SECHS





                Es wäre furchtbar, wenn mein Tagebuch verlorenginge,
Anne Frank, zitiert in
The Stolen Legacy of Anne Frank.
Meyer Levin, Lillian Hellman and
the Staging of the Diary
von Ralph Melnick


Dr. Gabor erkundigte sich selten nach meiner Stimme, aber an diesem Abend erkundigte er sich: »Haben Sie überhaupt irgendeinen Fortschritt bemerkt?«
 Sie sind der Doktor, wollte ich sagen, Sie müßten es doch wissen. Ich kam nun schon seit einem Monat zweimal in der Woche zu ihm, ich saß in der Dämmerung, starrte den Wirrwarr auf seinem Schreibtisch an, beantwortete seine blöden Fragen, so gut ich konnte, und bezahlte fünfzehn Dollar die Stunde für dieses Vergnügen. Ich hatte langsam genug davon.
 »Ein bißchen«, log ich.
 Er lehnte sich in seinem großen Stuhl zurück, der ihn kleiner aussehen ließ, und knöpfte sein Jackett oder irgendein anderes seiner adretten Kleidungsstücke auf. Das schwache Licht der Lampe auf seinem Schreibtisch ließ die goldene Kette auf seiner Weste aufleuchten. Wenn er sich zurücklehnte oder vorbeugte, bewegten sich die Reflexe hin und her.
 »Es gibt da etwas, was ich Ihnen geben kann…«, fing er an.
 Ich traute meinen Ohren nicht. Der Mann war verrückt. Schlimmer als das, ein Scharlatan. Er hatte einen Monat meines Lebens damit vergeudet, mich nach Dingen zu fragen, die nichts mit meiner Stimme zu tun hatten, während er doch nichts anderes zu tun gehabt hätte, als mir etwas zu verschreiben, damit ich wieder sprechen konnte. Am liebsten hätte ich Die Bürger von Calais ergriffen und ihm an den Kopf geworfen. Aber ich schaffte es, meine Stimme ruhig zu halten. Ich hatte zwar seit jenem Tag der psychologischen Begutachtung in dem ehemaligen Büro der SS-Offiziere eine beträchtliche Menge Geld verdient, doch Ärger war noch immer ein Luxus, den ich mir nicht erlaubte.
 »Worauf warten Sie?« fragte ich.
 »Es ist ein einfaches Verfahren. Ich verabreiche Ihnen eine kleine Dosis von Sodium Amytal. Unter dem Einfluß dieses Stoffes werden Sie normal sprechen können. Sie werden auch anfangen, sich an die Ereignisse zu erinnern, die zum Verlust Ihrer Stimme geführt haben.«
 »Sie meinen eine Wahrheitsdroge?«
 »Eine unglückliche Bezeichnung.«
 Unglücklich, Doktor, aber präzise. Verdammt präzise. Sie wollen mir etwas in die Vene injizieren, das mich zum Sprechen bringt.
 »Da gibt es nichts, wovor man sich fürchten müßte«, sagte er.
 Woher, zum Teufel, wollen Sie das wissen?
 »Die Behandlung hat sich in Fällen wie Ihrem bewährt.«
 In Fällen wie meinem? Es gibt keine Fälle wie meine, Doktor, oder nur eine Handvoll. Das ist es, was Sie nicht in Ihren gottverdammten glanzledernen Kopf kriegen. Ich bin nicht einer von Millionen, die da hineingerieten. Ich bin einer der wenigen, die es überstanden haben. Wie erklären Sie das? Wie rechtfertigen Sie das?
 Ich holte ein Taschentuch aus meiner Tasche und wischte mir den Schweiß ab, der sich auf meiner Oberlippe gebildet hatte. Ich rückte meinen Stuhl ein paar Zentimeter zurück. Ich brauchte Platz, um meine Beine auszustrecken. Er beobachtete mich mit diesem eulenhaften Starren, aber ich konnte ihn nicht anschauen. Mein Blick irrte im Zimmer umher, suchte nach etwas, woran er sich festhalten konnte. Ich fühlte, wie sich die Schlingen der Bürger von Calais um meinen Hals zuzogen. In diesem Moment sah ich es. Es lag auf einem niedrigen Bücherregal hinter seinem Schreibtisch. Ich weiß nicht, wie ich es vorher hatte übersehen können, doch dann verstand ich nicht, wie ich es damals, in jener Nacht, als Madeleine das Buch von ihrem Nachttisch nahm und ich meine Stimme verlor, aus meinem Gedächtnis hatte löschen können. Es war das gleiche Buch. Da war ich mir sicher, obwohl ich nicht verstand, daß es überhaupt existierte.
 Der Schutzumschlag war in einem rostigen Rot, der Farbe getrockneten Bluts. Ihr Foto bedeckte die halbe Seite. Die großen Augen starrten mich an. Sie waren schwarz vor Anklage. Der volle Mund war starr. Was drückte er aus? Eine Verurteilung? Das Gesicht war klein, die Schultern schmal und unglaublich zart. Ich hatte vergessen, daß sie ein Kind war. Sie würde nie etwas anderes sein.
 Wie war das möglich? Sie war tot. Alle waren tot, alle außer Otto. Ich wußte das von den Listen des Roten Kreuzes. Ich war der einzige, von dem es keine Nachricht gab.
 Ihr Name stand unter dem Foto. Kühne weiße Buchstaben in einem schwarzen Kasten, gerade und schmal wie ein Sarg.
 ANNE FRANK Darunter stand der Titel in Schreibschrift.

Das Tagebuch eines jungen Mädchens

Sie sitzt an einem kleinen Tisch in ihrem Zimmer und schreibt. Dr. Pfeffer will ihn benutzen, aber sie bettelt um mehr Zeit. Sie beugt sich über den Küchentisch und macht einen Eintrag. Mammichen neckt sie. Laß mich sehen, Anne, nur eine Seite. Sie kauert auf einem Stuhl und Schreibt wild in ein Notizbuch auf ihrem Schoß. Margot sitzt auf dem anderen Stuhl, schreibt in ihr Tagebuch. Sie schreiben alle für die Nachwelt, wie Herr Bolkestein, der Minister, es in einer Sendung der niederländischen Exilregierung in London gefordert hatte. Nach dem Krieg, so hatte er versprochen, würde aus den Tagebüchern und Briefen eine Sammlung gemacht werden, um der Welt zu zeigen, wie das Leben hier gewesen sei. Ich werde veröffentlicht, sagt Anne, ich werde berühmt werden. Margot macht keine Voraussagen über die Zukunft ihres Tagebuchs, obwohl ihres, wie wir alle annehmen, dasjenige sein wird, das Aufmerksamkeit erregen würde. Margot ist die ernste Schwester.
 Aber es war Annes Tagebuch, das dieses Schwein von der Grünen Polizei an jenem warmen Sommermorgen, als sie kamen, um uns zu holen, auf den Boden schmiß. Hatte ein Nachbar einen Schatten hinter einem verhängten Fenster gesehen? Hatte einer der Männer, die unten im Lager arbeiteten, ein Geräusch gehört, trotz der Vorsicht, mit der wir uns tagsüber bewegten? Wurde irgendein Händler mißtrauisch wegen der Nahrungsmengen, die Miep, Ottos ehemalige Sekretärin und nun unsere lebenswichtige Verbindung zur Außenwelt, aufgetrieben hatte mit Hilfe gefälschter Lebensmittelkarten, ihrem gewinnenden Lächeln und den Absprachen, die mein Vater mit einem Metzger getroffen hatte, bevor wir untertauchten? Jemand muß der Grünen Polizei einen Tip gegeben haben, weil sie wußten, wohin sie zu gehen hatten. Sie kommen mit angelegtem Gewehr die Treppe hoch, sie ziehen das Regal weg, das den Eingang zum Hinterhaus verbirgt, und steigen die Stufen zu den kleinen Zimmern herauf. Sie sind in Zivil, bis auf einen, der eine Uniform trägt. Er fragt, wo wir unsere Wertsachen aufbewahren. Seine fette Faust schließt sich um ein Bündel Banknoten. Er betrachtet den Schmuck, kann ihn aber nicht ergreifen, ohne das Geld wegzulegen. Er schaut sich nach etwas um, in das er die Sachen packen kann, greift mit einer Hand nach der Aktentasche und macht sie auf. Annes Tagebücher fallen auf den Boden, Papierblätter flattern hinterher. Sie wirbeln und schwanken und segeln durch einen Strahl honigfarbenen Lichts, der durch eines der Fenster dringt. Keiner von uns, auch Anne nicht, schaut sie an, als wir das Hinterhaus verlassen und zum ersten Mal seit über zwei Jahren hinaustreten ins Tageslicht. Einen Moment danach umgibt uns die Dunkelheit eines Polizeiautos.
 »Ich denke, es lohnt einen Versuch«, sagte Dr. Gabor.
 »Es ist nicht nötig.« Meine Worte ließen die Wände des kleinen Sprechzimmers erzittern.
 Dr. Gabor richtete sich erschrocken auf. Er hatte noch nie meine richtige Stimme gehört.
 Sobald ich an diesem Abend nach Hause kam, noch bevor ich die Treppe hinaufging, um Madeleine zu sagen, daß ich meine Stimme wiedererlangt hatte, ging ich zum Bücherregal im Wohnzimmer, um das Buch zu suchen. Ich lief hin und her, den Kopf nach einer Seite gebeugt, um die Buchrücken zu lesen, ich bückte mich zu den unteren Regalen, drehte den Hals, um etwas zu sehen. Faulkner, Fitzgerald, Forster, Frank. Ich blieb stehen. Sie hatte es in der Literatur eingeordnet.
 Ich nahm das Buch aus dem Regal, obwohl ich keine Ahnung hatte, was ich mit ihm anfangen würde. Anne starrte mich an. Die Augen weigerten sich zu glänzen. Die Augen waren anstößig. Ich wollte ihre Lider schließen. Statt dessen hob ich den Arm und legte das Buch ganz oben ins Regal, außer Reichweite meiner Töchter, sogar zu hoch für Madeleine.


»Was ist passiert?« fragte Madeleine.
»Ich habe keine Ahnung«, sagte ich.
 »Vielleicht war es etwas, was Dr. Gabor gesagt hat«, schlug sie beim Abendessen vor.
 »Vielleicht«, stimmte ich zu.
 Als ich nach dem Essen ins Wohnzimmer ging, lag das Buch noch immer oben in dem Fach, in das ich es gelegt hatte. Ich konnte nicht anders, ich mußte hinschauen, wenn ich durch das Zimmer ging. Ich spürte, wie es hinter mir lauerte, als wir fernschauten. Ich hörte das leise Murmeln, das es von sich gab. Erzähl uns etwas, Peter. Erzähl uns, wie die Welt ohne uns weitergeht.
 Es lag da, als ich am nächsten Morgen hinunterkam, und auch am Abend, als ich zurückkehrte, und auch am nächsten Tag. Es war wie ein früherer Freund oder entfernter Verwandter, der Pech gehabt hat, den du in bester Absicht mit nach Hause gebracht hast und der dich jetzt ärgert. Und wie jener unwillkommene Gast folgte es mir, bat um Aufmerksamkeit, hungrig nach Beruhigung, sehnsüchtig nach irgend etwas, obwohl ich nicht hätte sagen können, wonach.
 Es beobachtete mich an jenem Samstagnachmittag, als Madeleine mich mit den Mädchen allein ließ, weil sie einen neuen Toaster kaufen wollte, denn es war mir nicht gelungen, den alten zu reparieren. Irgend etwas war anders geworden. Ich hatte plötzlich lauter linke Daumen. Madeleine neckte mich damit. »Wenn ich jemanden gewollt hätte, der nichts reparieren kann, hätte ich mir einen jüdischen Ehemann ausgesucht.« Sie kam hinunter zu meiner Werkbank, legte die Arme um meinen Hals und küßte mich auf den Kopf. Der Toaster war ihr egal, sie war überglücklich über meine zurückgekehrte Stimme. Der Verlust meiner Stimme hatte sie stärker beunruhigt, als sie es zugegeben hatte.
 An dem Nachmittag, als sie einkaufen ging, saß ich auf dem Sofa, das eine Auge auf die Zeitung gerichtet, das andere auf meine Töchter. Abigail backte an ihrem kleinen, rosafarbenen Herd, den ihr meine Schwiegermutter zum Geburtstag gekauft hatte, einen imaginären Kuchen für mich. Betsy summte für ihre Spielsachen eine Wundergeschichte. Meine Kinder sind immer noch eine Quelle des Staunens für mich. Die Ehrfurcht war seit damals, als ich Abigail aus dem Krankenhaus nach Hause gebracht hatte, nicht geringer geworden.
 Madeleine war an jenem Abend früh schlafen gegangen. Sie war erschöpft und würde in ein paar Stunden aufstehen müssen, um das Baby zu stillen. Doch ich war in das Zimmer zurückgegangen, das noch immer nach frischer Farbe roch, um einen letzten Blick auf die Kleine zu werfen, bevor ich ins Bett ging. Ich mußte sie noch einmal sehen. Ich mußte mich versichern, daß sie wirklich da war.
 Ich hatte sie nur kurz anschauen und dann gleich gehen wollen, aber der Anblick meiner Tochter hielt mich zurück. Einige Minuten lang stand ich da und starrte auf sie hinunter. Schließlich zog ich mir den Schaukelstuhl zum Bettchen, setzte mich und schob meine Arme durch das Gitter. Sollte ihre Haut so warm sein? Sie zog ihre winzigen Beine zur Brust. Sie spitzte die Lippen. Ihre Hand schloß sich um meinen Finger. Genausogut hätte sie einen Schlüssel im Schloß des Kinderzimmers umdrehen können. Ich konnte den Raum nicht mehr verlassen. Ich konnte noch nicht einmal meinen Finger zurückziehen. Sogar nachdem ihr Fäustchen sich entspannte, war ich noch ein Gefangener. Dieses Päckchen menschlichen Lebens, dieses lebendige Ding da war aus demselben Material wie ich. Ich konnte dieses Wunder noch nicht fassen. Bis heute kann ich es nicht. Betsys Ankunft hatte dieses Gefühl nur noch intensiviert. Ich war gebunden.
 Als ich mit geübtem Blick meine Töchter an diesem Nachmittag nicht aus den Augen ließ, zog das oberste Fach für einen Moment meine Aufmerksamkeit auf sich. Das Buch schien zu vibrieren.
 Ich beobachtete es, wie festgeklebt an meinen Platz, unfähig, mich von der Stelle zu rühren. Das Buch bewegte sich kreisend vor und zurück. Es schwankte auf der Kante. Es begann zu fallen. Die Entfernung zwischen dem obersten Fach und dem Boden dehnte sich. Das Buch nahm an Geschwindigkeit und Kraft zu. Ich hätte mir nicht eingestehen können, daß ich mir etwas einbildete. Das Buch fiel immer noch. Es war ein Felsbrocken, der niederstürzen würde, ein Meteorit, direkt über meinen Kindern.
 Ich befreite mich aus der Umklammerung des Sofas und machte einen Satz auf meine Töchter zu. Abigails Kopf drehte sich nach oben, mit schreckerfülltem Gesicht. Betsy begann zu schreien. Ich hob sie hoch, mit jeder Hand eine, und drückte ihre überraschend festen Körper an mich. Ich schaute hoch. Das Buch lag noch immer im obersten Fach.


Ich mußte es aus dem Haus bekommen, aber mir fiel nicht ein, was ich mit ihm tun könnte. Verbrennen ging nicht. Das hatten sie mit den Büchern getan. Ich konnte es auch nicht in den Müll werfen. Das hatten sie mit uns getan.
 Am Montagmorgen nahm ich es vom Regal und brachte es hinaus ins Auto. Ich hatte nicht vor, damit herumzufahren, während es neben mir auf dem Beifahrersitz lag, mein ungebetener Mitfahrer, meine unwillkommene Vergangenheit, aber mir würde schon noch einfallen, was ich mit ihm tun könnte.
 Es war noch immer da, als ich abends aus dem Büro kam. Die großen dunklen Augen starrten mich an. Ich drehte das Buch um. Die Rückseite war bedeckt mit einer engen Handschrift. DAS IST EINE SEITE AUS DEM TAGEBUCH VON ANNE FRANK. Die niederländischen Worte liefen wie Insekten über die Seiten. Ich machte das Handschuhfach auf, schob das Buch hinein und knallte die Klappe zu.
 Die Idee kam mir, als ich am Bahnhof vorbeifuhr. Ich bog hastig, unüberlegt, auf den Parkplatz ein. Ich würde es nicht zerstören. Ich würde es jemandem geben.
 An einer Seite waren eine Reihe leerer Autos geparkt. Die andere Seite, näher an den Gleisen, wo sonst Frauen hinter Lenkrädern saßen, sich die Nägel feilten oder Zeitschriften lasen oder zu ihren Kindern auf dem Rücksitz sagten, sie sollten aufhören zu streiten, während sie auf ihre zurückkehrenden Männer warteten, war leer. Auf dem Bahnsteig war kein Mensch zu sehen. Es war die Zeit zwischen zwei Zügen.
 Ich stellte mich auf einen der Plätze nah an den Gleisen, holte das Buch aus dem Handschuhfach und stieg aus. Ich konnte nicht verhindern, daß ich mich umschaute, obwohl nichts Unrechtes daran war, ein Buch für irgendeinen gelangweilten Pendler oder neugierigen Passagier zurückzulassen. Ich sprang die Stufen zum Bahnsteig hinauf. Dabei fühlte ich mich leichter, als ich mich seit Tagen gefühlt hatte. Als ich oben an der Treppe angekommen war, war ich gewichtslos. Das muß der Grund gewesen sein, warum ich es getan habe. Einen anderen finde ich nicht. Es war nicht das, was ich vorgehabt hatte.
 Ich lief schnell, doch statt zu einer der Bänke zu gehen, wandte ich mich den Gleisen zu. Zur Seite gedreht, wie ein Pitcher kurz vor dem Wurf, bog ich den Arm zurück, schnellte ihn vorwärts und ließ das Buch fliegen. Es segelte hoch über die Gleise, gewichtslos und frei war es, es streifte die Kante des gegenüberliegenden Bahnsteigs und fiel zu Boden. Ich hörte den dumpfen Aufschlag, als es auf dem Gleis landete. Aufgeklappt blieb es zwischen den Schwellen liegen.
 Ich starrte es an. Ich hatte es nicht zerstören wollen. Ich hatte es nur aus dem Haus haben wollen. Mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf schlich ich zum Auto zurück. Als ich den Parkplatz kurz darauf verließ, bog gerade ein anderes Auto ein. Ich drehte das Gesicht weg.


Als ich zwanzig Minuten später das Wohnzimmer betrat, wanderten meine Augen sofort zum obersten Regal. Der leere Platz zwischen den Büchern war ein gähnendes Loch. Der Platz vergrößerte sich im Laufe des Abends. Ich fühlte diese Leere wie den physischen Hunger, von dem ich gedacht hatte, er würde nie weggehen.
 Es war nach zehn, als ich aufstand und zu Madeleine sagte, ich hätte einige Papiere im Büro vergessen und müsse noch mal hinfahren, um sie zu holen.
 »Warum fährst du dann morgen nicht einfach ein bißchen früher?« In ihrer Stimme lag nicht die Spur von Mißtrauen. Ich war ein guter Ehemann, ein liebender Vater, ein anständiger Mann, keiner von denen, die nächtlich Ausflüge machen. Alles, was ich mir wünschte, war hier in diesem Haus.
 Ich sagte ihr, ich würde schnell wieder da sein, ging hinauf, um meinen Autoschlüssel zu holen, und schnappte mir auf dem Weg nach draußen eine Taschenlampe. »Um die Lichtschalter im Haus zu finden«, sagte ich, bevor sie fragen konnte.
 Diesmal war der Parkplatz vollkommen leer. Das Öffnen und Schließen der Autotür hörte sich an, als würde jemand in der Dunkelheit stöhnen.
 Ich nahm zwei Stufen auf einmal, ich hatte keine Zeit zu verlieren. Ich knipste die Taschenlampe an und ließ den Lichtstrahl über die Schwellen wandern. Es dauerte ein bißchen, bis ich es gefunden hatte, obwohl es genau da lag, wo es gelandet war, auf den Schwellen zwischen den Gleisen.
 Ich ging zum Bahnsteigrand. Der Tritt hinunter zu den Gleisen war nicht hoch. Ich sprang. Mein Knöchel knickte ein, als ich den Boden berührte, meine Knie gaben nach. Fast wäre ich gestürzt, aber ich gewann mein Gleichgewicht wieder.
 Ich lief über die Schienen, folgte dem Lichtstrahl der Taschenlampe. Unter meinen Schuhen rollten die Steine. Der Lichtkegel zitterte und kreiselte in der Dunkelheit. Ein Schatten huschte durch das Licht. Augen glitzerten auf. Ein nackter Schwanz glitt vorbei. Die Narbe von dem Rattenbiß auf meinem Arm pochte, obwohl sie mir nie zuvor Schwierigkeiten gemacht hatte.
 Ich bewegte mich schnell vorwärts, trotz der Schmerzen in meinem Knöchel. Es gab nur wenige Züge um diese Zeit, und selbst wenn einer jetzt käme, würde ich ihn von weitem hören und die Lichter sehen, trotzdem war es nicht besonders intelligent, das zu tun, was ich tat, nicht für einen Ehemann und Vater, für niemanden.
 Eine weitere Ratte glitt durch den Lichtstrahl. Ich folgte ihr mit der Taschenlampe, bis sie in einem Loch unter dem Bahnsteig verschwand. Als ich das Licht wieder auf das Gleis richtete, war das Buch weg. Ich bewegte die Taschenlampe suchend im Kreis. Der lange weiße Lichtstrahl durchschnitt die Dunkelheit, tanzte. Verdammte Ratte. Verdammtes Buch. Ohne dieses Buch wäre ich jetzt zu Hause im Bett mit meiner lesenden Frau neben mir und meinen schlafenden Töchtern auf der anderen Seite des Flurs. Das Licht glitt an einer Schiene hinauf, an der anderen herunter, hüpfte über die Schwellen, erklomm den Rand des Bahnsteigs, kroch langsam zurück und kam ein paar Zentimeter vor mir zur Ruhe. Die schwarzen Augen starrten mich an. Wo bist du gewesen, Peter? Ich habe auf dich gewartet.
 Ich ergriff das Buch. Durch den Schmutz und die Schlacke fühlte es sich schmierig an, als sich meine Finger darum schlossen. Ich überquerte die Gleise. Das Licht tanzte über die Schienen.
 An der Bahnsteigkante legte ich das Buch und die Taschenlampe ab, um meine Arme frei zu haben, drückte meine Handfläche auf dem Rand nach unten und stemmte mich hoch. Ich streckte die Arme, machte sie steif und schwang meine Beine nach oben, aber der Bahndamm war höher, als ich gedacht hatte. Mein Knie schlug gegen den Beton. Meine Beine gaben nach, und ich stürzte auf die Gleise. Ich stellte mir Betsy vor, wie sie sich in ihrem Bettchen zusammenrollte, und Abigail, wie sie mit ihrem weichen Ärmchen ihren Teddy umklammerte. Ich sah, wie Madeleine einen Blick auf die Uhr warf.
 Wieder streckte ich meine Arme, machte sie steif, schwang meine Beine nach oben, und wieder stürzte ich. Es waren noch drei weitere Versuche nötig, bis ich auf dem Bahnsteig landete. Meine Hände waren zerkratzt und blutig, und meine Knie und Schienbeine taten weh von den Schlägen gegen den Beton. Als ich wieder im Auto saß, sah ich, daß eines meiner Hosenbeine zerrissen war.
 Ich legte das Buch zurück ins Handschuhfach. Vorläufig war das in Ordnung.
 Als ich zu Hause ankam, saß Madeleine im Bett und las. Sie hob den Blick von den Seiten, bemerkte meine blutenden Hände und die zerrissene Hose und fragte, was um Himmels willen passiert sei. Ich erzählte ihr, ich wäre die Treppe vom Gebäude zum Parkplatz hinuntergefallen. Sie fragte, was mit der Taschenlampe sei, die ich mitgenommen hatte. Ich sagte, die Batterie sei leer geworden. Ich hatte schon so viel gelogen, da spielten diese kleinen Lügen wirklich keine Rolle mehr.


In der folgenden Woche brachte ich das Buch von einem Platz zum nächsten. So wie zuvor die Untergetauchten heimlich von Kellern zu Kammern und Höhlen schlichen, wenn ihre Helfer Angst bekamen oder Nachbarn mißtrauisch wurden oder ihnen das Schweigegeld ausging, so fand ich jetzt immer neue Verstecke für meine Last. Ich brachte das Buch vom Handschuhfach meines Autos oben ins Wohnzimmerregal, wo nur ich drankam, ich versteckte es hinter meiner Werkbank im Souterrain. Ich schloß es im Safe hinter dem Wäscheschrank ein. Der Safe war nicht groß, es gab kaum genügend Platz für das Buch, den Reisepaß und den Pappumschlag mit Bargeld, die ich dort aufbewahrte. Ich holte es wieder heraus, weil ich nicht wollte, daß es die anderen Dinge infizierte. Ich schloß es in meinem Büro ein, in der obersten Schreibtischschublade. Ich hatte nicht die Absicht, es zu lesen, aber ich konnte auch nicht von ihm lassen.
 Dennoch folgte es mir überallhin. Es war mir gelungen, es nicht zu bemerken, als es auf dem Nachttisch auf der anderen Seite des Bettes, in dem ich schlief, lag. Die Werbung und die Besprechungen waren meiner Aufmerksamkeit entgangen, weil ich diesen Teil der Zeitung nie anschaute. Doch nun, da ich von dem Buch wußte, konnte ich ihm nicht entkommen. Auf der Straße sah ich Frauen, die es an die Brust gedrückt trugen, als wäre es ein Orden. Hinter der Kasse in dem Lokal, in dem Harry und ich manchmal zu Mittag aßen, schaute das Mädchen von dem Buch auf, vorwurfsvoll, weil wir sie störten, um unsere Rechnung zu bezahlen. Und als ich eines Nachmittags mein Büro verließ, sah ich aus dem Augenwinkel Annes Gesicht, bevor meine Sekretärin das Buch in sein Versteck im Schreibtisch zurückschob. Ich fühlte mich wie ein steckbrieflich gesuchter Mann, der überall Plakate mit seinem Gesicht sieht.