VIER





                      Am 23. Oktober, einen Tag nach der ›Arisierungs-Verordnung‹, wurde auf Otto Franks Betreiben
hin vor einem Notar in Hilversum…
ein neues Unternehmen gegründet…
Kugler wurde Direktor, Aufsichtsrat der
Amsterdamer städtische Angestellte J. A. Gies…
Ein vollkommen ›arisches‹ Unternehmen also,
wenigstens offiziell, denn der tatsächliche Eigentümer
blieb weiterhin Otto Frank.

Die Tagebücher der Anne Frank, Kritische Ausgabe


Als die Tür zu Harrys Büro aufging und er in die Diele trat, wußte ich, daß das zeitliche Zusammentreffen kein Zufall war. Er hatte darauf gewartet, daß ich mein Büro verließ. Er wollte mit mir sprechen, aber es sollte nicht so aussehen, als wolle er es. Wenn ich vorgehabt hätte, es zu tun, wäre es mir ein leichtes gewesen, die Gelegenheit zu nutzen.
 Er ging neben mir her, ein kahlköpfiger Mann mit ewigem lila Schatten über dem Unterkiefer und einem massigen, schweren Körper, der mich an das Gummistehaufmännchen Shmoo meiner Tochter erinnerte. Das Spielzeug landet immer auf den Füßen. Abigail dreht es um, es kippt sofort wieder in die aufrechte Stellung.
 »Wie geht's dem Hals, Kumpel?«
 Als ich Harry kennenlernte, nannte er mich immer Boytschik, doch nachdem er herausgefunden hatte, daß ich kein Jude war, wechselte er zu Kumpel. Er hörte auch auf, seine Rede mit jiddischen Ausdrücken zu pfeffern, zumindest wenn ich dabei war. Seine Stimme klang nun betont beiläufig, aber ich wußte, daß er sich Sorgen machte. Banken und Geschäfte geben nicht gerne Kredit an Behinderte. Niemand möchte ein Haus von einem Mann kaufen, der heute da ist und morgen vielleicht schon nicht mehr.
 »Wird jeden Tag besser«, sagte ich, als wir das Gebäude verließen und den Parkplatz betraten.
 »Prima, prima.« Er streckte sich und klopfte mir auf die Schulter. »Das Problem ist also gefunden?«
 Sie haben es nicht gefunden, Kumpel. Sie haben es nur benannt. Dr. Gabor nennt es Aphonie. Aber ich hatte nicht die Absicht, das Harry zu sagen. Ich hatte ihm noch nicht einmal von Dr. Gabor erzählt. Harry ist kein gefühlloser Mann. Er hat, könnte man sagen, eine gewisse Ehrfurcht vor Krankheiten. Er redet von Herzattacken und Schlaganfällen in geheimnisvollem Ton. Das Wort Krebs kommt ihm nie über die Lippen. Er spricht nur vom großen K, um die Sache zu benennen. Harry glaubt an die Macht des Wortes. Aphonie könnte ihm gefallen, musikalisch und medizinisch zugleich. Aber dann müßte ich ihm erklären, daß es keine physische Erkrankung ist, nur die Beschreibung des Fehlens einer solchen. Das würde ihn verwirren. Er zieht Krankheiten vor, die man unterm Mikroskop beobachten oder durch Röntgenstrahlen diagnostizieren oder mit Hilfe irgendwelcher anderer Maschinen messen kann.
 »Kein Grund zur Sorge«, sagte ich. »Es ist nicht angesteckt, ich meine, nicht ansteckend.« Ich korrigierte mich und lachte, um ihm zu zeigen, daß es als Witz gemeint war.
 Er schob sich die dunklen Haare zurück, die er sich seit letztem Jahr in Strähnen über den Kopf kämmte. »Der einzige Grund, weshalb ich frage, Kumpel, ist, daß ich selbst dauernd danach gefragt werde. Heute morgen habe ich George Johnson getroffen. Er wollte wissen, wie es meinem Partner geht, und ich wußte nicht, was ich ihm antworten sollte.«
 »Sag George und allen anderen, daß ich okay bin. Es geht jeden Tag besser. Du kannst ja hören, wieviel stärker meine Stimme ist«, krächzte ich in die Dämmerung.
 Wir hatten Harrys Auto erreicht, einen drosseleier-blauen Cadillac Coupe de Ville, frisch vom Fließband, und der Anblick des blinkenden Chroms und der kurvigen Kotflügel, die in jedes Varieté-Theater passen würden, lenkte ihn von meinen Problemen ab.
 »Er ist doch eine Schönheit, oder?« fragte er.
 Ich stimmte zu. Er machte die Tür auf und zwängte sich auf den weichgepolsterten Sitz, der so gut roch, daß man hätte hineinbeißen können. »Vielleicht solltest du dir das angewöhnen«, sagte er, indem er eine zerdrückte Packung Lucky Strikes aus seiner Tasche zog und den Zigarettenanzünder in das blinkende Armaturenbrett drückte. »Es würde deinem Hals nicht helfen, aber dir zumindest eine Entschuldigung liefern.«
 Er hielt das glühende Ende an die Zigarette, inhalierte tief und atmete aus. Das Aroma des Tabaks flog mir entgegen, süßer als der Geruch des neuen Leders, stärker als die giftigen Abgase des vorbeifließenden Verkehrs. Ich hielt mich an der babyblauen Tür von Harrys Auto fest, um nicht vornüber zu kippen.
 Weißt du, warum wir kein Geld für Essen haben, Putti? Weil alles in Rauch aufgeht. Dem Rauch deiner dreckigen Zigaretten.
 Der Schmerz verschwand so schnell, wie er gekommen war, aber ich wußte, ich hatte ihn mir nicht eingebildet. Ich stand da in der Dämmerung, schwitzend vor Angst. Dr. Gabor und die anderen Ärzte hatten unrecht. Der Schmerz war zu scharf gewesen, um psychosomatisch zu sein. Es mußte sich um das Symptom einer ernsten Erkrankung handeln.


Ich kam zehn Minuten zu spät zu meiner Verabredung mit Dr. Gabor und schob die Schuld auf Harry.
 »Mein Partner wollte unbedingt noch etwas mit mir besprechen«, sagte ich.
 »Probleme?«
 »Nur geschäftlich.«
 »Kommen Sie mit Ihrem Partner gut aus?«
 Ich nickte.
 »Wie sind Sie dazu gekommen, zusammenzuarbeiten?«
 Wenn man im D.-P.-Lager überhaupt über die Vergangenheit sprach, dann darüber, was gewesen wäre, wenn. Wenn ich heute morgen an der Spitze der Warteschlange gestanden hätte und nicht am Ende. Wenn ich zurückgeblieben wäre, statt vorwärts zu gehen. Wenn ich nicht der erste gewesen wäre, die Hose aufzuknüpfen, als die SS in den Zug kam. Allmählich führten die Wenns zu Theorien. Ich habe überlebt, weil ich vorsichtig war. Ich habe überlebt, weil ich die Chance ergriffen habe. Doch hinter solchen Überzeugungen von der Effektivität gewisser Verhaltensweisen, oder Hand in Hand mit ihnen, stand die Ehrfurcht vor dem Zufall. Der Zufall hatte mich mit Harry Wolfe zusammengebracht – »Wolfe wie das Tier, aber mit einem E am Schluß«, sagte er immer, wenn er sich vorstellte –, aber ich hatte ihn genutzt. Ich meine sie, die Gelegenheit.
 »Harry besaß eine Parzelle Land«, krächzte ich. »Ich hatte ein bißchen Geld gespart und schaute mich nach einem Geschäft um.«
 Das war keine Lüge. Ich hatte Geld gespart, jeden Penny, den ich mit Kellnern und Taxifahren verdient hatte. Aber das war nicht der Grund dafür, daß Harry mich nahm. Er brauchte kein Geld. Er brauchte mich. Das war allerdings nicht mein Verdienst.
 »Er war der erste, mit dem ich in Amerika Freundschaft schloß.«
 Harry war Stammgast in dem Restaurant, in dem ich arbeitete. Das war, bevor er verheiratet war. Er kam drei-, viermal die Woche, gelegentlich mit einem Mädchen oder einem anderen Mann, aber normalerweise war er allein. Er beschäftigte sich mit Papieren, Dokumenten und Broschüren. Ich warf verstohlene Blicke darauf, wenn ich auftrug oder die Teller abräumte. »Handbuch für die staatliche Wohnungsbauverwaltung«, »Vorfertigungsmethoden und Kostenvoranschläge im Wohnungsbau«, »Hypothekenfinanzierung als Schlüssel zur Produktivität«.
 Eines Abends ertappte er mich dabei, wie ich einen Blick auf seine Bücher warf. »Das ist die Zukunft«, sagte er und tippte mit seinem Messer auf die Broschüre. »Die Wohnungsknappheit wird so bald nicht zu Ende sein.«
 Ich nickte und ging, um mich um andere Tische zu kümmern.
 »Seit dem Krieg«, sagte er, als ich zurückkam, »wollen jeder Joe und seine kleine Frau ein eigenes Haus. Genauer gesagt, die Regierung sagt, sie haben das Recht auf Eigentum. Das ist Teil der G. I. Bill of Rights.«
 Ich wußte, was die Bill of Rights war, ich hatte schon angefangen, für meine Staatsbürgerschaftsprüfung zu lernen, obwohl ich frühestens in vier Jahren dazu zugelassen werden würde. Ich kannte also das Gesetz über Landerwerb, aber ich hatte noch nie etwas von dem Gesetz über die Ausbildungsfinanzierung von Kriegsveteranen gehört. Heute kommt mir das seltsam vor.
 »Wissen Sie auch, wo die Leute ihr Haus haben wollen?« sagte Harry, als ich mit seinem Kaffee und einem Stück Kuchen zurückkam. Ich habe mich ihm nicht aufgedrängt, ich habe einfach meinen Job gemacht. »Nicht hier in der Stadt, wo die Kinder aufwachsen würden, ohne zu wissen, wie ein Grashalm aussieht, es sei denn, ihre Eltern schleppen sie zum Prospect Park. Nicht in den Städten, aus denen sie kommen, wo die Häuser alt sind und man viel Arbeit hineinstecken muß und am Ende für eine ganze Familie doch nur ein armseliges Badezimmer mit ungenügender Installation hat. Sie wollen in die Vorstädte. Brandneue, noch nie bewohnte Häuser in funkelnagelneuen Vororten. Wo die Kinder viel Platz zum Spielen haben. Und die kleine Frau eine blitzende neue Küche mit den modernsten Apparaten bekommt. Und wo man sich keine Gedanken über den Wert seines Besitzes machen muß, weil alle Häuser genauso aussehen wie das eigene, und alle Nachbarn sind wie man selbst oder zumindest frei, weiß und einundzwanzig.«
 Ich erzählte ihm, daß ich von Männern namens Levitt gelesen hatte, die so etwas auf Long Island planten. Seine Augen, die ein bißchen zu dicht beieinanderstanden, um Vertrauen zu erwecken, verengten sich, als würde er mich zum ersten Mal wahrnehmen. Ich war nicht einfach nur ein Greenie, der als Bedienung arbeitete. Ich könnte klüger sein, als ich aussah.
 Erinnere dich, was du gesagt hast, als er ankam, Anne. An jenem Morgen saßen wir beim Frühstück. Was für ein langweiliger und schüchterner Lulatsch, von dessen Gesellschaft nicht viel zu erwarten ist.
 Margot! Das habe ich nie gesagt.
 Eine Woche später sagte Harry zu mir, er habe eine zusätzliche Karte für das Spiel der Yankees und der Dodgers im Yankee-Stadion, ob ich Lust hätte mitzukommen. Ich wollte ungern einen ganzen Abend der Arbeit fernbleiben, aber etwas an Harry roch nach günstiger Gelegenheit. Mein Boß sagte immer zu mir, wenn ich so weitermachte, könnte ich mich auf einen Job als Kellner für den Rest meines Lebens verlassen. Ich hätte noch nie ein amerikanisches Baseballspiel gesehen, sagte ich zu Harry, ich ginge sehr gerne hin.
 »Gut«, sagte er. »Aber es ist kein Baseball, es ist Fußball. Mach dir keine Sorgen, Boytschik, das ist ein normaler Fehler, er hätte jedem passieren können.«
 Danach gewöhnte sich Harry an, so lange herumzutrödeln, bis die anderen Gäste weg waren. Dann sagte er, ich solle mir eine Tasse Kaffee einschenken und mir ein Stück Kuchen auf seine Rechnung nehmen und die Beine ein bißchen ausruhen. Man mußte kein Greenie sein und allein in einem Souterrainzimmer wohnen und auf die große Chance warten, um zu sehen, daß Harry Wolfe ein einsamer Mann war. Ich tat also, was er gesagt hatte, und dann unterhielten wir uns. Oder besser, Harry redete, und ich hörte zu. Harry war für mich das, was für Kellner und Taxifahrer, die sich die Zeit dafür nehmen konnten, die Abendschule war. Er war es, der mir beibrachte, daß die G. I. Bill of Rights es Kriegsveteranen ermöglichte, ein College zu besuchen und ein Geschäft anzufangen und, was das Beste war, Häuser zu kaufen oder, wie Harry es nannte, Hauseigentümer zu werden. Ich erfuhr von dem staatlichen Anreiz für Banken, Hypotheken mit einem niedrigen Zinssatz an Kriegsveteranen zu geben, und von der Zusage der Regierung, einen Teil der Schulden zu übernehmen, falls der Veteran seinen Verpflichtungen nicht nachkommen könne. Ich erfuhr von den Eigenheiten der Baugesetze, die Harry die Neigung eines Dachs oder die Dicke einer Wand vorschreiben konnten, und von der Eigennützigkeit der staatlichen Planungsbehörden, die sich mehr für verlockende steuerzahlende Körperschaften als für ehrliche Veteranen interessierten, die Schulen und Abwasserversorgung und andere kostspielige Dienstleistungen benötigten. Ich erfuhr mehr über die Levitts, die Harrys berufliche Idole waren und seine persönlichen Widersacher werden würden. Die Levitts, sagte Harry, seien Juden. Ich registrierte diese Information, reagierte aber nicht darauf. Und das Wichtigste von allem, ich lernte, wie dank dieser Regierungsprogramme die Banken Bauherren Fertigungsvorschüsse anboten, so daß jemand wie Harry – sogar jemand wie ich, fügte Harry als Wink hinzu – kein großes Vermögen brauchte, um ins Geschäft zu kommen.
 Allmählich wurde das Wort wenn zum festen Bestandteil von Harrys Sicherheit, und dann ersetzte das falls das wenn. Es war nicht das aufschlußreiche wenn einer vergangenen Erfahrung, an das sich die D. P.s wie Kletten geklammert hatten, sondern das bedauernde wenn einer verpaßten Gelegenheit. Die Banken würden ihn hinhalten, sagte er. Die Planungsbehörden würden ihm keine Zeit lassen. Jedesmal, wenn er die Architekturplane oder Spezifikationen geändert hatte, um einem Gesetz zu entsprechen, kam irgendein Schweinehund mit einer anderen Vorschrift an, von der er noch nie gehört hatte.
 »Da fragt man sich, wofür wir einen Krieg geführt haben«, sagte Harry eines Abends, als wir die Fulton Street entlanggingen. Der Wind blies scharf und schneidend vom East River her. Eisengitter rasselten vor den Fenstern und geschlossenen Geschäften. Ein ausgemergelter Weihnachtsbaum wuchs aus einer metallenen Mülltonne.
 »Was meinst du damit?«
 »Ich meine, wir haben Millionen Jungs hinübergeschickt, um Hitler zu schlagen, aber niemand rührt einen Finger, um ihn zu Hause zu bekämpfen.«
 »Ihn?«
 »Den Antisemitismus, Boytschik. Judenhaß. Judenhetze. Juden brauchen sich nicht zu bewerben, keine Hunde und Juden, werft diese verdammten jüdischen Christusmörder raus.«
 »Und was ist mit den Levitts? Sie haben Darlehen bekommen. Sie haben die Zustimmung der Planungsbehörde bekommen.« Ich versuchte gleichgültig zu klingen, wie ein Mann, der gegen jede Ungerechtigkeit ist, nicht wie ein Opfer mit einem begründeten Interesse.
 »Das gerade ist das Problem. Die Levitts haben die Hälfte aller Kartoffelfarmen auf Long Island gekauft. Ich möchte zwanzig, dreißig Häuser bauen. Sie sprechen von zwei- oder dreitausend. Vielleicht mehr.«
 Harry unterschätzte seine Helden an jenem Abend. Ihre erste Anlage umfaßte mehr als siebzehntausend Wohneinheiten. Das hätte ich Dr. Gabor erzählen sollen, dann würde er nicht mehr solchen Respekt vor meiner Leistung haben. Aber ich hatte nicht die Absicht, ihm von meiner Vereinbarung mit Harry zu erzählen. Noch nicht einmal meine Frau wußte den wahren Grund, warum wir uns zusammengetan haben.
 »Der Punkt ist«, fuhr Harry fort, »die Levitts machen es schwerer für jemanden wie mich. Die Leute schauen sie an und sagen: ›Oho, die Juden übernehmen die Bauindustrie.‹, ›Paßt auf, die Itzigs kaufen die ganze Region auf.‹ Und dann blocken sie einfach ab.«
 Wir gingen noch ein, zwei Straßen weiter. Ich fragte, ob er sicher sei, sich das nicht nur einzubilden. Er sagte, er wisse genau, wann ihm jemand auf den Kopf schlage. Ich fragte nach den vierzigtausend Quadratmetern in New Jersey, für die er eine Option hatte. Er beschrieb mir noch einmal die Lage. Ich erkundigte mich wieder nach Details, obwohl ich sie alle auswendig kannte. Doch während der ganzen Zeit, in der ich ihn ausfragte, kämpfte ich innerlich mit mir selbst. Ich konnte es nicht tun. Ich hatte kein Recht dazu. Aber andere Leute taten es auch.
 Die Herren aus Frankfurt kommen.
 Kugler wird mit ihnen sprechen müssen.
Kugler ist ihnen nicht gewachsen.
 Kugler ist alles, was wir haben. Es ist jetzt ein arisches Geschäft, denk dran.
 Nein, ich konnte es nicht tun. Es wäre falsch.
 Wir blieben an der Straßenecke stehen und warteten, daß die Ampel grün würde. Ein weiterer Christbaum ragte aus einer weiteren Mülltonne. Silberfäden klammerten sich an den Zweigen fest wie an einen letzten Strohhalm.
 Andererseits würde ich niemandem damit wehtun. Ich würde Harry einen Dienst erweisen. Ich würde für mehr Gerechtigkeit kämpfen. Und für die Juden. Oder für einen Juden. Zumindest würde ich die Hindernisse, die ihm in den Weg gelegt wurden, ausräumen. Je mehr ich darüber nachdachte, um so richtiger schien es mir zu sein. Je mehr ich den Plan in meinem Kopf hin- und herwendete, um so klarer wurde mir, daß er narrensicher war. Wir gingen weiter, Harry gebückt unter der Last seiner Sorgen, ich neben ihm, auf einem weißen Pferd galoppierend, mit einer im Winterwind rasselnden Rüstung.
 »Vielleicht kann ich dir helfen«, sagte ich.
 Er blieb stehen, als ich anfing, ihm den Plan zu erklären. Ich war überrascht, daß ich mich an den Plan erinnerte, den mein Vater und Herr Frank mit den Angestellten ausgearbeitet hatten. So viel anderes hatte ich vergessen. Harry würde eine Aktiengesellschaft gründen, und ich würde einige Aktien mit dem Geld kaufen, das ich schon gespart hatte. Und die V&WConstruction – V für van Pels und W für Wolfe – würde einen nichtjüdischen Partner haben, mich nämlich, der nach außen hin sichtbar wäre, und einen jüdischen, Harry, der, falls nötig, in den Hintergrund treten könnte.
 »Ein Scheißkerl werde ich sein«, wiederholte er immer wieder, als wir im schwachen Neonlicht der Hebrew National Frankfurter standen. »Ich wäre blöd, wenn ich das nicht machen würde.«
 Eine halbe Stunde später, als wir an einem schmierigen Tisch in einem der Nachtrestaurants saßen, sagte er: »Du hättest mich fast getäuscht.« Im Licht der Deckenlampe sah sein stoppeliges Kinn entzündet aus, sein Blick war vorsichtig. Wer konnte ihm einen Vorwurf machen? Ein Mann gibt nicht einfach die Hälfte seines Traums hinweg, ohne noch einmal darüber nachzudenken. Doch ich hatte mir den Plan gründlich überlegt, er konnte unmöglich eine Schwachstelle finden.
 »Womit getäuscht?« fragte ich. »Damit, daß ein Greenie mit einem solchen Plan herausrückt?« Das Wort kam mir nun, da es zu meiner Vergangenheit gehörte, leicht über die Lippen.
 »Nein, ich habe schon immer gewußt, daß du ein schlaues Kerlchen bist. Vielleicht habe ich deshalb gedacht, du wärst ein Jude. Ich habe gedacht, du hättest deinen Namen geändert, aber ich glaube, ich hätte es wissen müssen. Es ist eine Sache, von einem Moscowitz zu einem Miller zu werden, aber van Pels ist zu protzig. Man kann sein neues Leben nicht mit Rabinowitz beginnen wollen, aber dann wird man doch nicht gleich ein Roosevelt. Nicht daß es einen Unterschied macht. Für mich, meine ich.«
 Für ihn machte es keinen Unterschied, aber plötzlich gab es keine jüdischen Witze mehr. »Und der mit den drei Rabbis in einem Hurenhaus…« Es gab keine Anspielungen mehr. »Wenn dieser Kerl glaubt, er kann mich reinlegen wie ein Jude…« Es gab keine Angebereien mehr wie: »Du hättest sehen sollen, wie ich diesen Kerl niedergejudet habe.« Er mochte mich immer noch. Er vertraute mir. Aber er verhielt sich mir gegenüber weniger unbefangen.
 Die Männer, über die er sich beschwert hatte, waren eine andere Sache. Die Banker waren glücklich, Peter van Pels regierungsgesicherte Darlehen zu geben, und die örtlichen Behördenvertreter und Stadträte nahmen meine Anrufe entgegen und steckten meine Abzahlungen ein. Einige von ihnen wunderten sich, wie ich in dieses Chaos in Europa geraten war, aber niemand wollte mir eine Frage stellen. Sie waren erleichtert, einen guten Christen zu finden, der Hitler standgehalten hatte und mit dem man besser zurechtkam als mit manch anderem. Ich diente ihnen als der lebende Beweis dafür, daß sie nichts gegen Ausländer hatten. Ich war, witzelte George Johnson, nachdem er die Papiere für das erste Darlehen unterschrieben hatte, ihr privater Marshall-Plan.
 »Ich hatte Geld zu investieren«, sagte ich zu Dr. Gabor. »Aber es war mehr als das.«
 »Was meinen Sie?«
 »Ich habe immer geschickte Hände gehabt.«
 »Aber Sie hatten sicher mehr zu bieten.«
 »Es war meine Idee, die uns an die Spitze des Wettbewerbs gebracht hat.« Wenn Harry das je vergessen haben sollte, würde ich ihn daran erinnern. Ich war mehr als nur ein Aushängeschild.
 »Welche Idee war das?«
 »Wir bauten ein größeres Haus und verkauften es für denselben Preis. Ohne Abstriche an der Qualität.«
 »Wie haben Sie das geschafft?« Die Eulenaugen betrachteten mich mit Interesse. Er hatte den Respekt des Intellektuellen vor praktischer Erfahrung.
 »Es war einfach«, sagte ich. Es war, wie schon gesagt, so einfach, daß ich erstaunt war, daß vor mir noch niemand auf die Idee gekommen war. Aber es hatte ja auch sonst keiner eine Susannah gehabt. Zumindest nicht damals.
 »Platz innerhalb eines Hauses ist billig. Die Kosten betragen nur ungefähr ein Drittel von den Gesamtkosten pro Quadratmeter. Und mehr Platz verlangt auch keine weiteren Installationen oder elektrische Leitungen oder Fenster. Die anderen haben es inzwischen auch kapiert, aber wir waren die ersten, die es getan haben.«
»Und Sie sagen, die Idee ist Ihnen gekommen?«
»Aus heiterem Himmel«, antwortete ich.
 Genauer gesagt, aus dem Himmelblau von Susannahs Augen, aber Susannah war ein weiteres Thema, das ich nicht vorhatte, mit dem Doktor zu besprechen.
 »Dem Geschäft geht es gut«, fuhr ich fort. »Die Firma ist solide. Was mit meiner Stimme los ist, kann nichts damit zu tun haben.«
 Er beobachtete mich. Der Moment der Neugier war vorbei. Das Gleichgewicht zwischen uns hatte sich wieder verschoben.
 »Haben Sie in der Vergangenheit je psychiatrische Hilfe gesucht, Herr van Pels?«
 Ich schüttelte den Kopf.
 »Nicht einmal, als Sie jene Tremores entwickelten?«
 »Ich wußte, daß der Arzt nicht recht hatte. Das Letzte, was ich wollte, war eine Rückkehr ins D.-P.-Lager.«
 »Was war mit dem Lager? Um eine Einreisegenehmigung zu bekommen, war üblicherweise ein psychologisches Gutachten erforderlich.«
 Er war tatsächlich ein schlauer Teufel. Sie haben es Begutachtung genannt. Ein Hindernisrennen wäre der passendere Ausdruck gewesen. Die psychologische Prüfung war noch hinterhältiger als die physische; da wußte man wenigstens, wonach sie suchten, eine krankhafte Veränderung der Lungen, Spirochäten im Blut. Aber wer wußte schon, hinter was diese Zivilisten mit ihren unverständlichen Titeln – psychiatrischer Sozialarbeiter, Diplomsozialarbeiter, Doktor der Psychologie – her waren? Wer konnte raten, welche Antwort einem die Tür öffnen und welche sie zuschlagen würde? Und wer konnte sich in diesem Büro, in dem SSOffiziere früher ihre Befehle ausgegeben und ihre Unterlagen aufbewahrt hatten, überhaupt auf derartige Fragen konzentrieren? Denn das war der Ort, wo sie ihre Begutachtungen durchführten. Ich habe mich oft gefragt, wer auf die großartige Idee gekommen ist, ein D.-P.-Lager in ehemaligen SS-Baracken unterzubringen. War es ein Spaßvogel mit einem verschrobenen Sinn für Ironie gewesen oder einfach ein Pragmatiker, der einen prima Gebäudekomplex entdeckt hatte? Vielleicht letzteres. Die ganze Operation wurde von der UNRRA geleitet, aber Amerika gab den Ton an.
 Als ich damals das Büro betrat, hatte ich noch das Zusammenschlagen von Hacken in den Ohren. Als ich mich hinsetzte, wo es mir gesagt wurde, hörte ich das gutturale Knurren von Drohungen und das gezischte Geflüster tödlicher Geheimpläne. Doch der Mann, der mir an diesem Morgen am Tisch gegenübersaß, war kein deutscher Offizier. Es war ein amerikanischer Zivilist. STANLEY MINTZ, M. S. W. sagte das Messingschild vor ihm. Er streichelte das Namensschild mit den Fingern, während er mir seine Fragen stellte.
 »Fühlen Sie sich schuldig?«
 »Schuldig?« wiederholte ich.
 »Schuldig.« Mintz nahm seine Finger vom Namensschild, griff nach einem englisch-deutschen Wörterbuch und fing an zu blättern.
 »Ich weiß, was das Wort bedeutet.« Ich erschrak selbst, als ich hörte, wie verärgert meine Stimme klang. Das war ein Luxus, den ich mir nicht erlauben konnte.
 Mintz legte das Wörterbuch wieder hin und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Sie werden nirgendwo hinkommen, wenn Sie so empfindlich sind, junger Mann.«
 Ich antwortete nicht.
 »Also, tun Sie es? Sich schuldig fühlen, meine ich. Dabei ist nichts, wofür man sich schämen müßte. Das ist eine völlig normale Reaktion.«
 Ich starrte sein Namensschild an. Es war ein langes, metallisches Dreieck mit einem breiten Sockel und einer scharfen Spitze. Ich fühlte das Gewicht in der Hand. Ich sah, wie es Mintz' Kopf traf. Das Blut blühte auf wie eine Blume. Mintz' Augen öffneten sich, rund und tot, genau wie die Augen des Mannes in der Scheune.
 Vergessen Sie Schuld, lassen Sie uns über Rache sprechen, hätte ich sagen müssen.
 »Nein«, sagte ich zu Stanley Mintz.
 »Nein«, sagte ich nun auch zu Dr. Gabor. »Ich habe nie psychiatrische Hilfe gesucht. Warum hätte ich das tun sollen?«