FÜNF





Hübsch von Aussehen, das brauche ich niemandem zu
erzählen, denn wer ihn kennt, wird das wohl wissen.
Sein Haar ist prachtvoll, ein dichter,
brauner Lockenwald, blaugraue Augen…
Geschichten und Ereignisse aus dem Hinterhaus
von Anne Frank

Warum er (Peter) Mouschi immer so an sich
drückt, verstehe ich jetzt auch viel besser.
Er hat natürlich auch ein Bedürfnis
nach Zärtlichkeit.
Anne Frank, Tagebuch, 16. Februar 1944

Inzwischen ist ein Schatten auf mein Glück gefallen.
Ich dachte schon längst,
daß Margot Peter mehr als nett findet.
Anne Frank, Tagebuch, 16. Februar 1944


Susannah saß im Wohnzimmer, als ich an diesem Abend von meinem Termin bei Dr. Gabor nach Hause kam. Ich war nicht erstaunt, sie zu sehen. Meine Frau und ihre Schwester gehen gegenseitig in ihren Häusern ein und aus.
 »Madeleine ist oben mit den Mädchen«, sagte sie. »Ich vertreibe mir nur die Zeit. Normans Auto ist in der Werkstatt, und ich muß ihn abholen.«
 Ohne vom Sofa aufzustehen, wo sie mit einer Zeitschrift auf dem Schoß saß, hielt sie mir ihre Wange zum Kuß hin. Ich gehorchte. Diese Bewegung war unschuldig, aller Erinnerungen beraubt, wie so vieles in meinem Leben.
 »Wie geht's deiner Stimme?« fragte sie. »Es hört sich an, als würde es besser.«
 Ich hatte nur hallo gesagt, und das in einem rauhen Flüstern, aber sie ist eine anständige Frau, meine Schwägerin. Das war es auch, was damals zwischen uns getreten war.
 »Madeleine hat mir von dem Doktor erzählt«, fuhr sie fort.
 Ich hatte mich bereits gefragt, ob Madeleine ihrer Familie gegenüber Gabor erwähnt hatte. Eigentlich hatte ich angenommen, daß sie es vor ihrer Mutter, die mich auch ohne professionelle Diagnose ziemlich absonderlich fand, geheimhalten würde. Aber ihrer Schwester würde sie es wohl erzählen, der erfahrenen Psychologin, die einen Ehemann, der mutig genug war, in die Tiefe seines Wesens hinabzusteigen, bewundern würde.
 »Ich finde, es ist sehr mutig von dir. Die meisten Männer würden lieber sterben, als zu einem Psychiater zu gehen.« Sie fuhr sich mit der Hand durch ihre seidigen Haare, und ich fragte mich, obwohl ich das eigentlich fast nie tue, wie es gewesen wäre, wenn ich sie geheiratet hätte statt ihre Schwester.
 Wir hatten uns auf einer Party kennengelernt, ein paar Monate, nachdem Harry und ich Partner geworden waren. Ich hätte nie den Mut aufgebracht, mich ihr zu nähern, und wenn ich noch immer als Bedienung und Taxifahrer gearbeitet hätte, wäre ich auch nicht zu dieser Party gegangen. Als ich an jenem Abend unter den Strahlenkränzen der Straßenlaternen den Broadway entlangschritt und das Quietschen der Reifen auf der nassen Straße hörte, zweifelte ich noch immer. Ich würde niemanden kennen, außer flüchtig den Mann aus dem Kurs in Immobilienrecht an der Abendschule, zu dem ich mich endlich entschlossen hatte. Das Lokal würde voller Studenten sein, überlegte ich, und voller Kriegsveteranen und fremder Menschen, die entweder wissen wollten, wer ich war und woher ich kam, oder auch nicht. Ich würde mich entweder ertappt oder abgelehnt fühlen. Aber der Mann von der Abendschule hatte gesagt, es würden Mädchen da sein. Jede Menge Mädchen.
 Ich bahnte mir einen Weg in den Raum. Es war, wie in einen Traum von Reichtum und Fülle einzutauchen. Um mich herum schimmernde Haare, flatternde Wimpern und Zungen, die sich zwischen geschminkten Lippen spitzten. Es war so voll, daß ich mich kaum bewegen konnte, ohne mit einer süßen geschwungenen Hüfte zu kollidieren oder dem Blick auf junge Brüste ausweichen zu müssen. Ich hatte das Gefühl, als würde ich ertrinken. Und dann sah ich sie.
 Ich erkannte sie sofort. Sie war das Mädchen aus der Zollhalle, obwohl ich es ihr nicht sagte. Ich wollte als Mann von Welt gelten, nicht als ein Immigrant von einem Schiff.
 »Weißt du, was ich dachte, als ich dich zum ersten Mal gesehen habe?« würde sie mich später fragen, als wir uns auf dem Goldbrokatsofa im Wohnzimmer ihrer Eltern balgten. Wir waren so sicher, eine Zukunft zu haben, daß wir uns schon eine Vergangenheit bauten.
 »Was?« keuchte ich, verwirrt ob der Aufdringlichkeit des Verräters in meiner Hose.
 »Daß du anders bist.«
 Ich sagte ihr nicht, daß ich gar nicht anders sein wollte. Wenn sie es auf diese Art aussprach, konnte mir das nur recht sein. Aber ich erwähnte noch immer nicht, daß ich sie in der Zollhalle gesehen hatte. Anders war in Ordnung, von mir aus, alles, nur kein Greenie. Greenie war der Todesstoß, dachte ich damals.
 Um uns herum verliebten sich alle Leute. Immer verlieben sich alle Leute, aber hier taten sie es auf eine andere Art und Weise. Während des Krieges hatten sie sich verliebt, weil es kein Morgen gab. Jetzt verliebten sie sich nicht nur, weil es ein Morgen gab, sondern auch ein nächstes Jahr und ein übernächstes.
 Wir saßen in dunklen Kinosälen, ihre weichen Schultern paßten gut unter die Biegung meines Arms, mein graues Flanellknie – ich habe ja schon gesagt, Kleidung ist die beste Methode, um sich zu tarnen – preßte sich gegen ihre Nylonstrumpfhose. Wir gingen durch die Straßen, unsere Finger ineinander verschränkt zu einem aufbruchsicheren Schloß gegen die übrige Welt. Wir verkapselten uns in den schalldichten Boxen von Plattengeschäften und hörten uns die neuesten Langspielplatten an, sie schwor auf Beethoven und schnalzte mit den Fingern zu Stan Getz, der mit der Woody Herman Band spielte, während ich ihr die Magie erklärte, die hinter dreiunddreißig Umdrehungen pro Minute steckte. Wir taten Dinge, die sie nie zuvor getan hatte, und fühlten Dinge, von denen wir sicher waren, daß kein anderer auf der Welt sie je gefühlt hatte, und wir flüsterten gegenseitig unsere Namen und oh und ja und bitte, und schließlich, weil sie ein nettes Mädchen war und das bleiben wollte, bis sie heiratete, auch nein.
 Vater sagt, in diesen Sachen übernimmt der Mann immer die aktive Rolle und die Frau muß die Grenzen setzen.
 Ich war nun froh, daß sie nein gesagt hatte. Ich weiß, es gibt Menschen, für die die Vorstellung, mit zwei Schwestern zu schlafen, reizvoll ist, aber ich gehöre nicht dazu. Für mich wäre das einfach zu chaotisch gewesen.
 Eines Sonntags fuhren wir nach New Jersey, in dem 39er Chevy, den Harry mir verkauft hatte, nachdem er dem Händler ein paar hundert Dollar unter dem Tisch zugeschoben hatte, um einen neuen zu bekommen, frisch vom Fließband. Ich wollte Susannah die Häuser zeigen, die ich baute.
 Als wir die schlammige Baustelle hinauffuhren, die gespickt war mit rohen Holzverschalungen, die aus der zerfurchten Erde ragten, stieß sie einen kleinen Schrei aus. Ich fragte sie, was los sei. Sie sagte, die Szene erinnere sie an die Fotos von zerbombten Städten, die noch immer wöchentlich die Ausgaben des Life füllten. Ich hätte damals wissen müssen, was mir bevorstand. Mein Mädchen leistete sich keine dieser Lassen-wir-den-Krieg-hinter-uns-und-leben-wir-Wertlosigkeiten. Ich machte sie darauf aufmerksam, daß jene Skelette Zerstörung bedeuteten, diese hier aber Aufbau.
 Einmal waren wir über Planken balanciert, die in den Matsch gelegt worden waren, und standen dann unter einem unfertigen Dach, durch das man einen metallischen Himmel sah, allein in der halben Privatsphäre einer Nullachtfünfzehn-Wohnung. Da wandte sie sich von dem wolkenverhangenen Frühlingsnachmittag ab und einer rosigen Zukunft zu.
 »Das Sofa kommt dorthin«, sagte sie und ging in dem zukünftigen Wohnzimmer herum, »und dahin zwei Stühle, einer für dich, einer für mich.« Sie blieb stehen. »Es gibt keinen Platz mehr für einen kleinen Tisch am Sofaende. Du wirst ein Tischchen mit einer guten Lampe brauchen, um die Abendzeitung zu lesen. Und deine Bücher.« Wie später ihre Schwester auch, konnte sie sich nicht genug darüber wundern, daß ich nicht nur Dickens und Thackeray gelesen hatte, sondern auch Goethe und Schiller im Original, wie sie gern betonte. »Es tut mir leid, dir das zu sagen, Peter, aber du mußt das Wohnzimmer ein bißchen größer machen.«
 Ich erzählte ihr nicht, daß der skelettartige Raum die gleiche Größe wie alle Wohnzimmer in den Häusern vergleichbarer Wohnanlagen hatte. Wenn es zu klein für Susannah war, würde es eben größer sein müssen. Plötzlich wußte ich, wie man das hinkriegen könnte, ohne die Kosten zu erhöhen.
 Und jetzt standen wir also in einem der Wohnzimmer, die eine Folge des damaligen Entschlusses waren. Meine Schwägerin schaute auf die Uhr, stand auf, strich ihr Kleid glatt mit der graziösen, selbstverliebten Bewegung einer sich putzenden Katze, und ich wußte, daß sie jetzt, so wie ich mich einen Moment vorher gefragt hatte, wie es wäre, mit ihr statt mit ihrer Schwester verheiratet zu sein, daran dachte, daß sie mir das Herz gebrochen hatte. Damals hatte ich das fast geglaubt, obwohl ich da schon gewußt haben müßte, daß keines meiner Organe so zerbrechlich war.
 Es war im Sommer, nachdem sie ihren Abschluß im Barnard gemacht hatte. Sie lebte im soliden Tudor-Haus ihrer Eltern an einer baumbewachsenen Straße, nicht weit von meinem jetzigen Arbeitsplatz, und arbeitete in einem Tagescamp für Flüchtlingskinder. Ich hatte gesagt, als sie diesen Job annahm, sie folge wohl einer inneren Stimme oder habe zumindest ein weiches Herz für solche Kinder.
 »Was meinst du damit?« fragte sie, und da erzählte ich ihr endlich, daß ich sie schon Monate vor der Party zum ersten Mal gesehen hatte. Ich war inzwischen weit genug von der Zollhalle entfernt, um mich dem zu stellen, zumindest teilweise.
 »Aber ich war nie dort«, sagte sie.
 »Du mußt es vergessen haben.«
 »Ich habe ein bißchen ehrenamtlich für Hebrew Immigrant Aid Society gearbeitet«, beharrte sie, »aber ich war nie an den Piers, wenn die Schiffe ankamen.«
 Ich beließ es dabei. Das letzte, was ich wollte, war, mit Susannah zu streiten, obwohl wir an jenem bewußten Sommerabend dann doch stritten.
 Wir waren im Kino gewesen, und weil es so ein lauer Abend war und ihre Eltern nicht in einem Vorstadtviertel ohne Bürgersteige wohnten, sondern in einer Stadt, wo die Menschen noch zu Fuß zur Reinigung und zum Lebensmittelgeschäft und ins Kino gehen können, gingen wir in jener Nacht zu Fuß. Wir waren auf dem Heimweg, als sie darauf kam. Über unseren Köpfen war ein Baldachin aus Eichen und Ulmen und Ahorn mit Sternenflecken zwischen den Blättern, und an beiden Seiten standen dunkle Häuser, die in der Sommerhitze träumten. Unsere Zwillingsschatten erstreckten sich vor unseren Füßen, wurden länger, wenn wir uns von einer Straßenlaterne entfernten, und schrumpften und wanderten rückwärts, wenn wir die nächste erreichten.
 »Ich habe heute etwas sehr Seltsames gehört.« Ihre Stimme war so weich, sie störte die Nacht kaum.
 »Was denn?«
 »Ein Mädchen aus dem Tageslager kennt deinen Partner Harry. Ich glaube, sie mag ihn.«
 »Wunderbar«, sagte ich. Ich wollte Harry glücklich sehen. Ich schuldete ihm viel.
 »Ich weiß nicht, ob sie ihn so sehr mag, aber das war es nicht, was ich seltsam fand.«
 »Was war es denn?«
 »Harry hat zu ihr gesagt, du wärst kein Jude.«
 Sie hatte noch nicht einmal ihre Stimme erhoben, doch ich konnte fühlen, wie die Luft zitterte. Wir gingen noch ein paar Schritte. Die Schatten vor uns wurden blasser, und neue kamen von hinten.
 »Ich sagte ihr, sie müsse ihn mißverstanden haben.« Ihre Stimme war noch immer nicht lauter, hatte aber einen hartnäckigen Unterton. Sie hob das Gesicht zu mir. Direkt über ihrer schmalen Stupsnase, die, was ich damals nicht wußte, operativ verändert worden war, hatte sich eine einzige Falte in ihrer samtigen Stirn gebildet.
 »Er hat über jemand anderen gesprochen, nicht wahr?« fragte sie.
»Spielt es eine Rolle?«
 Sie ließ meine Hand los. »Sei nicht dumm, Peter, natürlich spielt es eine Rolle.«
 Ich nahm ihre Hand und wollte weitergehen, aber sie blieb stehen. »Willst du damit sagen, daß du kein Jude bist?«
 »Ich sage gar nichts. Du bist, Harry ist und das Mädchen im Tageslager.«
 Sie zog ihre Hand aus meiner. »Das ist kein Spaß.«
 »Natürlich ist es einer.«
 Sie nahm meine Hand, und wir gingen weiter. »Gott sei Dank. Für eine Minute hast du mich beunruhigt.«
 Wir liefen schweigend nebeneinander her, versuchten, unsere Schatten einzuholen.
 »Trotzdem denke ich, daß du über so etwas nicht spaßen solltest. Auch Harry nicht.«
 Wir gingen weiter. Ich sagte noch immer nichts. Sie blieb stehen. »Es ist Spaß, nicht wahr?«
 Ich wandte mich ihr zu. Wir standen genau zwischen zwei Straßenlampen, und ihr Gesicht lag im Schatten. Ich hoffte, meines auch. »Ich finde es seltsam, daß dir das so wichtig ist«, sagte ich.
 »Selbstverständlich ist es wichtig.«
 »Ich bin dieselbe Person, so oder so.«
 »Das ist nicht der Punkt.«
 »Was ist der Punkt?«
 »Warum hast du es mir nicht gesagt?«
 »Was soll ich dir gesagt haben?«
 »Daß du nicht…« Sie hielt inne. »Peter, nimmst du mich auf den Arm? Wenn das so ist, werde ich dir das nie verzeihen.«
 »Ich wette, du tust es doch«, sagte ich und griff nach ihr, doch sie wich einen Schritt zurück.
 »Sag's mir, bist du oder bist du nicht.« Nun störte ihre Stimme den Frieden der baumgesäumten stillen Straße.
 Ich versuchte weiterzugehen, aber sie blieb wie angewurzelt stehen. »Sag mir die Wahrheit, Peter.«
 Alles, was ich ihr hätte sagen können, war meine Wahrheit. Ich liebte sie, aber ich liebte die eigene Haut noch mehr. Wenn sie das nächste Mal kämen, würde ich nicht da sein.
 »Ich bin nicht.«
 Ihr Einatmen klang wie der Wind in den Blättern über uns.
 »Es macht keinen Unterschied.« Ich streckte die Hand nach ihr aus. Sie wich wieder zurück. »Ich würde mich nie in deine Glaubensfragen einmischen. Ich werde sogar die Kinder wie Juden aufziehen«, versprach ich, obwohl ich wußte, daß ich das nicht tun würde. Das nächste Mal, wenn sie kamen, würden meine Kinder ebenfalls nicht da sein. Ich konnte nichts an der Tatsache ändern, daß sie eine jüdische Mutter hätten. Ich hatte nie vorgehabt, mich in eine Jüdin zu verlieben. Bestimmt hatte ich mich nicht in sie verliebt, weil sie eine Jüdin war, egal, was Dr. Gabor glaubte. Aber nach unserer Hochzeit, wenn wir Kinder hätten, würde ich einen Weg finden, um die Spuren zu verwischen. Doch das sagte ich ihr zu diesem Zeitpunkt nicht.
 Sie ging weiter, mit abgewandtem Kopf, mit kräftigen Schultern, ihre hohen Absätze klapperten in kurzen, wütenden Schritten über das Pflaster. Die hohen Absätze dehnten ihre Waden, und als sie von mir wegging, stachen mir diese Muskeln, gespannt wie ein Bogen, direkt ins Herz.
 »Ich kann dich nicht mehr sehen«, sagte sie. »Es tut mir leid, aber ich kann es einfach nicht.«
 Ich verlängerte die Schritte, um sie einzuholen. »Das ist doch lächerlich.«
 »Du verstehst das nicht.«
 »Nein, und ich habe auch die Rassengesetze der Nazis nicht verstanden, die eine Verbindung zwischen Juden und Nichtjuden verboten haben.«
»Das ist schrecklich, was du da sagst.«
»Vielleicht, aber es ist die Wahrheit.«
 Sie blieb stehen und drehte sich zu mir um. »Ich würde meinen Eltern das Herz brechen.«
 »Deine Eltern mögen mich«, sagte ich, obwohl ich wußte, daß dies nur zur Hälfte stimmte. Ihr Vater mochte mich. Ihre Mutter, wie ich schon sagte, war nicht so leicht zu gewinnen. Einige Cousins und Kusinen nach dem Krieg herüber nach Amerika zu holen war eine Sache, aber eine ganz andere war es, die Tochter, die erstgeborene, ein schönes Mädchen, ein kluges Mädchen, ein Mädchen, das jeden Mann hätte haben können, einen von jenen heiraten zu lassen.
 »Ich kann es nicht tun. Ich kann keinen Nichtjuden heiraten.«
 Ich stand gefangen in einem düster-weißen Lichtkreis. Sogar wenn ich ihr die Wahrheit erzählte, sogar wenn sie mir glaubte, würde es alles nur noch schlimmer machen. Jetzt war ich einfach ein Nichtjude, jemand, den zu heiraten für sie nicht in Frage kam. Wenn ich die Wahrheit gestand, wäre ich ein Jude, der versagt hatte, jemand, den sie nur verachten könnte.
 Jetzt weinte sie. »Ich kann es nicht ändern, Peter«, sagte sie und bot mir ihr tränenüberströmtes Gesicht dar. »Vielleicht hätte ich es früher gekonnt, vor dem Krieg. Damals schien das nicht so wichtig zu sein. Aber jetzt ist es das.« Sie zog ein Taschentuch aus ihrer Tasche und putzte ihre süße, operativ korrigierte Nase. »Hitler hat eine Jüdin aus mir gemacht.«
 Was für ein Zusammentreffen, hätte ich am liebsten laut in die Nacht geschrien und all jene friedlich schlummernden Nachbarn geweckt. Dasselbe hat er mit mir getan.
7. Januar 1941: Juden dürfen keine Kinos mehr besuchen.
15. April 1941: Juden müssen ihre Rundfunkempfänger abgeben.
31. Mai 1941: Juden dürfen kein Schwimmbad und keine öffentlichen Parks mehr benutzen.
15. September 1941: Juden dürfen keine Zoos, Cafés,
 Restaurants, Hotels, Pensionen, Theater, Kabaretts, Konzerte, Bibliotheken und Lesesäle mehr besuchen.
23. Januar 1942: Juden dürfen keine Motorräder mehr benutzen.
29. Mai 1942: Juden dürfen nicht mehr angeln.
6. Juli 1942: Juden dürfen keine Telefone benutzen.
 Er hat aus uns allen Juden gemacht, den gläubigen und den zweifelnden, den religiösen und den säkularen, aus den Menschen mit zwei jüdischen Elternteilen und folglich vier jüdischen Großeltern, also den hundertprozentigen, bis zu jenen, in deren Adern nur ein dünnes Rinnsal jüdischen Bluts von irgendeinem halbvergessenen Vorfahren floß. Aber hier in Amerika war alles anders. Hier konnte man so tun, als gehöre man zu den Fettaugen auf der Suppe. Hier konnte ein Mädchen, dessen schimmerndes Haar nie kahl geschoren, dessen zartes Fleisch nie tätowiert, dessen blasser, gepflegter Körper nie in den Dreck geworfen worden war, um einem Offizier als Trittfläche zu dienen, damit er sich nicht die frisch polierten Stiefel schmutzig machte, einfach behaupten, Hitler hätte aus ihr ebenfalls eine Jüdin gemacht. Während ich da auf dieser geputzten Straße stand und ihr nachschaute, wie sie sich von mir entfernte, glaubte ich endlich an das auserwählte Volk. Aber es waren nicht die Juden.
 Ihre Schwester Madeleine rief mich am nächsten Tag an. Ich hatte nie mit ihr telefoniert oder wenn, dann hatte ich nach Susannah gefragt, und Madeleines Stimme war mir nie aufgefallen. Sie war so dick und füllig wie Schokolade, nicht die amerikanische Schokolade von Hershey Bars and Kisses, sondern eine dunklere, reichhaltigere Substanz, an die sich meine Geschmacksnerven aus meiner Kindheit zu erinnern meinten, aus einer fernen, damals noch sicheren Kindheit. Sie sagte, daß ich, wenn es mir nur halb so schlecht ginge wie Susannah, ein bißchen Aufmunterung brauchen könne, und schlug vor, sie würde mit mir ausgehen und mich betrunken machen. Es war nicht gerade ein Vorschlag, den man von einem netten Mädchen erwarten würde, und ich war überrascht und ein wenig gekränkt, aber ich vergab ihr. Ich begann schon damit, die Gefolgschaft zu übertragen. Eigentlich mußte ich sie noch nicht einmal übertragen. Schon am ersten Abend, als Susannah mich mit zu sich nach Hause nahm, hatte ich mich in die ganze Familie verliebt. Sogar noch davor. Ich war ihnen verfallen, seit ich an jenem Morgen ihr Lächeln in der Zollhalle gesehen hatte, egal, was sie später sagte, als ich mir die Familie vorgestellt hatte, die sie in all diesen Jahren angelächelt hatte.
 Madeleine und ich heirateten im Sommer darauf, direkt nach ihrem Abschlußexamen. Es war ihr gleichgültig, daß ich kein Jude war. Hitler, sagte sie, habe eine Atheistin aus ihr gemacht.
 Was das Geheimnis in meiner Hose betraf, hatte ich recht mit der Annahme, daß ein nettes Mädchen nichts wußte. Wir waren schon drei Monate verheiratet, als sie entdeckte, daß ich beschnitten war. Bis dahin wußte ich bereits, daß in Amerika, anders als in Europa, auch manche Nichtjuden beschnitten waren. Ich erzählte ihr, meine Eltern wären auf ihrer Hochzeitsreise in Amerika gewesen, und weil ich hier empfangen worden war, hätten sie beschlossen, den örtlichen Gepflogenheiten ihren Tribut zu zollen. Ich hatte nie über meinen Vater oder meine Mutter gesprochen, und diese Geschichte gefiel ihr.
 »Sag Madeleine, ich werde sie morgen anrufen«, sagte Susannah nun. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um mir einen Abschiedskuß auf die Wange zu geben, und plötzlich wußte ich die Antwort auf meine vergebliche Frage.
 Wenn ich sie geheiratet hätte, statt ihrer Schwester, mit der sie in einer lebenslangen, liebevollen Rivalität verbunden war, wäre der Unterschied nur gering gewesen. Das heißt aber nicht, daß ich meine Frau nicht liebte.