weißen Himmel und brachte den öligen Fluß zum Glitzern. Möwen kreischten wie verrückte alte Frauen, die Schiffssirene zerriß die salzhaltige Luft, und Menschen riefen sich in einem babylonischen Sprachengewirr etwas zu. Sogar wenn man die Wörter nicht verstand, konnte man die Aufregung verstehen und den Schrecken. Ich war sicher, irgend jemand würde bei diesem Gedränge über Bord gedrückt oder auf der Gangway hinunter zur amerikanischen Erde totgetrampelt werden.
 Noch schlimmer war es in der Zollhalle. Das Rattern der Räder und das dumpfe Aufschlagen der Koffer und die vielen Stimmen ließen die Wände erzittern. Männer bewegten sich durch die Hitze wie Unterwasserschwimmer. Frauen fächelten sich mit Hüten und Handtüchern und Dokumenten Luft zu. Kinder weinten. Ein alter Mann wurde ohnmächtig. Und am fernen Ende der Halle drang ein Strahl Sonnenlicht durch eine Öffnung in der Metallwand. Grelles Licht. Das war Amerika.
 Die Menge waberte. Leute suchten nach der richtigen Warteschlange. Beamte deuteten in die eine Richtung, leiteten in die andere und riefen nach Dolmetschern. Freiwillige von einem Dutzend verschiedener Wohltätigkeitsorganisationen versuchten zu helfen, verloren die Geduld und schrien die erschrockenen Menschen an, daß sie doch nur gekommen seien, um zu helfen. Ich fand meinen Platz am Ende einer Warteschlange. Sie bewegte sich ein paar Zentimeter vorwärts und blieb dann wieder stehen, als Männer und Frauen in ihren Taschen und Mappen oder im Futter ihrer Mäntel, die viel zu schwer für diesen heißen Vormittag waren, nach Dokumenten suchten. Plötzlich begann eine Frau zu schreien. Sie suchte ihr Kind. Wo war ihr Kind? Frauen riefen. Männer rannten zu den Öffnungen, die zur Gangway führten, und schauten verzweifelt hinunter in das von den Schiffsmaschinen aufgewühlte Wasser. Ein Aufschrei kam von der anderen Seite des Piers. Hier ist er! Hier ist er! Die Mutter rannte zu ihrem Jungen, hob ihn hoch, setzte ihn nieder, schüttelte ihn, küßte ihn, schüttelte ihn wieder. Die Leute wandten sich ab. Sie hatten genug eigene Sorgen.
 Die Schlange bewegte sich langsam vorwärts. Je länger ich wartete, desto nervöser wurde ich. Immer konnte etwas schiefgehen. Vielleicht waren die Gesetze geändert worden. Papiere, die noch ausgereicht hatten, als das Schiff Bremen verließ, konnten bis zu dem Zeitpunkt, als es in New York anlegte, unzureichend geworden sein. Ich hielt meine Dokumente fest und kontrollierte sie wieder und wieder. Auch auf dem Schiff war ich unfähig gewesen, damit aufzuhören, sie waren bedeckt von den Abdrücken meiner Finger und zerknittert, weil ich sie an meinem Körper getragen hatte. Der Identitätsausweis statt eines Reisepasses sah am schlimmsten aus. Sehen Sie, Doktor, manche von uns hatten nicht genau das, was man brauchte. Damals empfand ich das als Mangel. Es wäre mir nie in den Sinn gekommen, daß es ein Vorteil sein könnte.
 Hiermit wird bestätigt, daß Peter van Pels…
 Ich hatte die Luft angehalten, als die Sekretärin im Lager die Daten eingetragen hatte.
 …geboren in Osnabrück, Deutschland, am 8. November 1926, männlich, unverheiratet, die Absicht hat, in die Vereinigten Staaten von Amerika auszuwandern.
 Größe 188 cm.
 Haarfarbe braun, Augenfarbe blau.
 Besondere Kennzeichen: Narbe am rechten Arm oberhalb des Handgelenks.
 Sie hatte die Narbe eines Rattenbisses an meinem rechten Arm aufgeschrieben, aber nicht die Nummer auf meinem linken. Es gab zu viele Menschen mit solchen Nummern, als daß sie ein besonderes Kennzeichen gewesen wären.
 Der Bewerber erklärt, nie wegen irgendeiner Gesetzesübertretung verurteilt worden zu sein.
 Die Angeln des Scheunentors quietschen. Tiere bewegen sich und schnauben und scharren. Der alte Mann schnarcht.
Aber ich wurde nie wegen irgend etwas verurteilt.
 Ich hatte die Papiere in die Brusttasche meines Jacketts gesteckt, um sie vor Beschädigung zu schützen, bereit, sie auf Verlangen vorzuzeigen.
 Es waren noch immer ein halbes Dutzend Menschen vor mir. Vielleicht hatte ich mich auf dem Schiff mit einer Krankheit angesteckt, und irgendein verräterisches Zeichen würde mich jetzt erledigen. Vielleicht hatte jemand eine Klage gegen mich erhoben. Die Leute erfinden immer Geschichten. Dieser da war ein Kapo. Jener war ein Kommunist. Der Soundso hat einen blühenden Schwarzhandel betrieben. Sie taten das, um selbst besser dazustehen und um Punkte zu machen. Und weil sie irgend jemanden finden mußten, auf den sie ihren mörderischen Zorn abladen konnten, den sie mit sich herumtrugen.
 Ich kam immer näher. Nun war nur noch eine Person vor mir dran. Der Zollbeamte nahm den Paß des Mannes und das Visum und starrte die Dokumente an. »Wischwss…« Seine Stimme stieß eine Reihe Konsonanten aus. Er schüttelte den Kopf. »Das ist kein Name, es ist ein Fluch.« Er schrieb etwas auf die Dokumente, stempelte sie und gab sie zurück. »Willkommen in den Vereinigten Staaten, Sir.« Er zischte das letzte Wort, aber der Mann nahm einfach seine Papiere, nickte einige Male, um seine Dankbarkeit zu zeigen, und ging davon.
 Ich trat vor den Tisch und überreichte meine Papiere zügig, aber nicht zu schnell. Kein Anzeichen von Hackenzusammenschlagen oder einem energischen Salutieren. Ich wollte ihn nicht auf falsche Gedanken bringen.
 Er nahm den Identitätsausweis aus meiner Hand, die zu meinem Erstaunen nicht zitterte, und betrachtete ihn. »Van Pels. Nun, das ist ein guter amerikanischer Name. So amerikanisch wie Stuyvesant. New York hieß früher New Amsterdam, wissen Sie, und Brooklyn war ursprünglich Breuckelen. Und Harlem hieß Haarlem.« Während er meinen Ausweis betrachtete, murmelte er noch etwas anderes vor sich hin. Ich erkannte die Wörter. Ich kannte sie auf englisch, französisch, niederländisch und deutsch. Ich würde sie vermutlich in einem halben Dutzend anderer Sprachen, die ich nicht spreche, auch erkennen.
 »Keiner des auserwählten Volks«, hatte er gemurmelt.
 Ich fragte mich, ob es ein Witz war oder ob er mich auf die Probe stellen wollte. Ich beobachtete ihn, wie er weiter das Dokument studierte. Als ich es zum ersten Mal gesehen hatte, war ich erstaunt gewesen. Ich konnte es noch immer nicht fassen. Deutsche und niederländische Papiere, sogar D.-P.Dokumente, gaben die Religion des Besitzers an. Der Identitätsausweis statt eines Reisepasses, ausgestellt vom Generalkonsulat der Vereinigten Staaten, gab nur an, wie groß ich war und ob ich besondere Kennzeichen hatte und ob ich schon einmal vor Gericht verurteilt worden war. Was für ein Land!
 Der Offizier schaute von dem Dokument auf. Ich wartete darauf, daß er seinen Irrtum erkannte. Auf dem Schiff hatten mich alle als einen der Ihren angesehen.
 »Sie haben hier genug Zeit verbracht, Herr van Pels, Sie denken bestimmt schon, wir sind nichts als eine Müllhalde für den Abfall der Welt, und wundern sich, wofür unsere Jungs gekämpft haben.« Er stempelte den Ausweis. »Ich habe heute morgen mindestens hundert Immigranten abgefertigt, und Sie sind der einzige, dem ich meine Schwester zur Frau geben würde.« Er zwinkerte und hielt mir das Dokument hin. Hier, nehmen Sie es, Herr van Pels. Nehmen Sie Ihren guten holländisch-amerikanischen Namen und Ihren Identitätsausweis, auf dem keine Religion angegeben ist, und betreten Sie Amerika als einer, der nicht zu den Auserwählten gehört.
 Ich hatte jahrelang darüber nachgedacht. Ich hatte mich zehnmal, vielleicht hundertmal neu entschieden. Ich hatte alle Chancen hin und her überlegt, ich hatte die Gefahren bedacht und die praktische Durchführbarkeit. Aber nie hatte ich erwartet, daß es mir so leicht gemacht werden würde. Es wurde nicht kontrolliert, wer ich war. Es gab keine Spur von dem, was ich gewesen war. Das Rote Kreuz führte mich noch nicht einmal als Überlebenden. Den Unterlagen zufolge bin ich auf einem Todesmarsch oder kurz danach in Mauthausen gestorben. Das wäre vielleicht auch so gewesen, wenn der deutsche Soldat, der nicht weniger arisch aussah als die SSOffiziere, die uns Richtung Westen vorwärtsgetrieben hatten, nicht doch wesentlich humaner gewesen wäre als dieses Schwein von einem Bauern in der Scheune. Jedenfalls hatte er mir, aus irgendeiner Anwandlung, die ich nie verstehen werde und die er vielleicht selbst nicht verstand, dieses schimmelige Brot gegeben. Aber vielleicht hatte er es auch verstanden. Schließlich war das Kriegsende in Sicht. Vielleicht benutzte er das Brot, um seinen Handel mit der Zukunft zu machen. Aber es war alles Spekulation, über die Motive des Mannes, über das Schicksal eines Jungen namens Peter van Pels.
 Ich hob die Hand, um den Ausweis wieder zu nehmen. Mein Ärmel rutschte zurück, nur ein paar Zentimeter, nicht weit genug, damit der Offizier die Nummer sah, aber ich wußte, daß sie da war. Sie war nicht auf dem Dokument eingetragen, weil sie kein besonderes Kennzeichen war, aber sie konnte mich noch immer verraten. Ich fragte mich, was dieser blöd grinsende Offizier, der gerade antisemitische Verunglimpfungen vor sich hingemurmelt hatte, wohl sagen würde, wenn ich meine Jacke ausziehen, den Ärmel hochschlagen und ihm zeigen würde, daß ich nur ein weiteres Stück Abfall der Welt war. Aber nicht jeder im Lager war jüdisch gewesen. Die Nummer zeigte zwar, wo ich gewesen war, aber nicht, wer ich war. Eines Tages würde ich sie mir sogar entfernen lassen können. Ich hatte schon gehört, daß es Ärzte gab, die so etwas taten.
 Ich starrte auf das abgegriffene Dokument in der Hand des Zolloffiziers. Ich glaubte nicht an Gott. Wie hätte ich das tun können, nach allem, was ich gesehen hatte und wo ich gewesen war? Ich erinnerte mich noch nicht einmal an die Gepflogenheiten, die damit zu tun hatten.
 Der Schweiß trat mir auf die Oberlippe, er tropfte aus meinen Achselhöhlen und lief an meinem Körper herunter. Mein Hemd war naß. Meine Unterhose war ein nasser Lumpen, der an meinem Bauch, an meinen Arschbacken und an meinem wahren Problem klebte, dem Beweis, wer ich war. Der Schnitt Abrahams, das Zeichen des Bundes, die Beschneidung meiner Kindheit, die fehlende Vorhaut, der unbestreitbare Beweis meiner Identität.
 Ich stand da und starrte den Mann in Uniform an, der mich fälschlicherweise für einen Nichtjuden gehalten hatte, und erinnerte mich an andere Männer in Uniform, die genauso unfähig gewesen waren. Nein, ich erinnerte mich nicht, denn diese Geschichte gehörte nicht zu mir, obwohl sie irgendwie durch Wiedererzählen und eigene Vorstellungskraft zu meiner geworden war.
 Der Mann, der sie mir erzählte, war gefangengenommen und deportiert worden, zusammen mit polnischen Widerstandskämpfern – ein paar Katholiken, ein paar Kommunisten, aber alles Antisemiten, hatte der Erzähler geschworen –, doch nun hieß es, einer von ihnen sei Jude. Sofort kamen SS-Leute, schrien Obszönitäten, schlugen mit ihren Gewehrkolben auf die Männer ein und verlangten von ihnen, ihre Hosen herunterzulassen. Der Mann, der die Geschichte erzählt hatte, war vorgesprungen und fing an, an seinen Knöpfen zu fummeln. Ein Gewehrkolben traf ihn gegen die Brust. Er stürzte zu Boden, zwischen die Meute der stöhnenden, zusammengeschlagenen unbeschnittenen Widerstandskämpfer, und blieb unentdeckt.
 Aber ich war nun in Amerika. Hier verlangten die Männer in Uniform nicht von anderen Männern, ihre Hosen runterzulassen. Hier lächelten die Männer in Uniform, sogar wenn sie Beleidigungen vor sich hinmurmelten, und sagten »Willkommen« und »Viel Glück«, und »Sie werden sich hier bestimmt gleich zu Hause fühlen«.
 Doch früher oder später würde ich meine Hosen herunterlassen müssen. Ich konnte noch immer das Bild aus dem Life-Magazin vor mir sehen, mit der nach hinten gebogenen Krankenschwester. Früher oder später würde ich mich selbst verraten. Judenhaß kennt kein Geschlecht. Im Lager hatte es einen Mann gegeben, der von seiner arischen Geliebten hineingebracht worden war. Vielleicht gab es auch mehr als diesen einen, aber er war der einzige, den ich kannte.
 Daran dachte ich, als ich Susannah das erste Mal sah. Oder ich dachte es, weil ich sie schon vorher aus den Augenwinkeln gesehen hatte.
 Wie lange müssen wir die Bibel lesen, bis wir zu der Geschichte der badenden Susanne kommen?
 Und was bedeutet Sodom und Gomorrha?
 Anne, Peter, wollt ihr zwei endlich ernst sein!
 Das erste, was mir auffiel, waren ihre Haare. Es hat bei mir länger gedauert, bis ich mich an den Anblick von Frauen mit Haaren gewöhnte, als es bei Frauen ohne Haare gedauert hatte. Welche Schlüsse ziehen Sie daraus, Doktor? Susannahs Haare waren dunkelblond und seidig. Sie trug sie damals lang, sie fielen über eines ihrer samtwimprigen Augen, wie auf den Bildern von Veronica Lake aus der Zeit vor dem Krieg. Ich hatte, wiederum im Life-Magazin, gelesen, daß der Filmstar sich in einer patriotischen Geste diesen seidenen Vorhang, in den jeder Mann die Hand schieben wollte, abgeschoren hatte. Seit Samson die Haare abgeschnitten worden waren, hatte dieser Akt keine derartig unheilvollen Konsequenzen mehr gehabt. Über Nacht war Veronica nicht mehr aktuell. Aber Susannah hatte Haare wie Veronica, bevor sie sie abgeschnitten hatte, und sie hatte eine kleine, süße Nase, eine Stupsnase, und gerade, weiße Zähne, die Dr. Pfeffer vor Begeisterung Tränen in die Augen getrieben hätten. Zähne vererben sich, wie schon gesagt, in der Familie. Sie lächelte auf einen Jungen hinunter, den ich in einer Gruppe Waisenkinder schon auf dem Schiff gesehen hatte, und in diesem Lächeln erkannte ich ihre liebevolle Familie, die sie seit ihrer frühesten Kindheit angelächelt hatte. Sie trug eine Erkennungsnadel über ihrer kleinen, spitzen linken Brust. Allerdings war ich nicht nah genug, um ihren Namen oder den der Organisation zu lesen, für die sie ehrenamtlich arbeitete. Später würden wir über diese Szene diskutieren. Nein, nicht diskutieren, wir würden einfach verschiedener Meinung sein.
 Sie mußte gespürt haben, daß ich sie beobachtete, denn sie sah auf. Mein Blick traf ihren. Ich sah, wie ihr die Farbe in die Wangen stieg.
 Wir wissen immer noch nicht, welches Geschlecht Mofft hat, gell?
 Doch, schon. Es ist ein Kater.
 In diesem Moment wurde es mir klar. Eine Geliebte würde es wissen. Eine Hure würde es wissen. Aber ein nettes Mädchen hätte keine Ahnung. Ich könnte meine Unterhose ausziehen und trotzdem mein Geheimnis bewahren.
 Ich nahm meinen Identitätsausweis aus der Hand des Zolloffiziers, steckte ihn in die Tasche meiner schweißnassen Hose und ging auf das blendende Viereck Sonnenlicht am Ende der Halle zu. Als ich in mein neues Leben hinaustrat, fühlte ich mich seltsam gewichtslos. Ich fühlte mich leicht genug, um wegzutreiben. Das war der Moment, in dem Werner Pfeffer mich nach Informationen über seinen verstorbenen Vater fragte.
 »Ich weiß nichts von einem Fritz Pfeffer oder einer Familie namens Frank«, sagte ich und verschwand über die Twelfth Avenue nach Amerika hinein.