FÜNFZEHN
Ich fühle mich schlecht,
weil ich in einem warmen Bett liege,
während meine liebsten
Freundinnen irgendwo draußen
niedergeworfen werden
oder zusammenbrechen.
Anne Frank, Tagebuch,
19. November 1942
Ich frage
mich immer wieder, ob es nicht besser für
uns alle gewesen wäre, wenn wir
nicht untergetaucht
wären,
wenn wir nun tot wären
und
dieses Elend nicht
mitmachen müßten.
Anne Frank, Tagebuch,
26. Mai 1944
Ich wachte plötzlich auf. Auf dem Nachttisch
schnitten die Leuchtzeiger der Uhr ein kleines Stück aus der
schwindenden Nacht. Fünf Uhr zwanzig. Ich drehte den Kopf.
Madeleine schlief, wie sie es in diesen Tagen immer tat, mit dem
Rücken zu mir, die Knie angezogen, die Arme tröstend um sich selbst
geschlungen. Träumte sie von einem jungen Mann, der in das Haus
ihrer Eltern kam und Sprachen sprach, die sie nicht verstand, und
Dinge sagte, bei denen sich der Rest ihrer Familie die Ohren
zuhalten würde, der Botschaften aus einer größeren Welt brachte,
die zu betreten sie sich so sehnte? Es wäre hübsch zu denken, daß
es ein Reich gäbe, wo ich sie noch immer glücklich
machte.
Ich hob die Decke an. Der Anblick ihrer
Wirbelsäule erschreckte mich nicht. Ich fühlte mich so ruhig wie
schon lange nicht. Ich fürchtete mich nicht mehr davor, was ich ihr
und den Kindern antun könnte. Ich wußte, wie ich sie vor mir
schützen konnte.
Ich stieg leise aus dem Bett. Im
Schrank tastete ich nach einer Khakihose und schlüpfte in meine
Mokassins. Ich öffnete eine Schublade der Kommode, nahm ein
Polohemd heraus und zog es über den Kopf. Ich steckte meine
Autoschlüssel und die Brieftasche ein, dann überlegte ich es mir
anders, holte aus der Brieftasche meinen Führerschein heraus, auch
die kleine Aufnahme von den Kindern, dieselbe wie das große Foto
über dem Sofa, und schob diese beiden Dinge in die Tasche. Den
Führerschein würde ich für die Identifikation brauchen, und das
Foto von meinen Kindern wollte ich einfach dabeihaben. Nun blieb
mir nur noch eines zu tun.
Ich ging zurück zu meiner Bettseite,
und in dem schwachen Licht des Weckers kritzelte ich eine
Notiz.
Madeleine, Liebe,
die Kombination des Safes ist achtmal nach
rechts, viermal nach links, sechsmal nach rechts. Küsse die Kinder
von mir. In Liebe, Peter
Ich lehnte den Zettel an den Wecker. Sie
würde ihn sehen, sobald sie die Augen aufmachte.
Der Bahnhofsparkplatz war leer. Für Pendler
war es noch zu früh, aber bestimmt kam ein Frühzug, ein Expreß, der
irgendwelche wichtigen Leute zwischen New York und Philadelphia und
Washington hin und her transportierte. Ich würde nicht lange warten
müssen.
Ich fuhr auf einen Platz in der Nähe
des Bahnsteigs und machte den Motor aus, ließ aber den Schlüssel
stecken. Das Auto stand Richtung Osten. Ich hatte mich für die
südliche Bahnhofsseite entschieden. Am Horizont lag ein dünner
hellgrauer Streifen Morgenlicht. Die Wettervorhersage hatte recht.
Es würde heute ein trüber Tag werden. Die Vorstellung gefiel mir.
Plötzlicher Sonnenschein wäre mir zu grausam vorgekommen.
Ich nahm das Foto aus meiner Tasche.
Meine Kinder schauten mich an. Sie lächelten nicht so breit, wie
ich gedacht hatte, als ich das Bild zum ersten Mal sah. Abigails
Augen waren verschattet. Mir war auch nicht aufgefallen, daß Betsy
die Hände zu Fäusten geballt hatte. David sah aus, als würde er
gleich weinen. Sie wußten, daß das Leben kein Zuckerschlecken war.
Ich konnte sie nicht davor bewahren, aber ich konnte sie vor mir
schützen. Ich steckte das Foto zurück in die Tasche und stieg aus
dem Auto. Vor Jahren, als ich hierhergekommen war, um das Tagebuch
loszuwerden, war ich zum Bahnsteig gerannt, sicher, meiner
Vergangenheit entkommen zu können. Ich hätte wissen müssen, daß sie
mich einholen würde.
Ich ging auf die Treppe zu, mit
gesenktem Kopf und hängenden Schultern. Schlurfend wie ein alter
Mann. Ich ging wie mein Vater, als ich ihn das letzte Mal gesehen
habe, wann immer das auch war, damals, als ich nichts unternommen
hatte, um ihn zu retten. Du denkst, du kannst deine Hände in
Unschuld waschen, was uns betrifft, deine Mutter und mich, hatte er
mir in jener Nacht, als mein Sohn geboren worden war, aus dem
Fenster entgegengeschrien. Der Angriff war berechtigt gewesen,
obwohl ich ihn zurückgewiesen hatte. Aber ich würde es jetzt
wiedergutmachen. Nicht daß ich an ein Leben nach dem Tod
glaubte.
Ich hielt mich am Geländer fest, als
ich die Stufen zum Bahnsteig hinaufstieg. Meine Beine waren
schwer.
Erschöpfung lastete auf meinen
Schultern und ließ meine Hand zittern. Vor vielen Jahren hatte der
Doktor unrecht, was die Tremores betraf. Sie waren nicht
psychosomatisch gewesen. Aber er hatte recht, was mich anging. Ich
konnte draußen nicht existieren.
Ich erreichte das Ende der Treppe und
ging über den Bahnsteig. Nur ein einziges Mal war ich mit meinen
Kindern mit dem Zug gefahren. Wir waren Amerikaner. Wenn wir
verreisten, nahmen wir das Auto. Damals, als wir auf dem Bahnsteig
warteten, hatte Abigail dicht neben mir gestanden, aber Betsy hatte
mit der Gefahr geflirtet. Immer wieder war sie zum Bahnsteigrand
gelaufen, zu den Gleisen. Komm her, hatte ich ihr mehr als einmal
zugerufen. Schließlich hatte ich sie an die Hand genommen und sie
festgehalten, bis der Zug kam.
Die Gleise zogen sich in die Ferne wie
die Nähte einer riesigen Wunde. Ich hatte eine kurze Hose getragen,
als wir mit dem Zug von Osnabrück nach Amsterdam gefahren waren.
Der rauhe Plüsch des Sitzes hatte mich unter den Oberschenkeln
gekratzt. Hör auf zu zappeln, hatte mein Vater mich angeschnauzt.
Seine Nerven lagen blank. War es klug, alle Zelte abzubrechen und
in einem anderen Land neu zu beginnen, mit einem Kind und mit einer
Frau, die nicht weggehen wollte? Er war Niederländer von Geburt,
hatte aber sein ganzes Leben in Deutschland verbracht. War es
anständig, seinen alten Vater zurückzulassen? Er war ein
pflichtbewußterer Sohn als ich. Hör auf zu zappeln, hatte er mich
angeschnauzt, und meine Mutter hatte den Korb aus dem Gepäcknetz
geholt und ein Stück ihres wunderbaren Sandkuchens
herausgeholt.
In dem nächsten Zug hatte es keinen
Sandkuchen gegeben, obwohl es meinem Vater gelungen war, einen
Kanten Brot zu ergattern, Brot, das wir uns dann teilten.
Inzwischen machte er sich keine Gedanken mehr darüber, ob seine
Entscheidung richtig gewesen war, sondern quälte sich damit, so
viel falsch gemacht zu haben. Wieso hatte er nicht vorausgesehen,
was kommen würde? Er hätte wissen müssen, daß die verbotenen
Parkbänke, der gelbe Stern und das Zusammenschlagen alter Männer
auf der Straße nur die ersten Anzeichen waren. Aber die
Einschränkungen waren allmählich gekommen, eine nach der anderen,
dadurch hatte er sich einlullen lassen. Und nicht nur er, wir alle
hatten es getan. Unsere Vorfahren hatten ärgere Heimsuchungen
ertragen müssen. Wenn es nicht schlimmer wird, können wir
überleben. Sie werden früher oder später schon wieder zur Vernunft
kommen. Alles, was wir tun müssen, ist abzuwarten. So waren wir von
Osnabrück nach Amsterdam gezogen, und von der Wohnung an der
ZuiderAmstellaan zum Hinterhaus an der Prinsengracht 263, und
schließlich vom Hinterhaus zum Durchgangslager Westerbork. Und noch
immer versuchte er, sich selbst etwas vorzumachen, vielleicht auch
nur meiner Mutter und mir. Sogar als wir unsere Namen für den
Transport in den Osten hörten und jeder wußte, was das bedeutete,
versuchte er es. Van Pels, schrie der Offizier, als sie am
Buchstaben P angekommen waren. Es war das Bellen eines tollwütigen
Hundes. Hermann. Wir hielten die Luft an. Auguste. Meine Mutter
begann zu weinen. Peter. Zumindest bleiben wir zusammen, sagte mein
Vater, aber er schaute mich bei diesen Worten nicht an. Er hatte
mich nicht gerettet, wie Pfeffer seinen Sohn gerettet hatte. Und
später habe ich ihn nicht gerettet.
Ich saß auf dem Bahnsteig. Meine Beine
baumelten ein ganzes Stück über den Schienen. Es war nicht mehr als
ein Sprung. Abigail würde stocken, aber Betsy würde es leicht
nehmen. Ich überlegte, was mit David wäre, und stellte ihn mir mit
sieben, zehn und dreizehn vor. Würde Madeleine ihm eine Bar-Mizwa
machen? Ich nahm es nicht an. Ihre Familie wird Druck auf sie
ausüben, aber sie wird standhaft sein. Sie wird sagen, Peter hätte
es nicht gewollt. Sie wird die Geheimnisse und Lügen und den Ärger
vergessen, sie wird sogar vergessen, was ich damals gesagt hatte,
nämlich daß ich nicht wolle, daß man David irrtümlich für einen
Juden hält; sie wird sich nur noch daran erinnern, wie sehr ich sie
und die Kinder geliebt hatte. Sie wird mit den Kindern über mich
sprechen. Daddy hat dies gesagt, Daddy hat jenes gedacht. Daddy
hätte gewünscht, daß ihr das und das tut. Ich würde in den
Geschichten über mich ein besserer Mensch sein, als ich es im Leben
war. Wie Anne würde ich nach meinem Tod heiliggesprochen werden. Es
war seltsam, daß es dieses Tagebuch, wäre sie am Leben geblieben,
nicht gegeben hätte.
Es wurde langsam heller. Die öligen
Schienen blinkten im grauen Licht zu mir herauf. Ich lehnte mich
weiter vor und hörte schon das Quietschen von Bremsen. Frauen
würden weinen. Männer würden schreien. Der Zugverkehr würde in
beiden Richtungen für Stunden gesperrt sein. Die Leute würden nicht
zu ihren Arbeitsplätzen kommen. Männer würden Konferenzen
verpassen. Frauen würden ihren Einkaufstag und das Mittagessen
versäumen. Ich würde all diesen Ignoranten als Anlaß dienen, um
darüber nachzudenken, wie hart das Leben sein kann.
Wieder hörte ich Bremsen quietschen,
doch diesmal war das Geräusch hinter meinem Rücken. Eine Autotür
wurde zugeschlagen.
»Peter!« Madeleines Schrei zerriß die
Luft. Aber natürlich bildete ich mir auch das nur ein. Sie schlief
noch in dem schwachen Licht des Weckers, das noch dazu durch ein
Stück Papier mit der Safekombination verdeckt wurde.
Ich stützte mich auf dem Bahnsteig ab,
bereit, mich nach vorn zu werfen. Die Arme um meinen Nacken waren
ein tödlicher Griff. Ich hatte gar nicht gewußt, daß meine Frau so
stark war. Sie riß meinen Oberkörper zurück. Mein Kopf schlug auf
den Bahnsteig. Sie zerrte meine Beine hoch, rollte mich von der
Kante weg und warf sich über mich. Ein starker Mann hätte mich
nicht so fest auf den Boden drücken können, wie sie es
tat.
»Was ist das?« Sie hielt mir den Zettel
mit der Safekombination vors Gesicht. »Was, zum Teufel, soll das da
sein?«
Ich sagte, das sei die Kombination des
Safes. »Für den Fall, daß mir etwas passiert.«
»Für den Fall«, schrie sie. »Für den
Fall!«
Inzwischen waren die Kinder aus dem
Auto geklettert, obwohl Madeleine ihnen bestimmt gesagt hatte, sie
sollten auf dem Rücksitz bleiben. Sie standen oben an der Treppe
zum Bahnsteig, Abigail hielt Davids Hand, Betsy hatte den Daumen im
Mund, obwohl wir ihr diese Babyangewohnheit schon vor Jahren
abgewöhnt hatten. Sie zitterten in ihren Sommerpyjamas. Ich hatte
sie vor mir schützen wollen. Ich konnte sie noch nicht einmal vor
einem kühlen Frühlingsmorgen schützen.