FÜNF
Hübsch von Aussehen, das
brauche ich niemandem zu
erzählen, denn wer ihn
kennt, wird das wohl wissen.
Sein Haar ist prachtvoll,
ein dichter,
brauner Lockenwald,
blaugraue Augen…
Geschichten und
Ereignisse aus dem Hinterhaus
von Anne Frank
Warum er (Peter) Mouschi
immer so an sich
drückt, verstehe ich
jetzt auch viel besser.
Er hat natürlich auch ein
Bedürfnis
nach
Zärtlichkeit.
Anne Frank, Tagebuch,
16. Februar 1944
Inzwischen ist ein
Schatten auf mein Glück gefallen.
Ich dachte schon
längst,
daß Margot Peter mehr als
nett findet.
Anne Frank, Tagebuch,
16. Februar 1944
Susannah saß im Wohnzimmer, als ich an diesem
Abend von meinem Termin bei Dr. Gabor nach Hause kam. Ich war nicht
erstaunt, sie zu sehen. Meine Frau und ihre Schwester gehen
gegenseitig in ihren Häusern ein und aus.
»Madeleine ist oben mit den Mädchen«,
sagte sie. »Ich vertreibe mir nur die Zeit. Normans Auto ist in der
Werkstatt, und ich muß ihn abholen.«
Ohne vom Sofa aufzustehen, wo sie mit
einer Zeitschrift auf dem Schoß saß, hielt sie mir ihre Wange zum
Kuß hin. Ich gehorchte. Diese Bewegung war unschuldig, aller
Erinnerungen beraubt, wie so vieles in meinem Leben.
»Wie geht's deiner Stimme?« fragte sie.
»Es hört sich an, als würde es besser.«
Ich hatte nur hallo gesagt, und das in
einem rauhen Flüstern, aber sie ist eine anständige Frau, meine
Schwägerin. Das war es auch, was damals zwischen uns getreten
war.
»Madeleine hat mir von dem Doktor
erzählt«, fuhr sie fort.
Ich hatte mich bereits gefragt, ob
Madeleine ihrer Familie gegenüber Gabor erwähnt hatte. Eigentlich
hatte ich angenommen, daß sie es vor ihrer Mutter, die mich auch
ohne professionelle Diagnose ziemlich absonderlich fand,
geheimhalten würde. Aber ihrer Schwester würde sie es wohl
erzählen, der erfahrenen Psychologin, die einen Ehemann, der mutig
genug war, in die Tiefe seines Wesens hinabzusteigen, bewundern
würde.
»Ich finde, es ist sehr mutig von dir.
Die meisten Männer würden lieber sterben, als zu einem Psychiater
zu gehen.« Sie fuhr sich mit der Hand durch ihre seidigen Haare,
und ich fragte mich, obwohl ich das eigentlich fast nie tue, wie es
gewesen wäre, wenn ich sie geheiratet hätte statt ihre
Schwester.
Wir hatten uns auf einer Party
kennengelernt, ein paar Monate, nachdem Harry und ich Partner
geworden waren. Ich hätte nie den Mut aufgebracht, mich ihr zu
nähern, und wenn ich noch immer als Bedienung und Taxifahrer
gearbeitet hätte, wäre ich auch nicht zu dieser Party gegangen. Als
ich an jenem Abend unter den Strahlenkränzen der Straßenlaternen
den Broadway entlangschritt und das Quietschen der Reifen auf der
nassen Straße hörte, zweifelte ich noch immer. Ich würde niemanden
kennen, außer flüchtig den Mann aus dem Kurs in Immobilienrecht an
der Abendschule, zu dem ich mich endlich entschlossen hatte. Das
Lokal würde voller Studenten sein, überlegte ich, und voller
Kriegsveteranen und fremder Menschen, die entweder wissen wollten,
wer ich war und woher ich kam, oder auch nicht. Ich würde mich
entweder ertappt oder abgelehnt fühlen. Aber der Mann von der
Abendschule hatte gesagt, es würden Mädchen da sein. Jede Menge
Mädchen.
Ich bahnte mir einen Weg in den Raum.
Es war, wie in einen Traum von Reichtum und Fülle einzutauchen. Um
mich herum schimmernde Haare, flatternde Wimpern und Zungen, die
sich zwischen geschminkten Lippen spitzten. Es war so voll, daß ich
mich kaum bewegen konnte, ohne mit einer süßen geschwungenen Hüfte
zu kollidieren oder dem Blick auf junge Brüste ausweichen zu
müssen. Ich hatte das Gefühl, als würde ich ertrinken. Und dann sah
ich sie.
Ich erkannte sie sofort. Sie war das
Mädchen aus der Zollhalle, obwohl ich es ihr nicht sagte. Ich
wollte als Mann von Welt gelten, nicht als ein Immigrant von einem
Schiff.
»Weißt du, was ich dachte, als ich dich
zum ersten Mal gesehen habe?« würde sie mich später fragen, als wir
uns auf dem Goldbrokatsofa im Wohnzimmer ihrer Eltern balgten. Wir
waren so sicher, eine Zukunft zu haben, daß wir uns schon eine
Vergangenheit bauten.
»Was?« keuchte ich, verwirrt ob der
Aufdringlichkeit des Verräters in meiner Hose.
»Daß du anders bist.«
Ich sagte ihr nicht, daß ich gar nicht
anders sein wollte. Wenn sie es auf diese Art aussprach, konnte mir
das nur recht sein. Aber ich erwähnte noch immer nicht, daß ich sie
in der Zollhalle gesehen hatte. Anders war in Ordnung, von mir aus,
alles, nur kein Greenie. Greenie war der Todesstoß, dachte ich
damals.
Um uns herum verliebten sich alle
Leute. Immer verlieben sich alle Leute, aber hier taten sie es auf
eine andere Art und Weise. Während des Krieges hatten sie sich
verliebt, weil es kein Morgen gab. Jetzt verliebten sie sich nicht
nur, weil es ein Morgen gab, sondern auch ein nächstes Jahr und ein
übernächstes.
Wir saßen in dunklen Kinosälen, ihre
weichen Schultern paßten gut unter die Biegung meines Arms, mein
graues Flanellknie – ich habe ja schon gesagt, Kleidung ist die
beste Methode, um sich zu tarnen – preßte sich gegen ihre
Nylonstrumpfhose. Wir gingen durch die Straßen, unsere Finger
ineinander verschränkt zu einem aufbruchsicheren Schloß gegen die
übrige Welt. Wir verkapselten uns in den schalldichten Boxen von
Plattengeschäften und hörten uns die neuesten Langspielplatten an,
sie schwor auf Beethoven und schnalzte mit den Fingern zu Stan
Getz, der mit der Woody Herman Band spielte, während ich ihr die
Magie erklärte, die hinter dreiunddreißig Umdrehungen pro Minute
steckte. Wir taten Dinge, die sie nie zuvor getan hatte, und
fühlten Dinge, von denen wir sicher waren, daß kein anderer auf der
Welt sie je gefühlt hatte, und wir flüsterten gegenseitig unsere
Namen und oh und ja
und bitte, und schließlich, weil sie ein
nettes Mädchen war und das bleiben wollte, bis sie heiratete, auch
nein.
Vater sagt, in
diesen Sachen übernimmt der Mann immer die aktive Rolle und die Frau muß die Grenzen
setzen.
Ich war nun froh, daß sie nein gesagt
hatte. Ich weiß, es gibt Menschen, für die die Vorstellung, mit
zwei Schwestern zu schlafen, reizvoll ist, aber ich gehöre nicht
dazu. Für mich wäre das einfach zu chaotisch gewesen.
Eines Sonntags fuhren wir nach New
Jersey, in dem 39er Chevy, den Harry mir verkauft hatte, nachdem er
dem Händler ein paar hundert Dollar unter dem Tisch zugeschoben
hatte, um einen neuen zu bekommen, frisch vom Fließband. Ich wollte
Susannah die Häuser zeigen, die ich baute.
Als wir die schlammige Baustelle
hinauffuhren, die gespickt war mit rohen Holzverschalungen, die aus
der zerfurchten Erde ragten, stieß sie einen kleinen Schrei aus.
Ich fragte sie, was los sei. Sie sagte, die Szene erinnere sie an
die Fotos von zerbombten Städten, die noch immer wöchentlich die
Ausgaben des Life füllten. Ich hätte damals
wissen müssen, was mir bevorstand. Mein Mädchen leistete sich keine
dieser
Lassen-wir-den-Krieg-hinter-uns-und-leben-wir-Wertlosigkeiten. Ich
machte sie darauf aufmerksam, daß jene Skelette Zerstörung
bedeuteten, diese hier aber Aufbau.
Einmal waren wir über Planken
balanciert, die in den Matsch gelegt worden waren, und standen dann
unter einem unfertigen Dach, durch das man einen metallischen
Himmel sah, allein in der halben Privatsphäre einer
Nullachtfünfzehn-Wohnung. Da wandte sie sich von dem
wolkenverhangenen Frühlingsnachmittag ab und einer rosigen Zukunft
zu.
»Das Sofa kommt dorthin«, sagte sie und
ging in dem zukünftigen Wohnzimmer herum, »und dahin zwei Stühle,
einer für dich, einer für mich.« Sie blieb stehen. »Es gibt keinen
Platz mehr für einen kleinen Tisch am Sofaende. Du wirst ein
Tischchen mit einer guten Lampe brauchen, um die Abendzeitung zu
lesen. Und deine Bücher.« Wie später ihre Schwester auch, konnte
sie sich nicht genug darüber wundern, daß ich nicht nur Dickens und
Thackeray gelesen hatte, sondern auch Goethe und Schiller im
Original, wie sie gern betonte. »Es tut mir leid, dir das zu sagen,
Peter, aber du mußt das Wohnzimmer ein bißchen größer
machen.«
Ich erzählte ihr nicht, daß der
skelettartige Raum die gleiche Größe wie alle Wohnzimmer in den
Häusern vergleichbarer Wohnanlagen hatte. Wenn es zu klein für
Susannah war, würde es eben größer sein müssen. Plötzlich wußte
ich, wie man das hinkriegen könnte, ohne die Kosten zu
erhöhen.
Und jetzt standen wir also in einem der
Wohnzimmer, die eine Folge des damaligen Entschlusses waren. Meine
Schwägerin schaute auf die Uhr, stand auf, strich ihr Kleid glatt
mit der graziösen, selbstverliebten Bewegung einer sich putzenden
Katze, und ich wußte, daß sie jetzt, so wie ich mich einen Moment
vorher gefragt hatte, wie es wäre, mit ihr statt mit ihrer
Schwester verheiratet zu sein, daran dachte, daß sie mir das Herz
gebrochen hatte. Damals hatte ich das fast geglaubt, obwohl ich da
schon gewußt haben müßte, daß keines meiner Organe so zerbrechlich
war.
Es war im Sommer, nachdem sie ihren
Abschluß im Barnard gemacht hatte. Sie lebte im soliden Tudor-Haus
ihrer Eltern an einer baumbewachsenen Straße, nicht weit von meinem
jetzigen Arbeitsplatz, und arbeitete in einem Tagescamp für
Flüchtlingskinder. Ich hatte gesagt, als sie diesen Job annahm, sie
folge wohl einer inneren Stimme oder habe zumindest ein weiches
Herz für solche Kinder.
»Was meinst du damit?« fragte sie, und
da erzählte ich ihr endlich, daß ich sie schon Monate vor der Party
zum ersten Mal gesehen hatte. Ich war inzwischen weit genug von der
Zollhalle entfernt, um mich dem zu stellen, zumindest
teilweise.
»Aber ich war nie dort«, sagte
sie.
»Du mußt es vergessen haben.«
»Ich habe ein bißchen ehrenamtlich für
Hebrew Immigrant Aid Society gearbeitet«, beharrte sie, »aber ich
war nie an den Piers, wenn die Schiffe ankamen.«
Ich beließ es dabei. Das letzte, was
ich wollte, war, mit Susannah zu streiten, obwohl wir an jenem
bewußten Sommerabend dann doch stritten.
Wir waren im Kino gewesen, und weil es
so ein lauer Abend war und ihre Eltern nicht in einem
Vorstadtviertel ohne Bürgersteige wohnten, sondern in einer Stadt,
wo die Menschen noch zu Fuß zur Reinigung und zum
Lebensmittelgeschäft und ins Kino gehen können, gingen wir in jener
Nacht zu Fuß. Wir waren auf dem Heimweg, als sie darauf kam. Über
unseren Köpfen war ein Baldachin aus Eichen und Ulmen und Ahorn mit
Sternenflecken zwischen den Blättern, und an beiden Seiten standen
dunkle Häuser, die in der Sommerhitze träumten. Unsere
Zwillingsschatten erstreckten sich vor unseren Füßen, wurden
länger, wenn wir uns von einer Straßenlaterne entfernten, und
schrumpften und wanderten rückwärts, wenn wir die nächste
erreichten.
»Ich habe heute etwas sehr Seltsames
gehört.« Ihre Stimme war so weich, sie störte die Nacht
kaum.
»Was denn?«
»Ein Mädchen aus dem Tageslager kennt
deinen Partner Harry. Ich glaube, sie mag ihn.«
»Wunderbar«, sagte ich. Ich wollte
Harry glücklich sehen. Ich schuldete ihm viel.
»Ich weiß nicht, ob sie ihn so sehr
mag, aber das war es nicht, was ich seltsam fand.«
»Was war es denn?«
»Harry hat zu ihr gesagt, du wärst kein
Jude.«
Sie hatte noch nicht einmal ihre Stimme
erhoben, doch ich konnte fühlen, wie die Luft zitterte. Wir gingen
noch ein paar Schritte. Die Schatten vor uns wurden blasser, und
neue kamen von hinten.
»Ich sagte ihr, sie müsse ihn
mißverstanden haben.« Ihre Stimme war noch immer nicht lauter,
hatte aber einen hartnäckigen Unterton. Sie hob das Gesicht zu mir.
Direkt über ihrer schmalen Stupsnase, die, was ich damals nicht
wußte, operativ verändert worden war, hatte sich eine einzige Falte
in ihrer samtigen Stirn gebildet.
»Er hat über jemand anderen gesprochen,
nicht wahr?« fragte sie.
»Spielt es eine Rolle?«
Sie ließ meine Hand los. »Sei nicht
dumm, Peter, natürlich spielt es eine Rolle.«
Ich nahm ihre Hand und wollte
weitergehen, aber sie blieb stehen. »Willst du damit sagen, daß du
kein Jude bist?«
»Ich sage gar nichts. Du bist, Harry
ist und das Mädchen im Tageslager.«
Sie zog ihre Hand aus meiner. »Das ist
kein Spaß.«
»Natürlich ist es einer.«
Sie nahm meine Hand, und wir gingen
weiter. »Gott sei Dank. Für eine Minute hast du mich
beunruhigt.«
Wir liefen schweigend nebeneinander
her, versuchten, unsere Schatten einzuholen.
»Trotzdem denke ich, daß du über so
etwas nicht spaßen solltest. Auch Harry nicht.«
Wir gingen weiter. Ich sagte noch immer
nichts. Sie blieb stehen. »Es ist Spaß, nicht wahr?«
Ich wandte mich ihr zu. Wir standen
genau zwischen zwei Straßenlampen, und ihr Gesicht lag im Schatten.
Ich hoffte, meines auch. »Ich finde es seltsam, daß dir das so
wichtig ist«, sagte ich.
»Selbstverständlich ist es
wichtig.«
»Ich bin dieselbe Person, so oder
so.«
»Das ist nicht der Punkt.«
»Was ist der Punkt?«
»Warum hast du es mir nicht
gesagt?«
»Was soll ich dir gesagt
haben?«
»Daß du nicht…« Sie hielt inne. »Peter,
nimmst du mich auf den Arm? Wenn das so ist, werde ich dir das nie
verzeihen.«
»Ich wette, du tust es doch«, sagte ich
und griff nach ihr, doch sie wich einen Schritt zurück.
»Sag's mir, bist du oder bist du
nicht.« Nun störte ihre Stimme den Frieden der baumgesäumten
stillen Straße.
Ich versuchte weiterzugehen, aber sie
blieb wie angewurzelt stehen. »Sag mir die Wahrheit,
Peter.«
Alles, was ich ihr hätte sagen können,
war meine Wahrheit. Ich liebte sie, aber ich liebte die eigene Haut
noch mehr. Wenn sie das nächste Mal kämen, würde ich nicht da
sein.
»Ich bin nicht.«
Ihr Einatmen klang wie der Wind in den
Blättern über uns.
»Es macht keinen Unterschied.« Ich
streckte die Hand nach ihr aus. Sie wich wieder zurück. »Ich würde
mich nie in deine Glaubensfragen einmischen. Ich werde sogar die
Kinder wie Juden aufziehen«, versprach ich, obwohl ich wußte, daß
ich das nicht tun würde. Das nächste Mal, wenn sie kamen, würden
meine Kinder ebenfalls nicht da sein. Ich konnte nichts an der
Tatsache ändern, daß sie eine jüdische Mutter hätten. Ich hatte nie
vorgehabt, mich in eine Jüdin zu verlieben. Bestimmt hatte ich mich
nicht in sie verliebt, weil sie eine Jüdin war, egal, was Dr. Gabor
glaubte. Aber nach unserer Hochzeit, wenn wir Kinder hätten, würde
ich einen Weg finden, um die Spuren zu verwischen. Doch das sagte
ich ihr zu diesem Zeitpunkt nicht.
Sie ging weiter, mit abgewandtem Kopf,
mit kräftigen Schultern, ihre hohen Absätze klapperten in kurzen,
wütenden Schritten über das Pflaster. Die hohen Absätze dehnten
ihre Waden, und als sie von mir wegging, stachen mir diese Muskeln,
gespannt wie ein Bogen, direkt ins Herz.
»Ich kann dich nicht mehr sehen«, sagte
sie. »Es tut mir leid, aber ich kann es einfach nicht.«
Ich verlängerte die Schritte, um sie
einzuholen. »Das ist doch lächerlich.«
»Du verstehst das nicht.«
»Nein, und ich habe auch die
Rassengesetze der Nazis nicht verstanden, die eine Verbindung
zwischen Juden und Nichtjuden verboten haben.«
»Das ist schrecklich, was du da sagst.«
»Vielleicht, aber es ist die Wahrheit.«
Sie blieb stehen und drehte sich zu mir
um. »Ich würde meinen Eltern das Herz brechen.«
»Deine Eltern mögen mich«, sagte ich,
obwohl ich wußte, daß dies nur zur Hälfte stimmte. Ihr Vater mochte
mich. Ihre Mutter, wie ich schon sagte, war nicht so leicht zu
gewinnen. Einige Cousins und Kusinen nach dem Krieg herüber nach
Amerika zu holen war eine Sache, aber eine ganz andere war es, die
Tochter, die erstgeborene, ein schönes Mädchen, ein kluges Mädchen,
ein Mädchen, das jeden Mann hätte haben können, einen von jenen
heiraten zu lassen.
»Ich kann es nicht tun. Ich kann keinen
Nichtjuden heiraten.«
Ich stand gefangen in einem
düster-weißen Lichtkreis. Sogar wenn ich ihr die Wahrheit erzählte,
sogar wenn sie mir glaubte, würde es alles nur noch schlimmer
machen. Jetzt war ich einfach ein Nichtjude, jemand, den zu
heiraten für sie nicht in Frage kam. Wenn ich die Wahrheit gestand,
wäre ich ein Jude, der versagt hatte, jemand, den sie nur verachten
könnte.
Jetzt weinte sie. »Ich kann es nicht
ändern, Peter«, sagte sie und bot mir ihr tränenüberströmtes
Gesicht dar. »Vielleicht hätte ich es früher gekonnt, vor dem
Krieg. Damals schien das nicht so wichtig zu sein. Aber jetzt ist
es das.« Sie zog ein Taschentuch aus ihrer Tasche und putzte ihre
süße, operativ korrigierte Nase. »Hitler hat eine Jüdin aus mir
gemacht.«
Was für ein Zusammentreffen, hätte ich
am liebsten laut in die Nacht geschrien und all jene friedlich
schlummernden Nachbarn geweckt. Dasselbe hat er mit mir
getan.
7. Januar 1941: Juden dürfen keine Kinos mehr
besuchen.
15. April 1941: Juden müssen ihre
Rundfunkempfänger abgeben.
31. Mai 1941: Juden dürfen kein Schwimmbad
und keine öffentlichen Parks mehr benutzen.
15. September 1941: Juden dürfen keine Zoos,
Cafés,
Restaurants, Hotels, Pensionen,
Theater, Kabaretts, Konzerte, Bibliotheken und Lesesäle mehr
besuchen.
23. Januar 1942: Juden dürfen keine
Motorräder mehr benutzen.
29. Mai 1942: Juden dürfen nicht mehr
angeln.
6. Juli 1942: Juden dürfen keine Telefone
benutzen.
Er hat aus uns allen Juden gemacht, den
gläubigen und den zweifelnden, den religiösen und den säkularen,
aus den Menschen mit zwei jüdischen Elternteilen und folglich vier
jüdischen Großeltern, also den hundertprozentigen, bis zu jenen, in
deren Adern nur ein dünnes Rinnsal jüdischen Bluts von irgendeinem
halbvergessenen Vorfahren floß. Aber hier in Amerika war alles
anders. Hier konnte man so tun, als gehöre man zu den Fettaugen auf
der Suppe. Hier konnte ein Mädchen, dessen schimmerndes Haar nie
kahl geschoren, dessen zartes Fleisch nie tätowiert, dessen
blasser, gepflegter Körper nie in den Dreck geworfen worden war, um
einem Offizier als Trittfläche zu dienen, damit er sich nicht die
frisch polierten Stiefel schmutzig machte, einfach behaupten,
Hitler hätte aus ihr ebenfalls eine Jüdin gemacht. Während ich da
auf dieser geputzten Straße stand und ihr nachschaute, wie sie sich
von mir entfernte, glaubte ich endlich an das auserwählte Volk.
Aber es waren nicht die Juden.
Ihre Schwester Madeleine rief mich am
nächsten Tag an. Ich hatte nie mit ihr telefoniert oder wenn, dann
hatte ich nach Susannah gefragt, und Madeleines Stimme war mir nie
aufgefallen. Sie war so dick und füllig wie Schokolade, nicht die
amerikanische Schokolade von Hershey Bars and Kisses, sondern eine
dunklere, reichhaltigere Substanz, an die sich meine
Geschmacksnerven aus meiner Kindheit zu erinnern meinten, aus einer
fernen, damals noch sicheren Kindheit. Sie sagte, daß ich, wenn es
mir nur halb so schlecht ginge wie Susannah, ein bißchen
Aufmunterung brauchen könne, und schlug vor, sie würde mit mir
ausgehen und mich betrunken machen. Es war nicht gerade ein
Vorschlag, den man von einem netten Mädchen erwarten würde, und ich
war überrascht und ein wenig gekränkt, aber ich vergab ihr. Ich
begann schon damit, die Gefolgschaft zu übertragen. Eigentlich
mußte ich sie noch nicht einmal übertragen. Schon am ersten Abend,
als Susannah mich mit zu sich nach Hause nahm, hatte ich mich in
die ganze Familie verliebt. Sogar noch davor. Ich war ihnen
verfallen, seit ich an jenem Morgen ihr Lächeln in der Zollhalle
gesehen hatte, egal, was sie später sagte, als ich mir die Familie
vorgestellt hatte, die sie in all diesen Jahren angelächelt
hatte.
Madeleine und ich heirateten im Sommer
darauf, direkt nach ihrem Abschlußexamen. Es war ihr gleichgültig,
daß ich kein Jude war. Hitler, sagte sie, habe eine Atheistin aus
ihr gemacht.
Was das Geheimnis in meiner Hose
betraf, hatte ich recht mit der Annahme, daß ein nettes Mädchen
nichts wußte. Wir waren schon drei Monate verheiratet, als sie
entdeckte, daß ich beschnitten war. Bis dahin wußte ich bereits,
daß in Amerika, anders als in Europa, auch manche Nichtjuden
beschnitten waren. Ich erzählte ihr, meine Eltern wären auf ihrer
Hochzeitsreise in Amerika gewesen, und weil ich hier empfangen
worden war, hätten sie beschlossen, den örtlichen Gepflogenheiten
ihren Tribut zu zollen. Ich hatte nie über meinen Vater oder meine
Mutter gesprochen, und diese Geschichte gefiel ihr.
»Sag Madeleine, ich werde sie morgen
anrufen«, sagte Susannah nun. Sie stellte sich auf die
Zehenspitzen, um mir einen Abschiedskuß auf die Wange zu geben, und
plötzlich wußte ich die Antwort auf meine vergebliche
Frage.
Wenn ich sie geheiratet hätte, statt
ihrer Schwester, mit der sie in einer lebenslangen, liebevollen
Rivalität verbunden war, wäre der Unterschied nur gering gewesen.
Das heißt aber nicht, daß ich meine Frau nicht liebte.