12. Kapitel
Britta fuhr aus unruhigem Schlaf hoch. Ihr Gesicht war naß von Tränen. Die Ketten hatten sich schmerzhaft in ihre Haut gedrückt. Sie setzte sich auf. Nur nicht nachdenken. Ganz leer sein. Sie war steif vor Angst. Eine kalte Eisenstange schien in ihrem Rücken zu stecken.
Was würden sie mit ihr machen? Ein Menschenleben galt ihnen nichts. Niemals würden sie eine Zeugin freilassen, eine Frau, die viel zu viel wußte.
Nicht nachdenken, nicht nachdenken.
Sie werden mich töten. Ja, das werden sie tun, doch warum haben sie es nicht gleich getan? Ein Schuß im Park, der hätte doch gar kein Aufsehen erregt.
Im Grunde weiß ich es. Sie werden mich quälen. Dieser Onkel Kolja ist ein Sadist. Die anderen machen eben einen Film, der sich gut verkaufen läßt. Es soll Liebhaber geben, die Fantasiesummen zahlen, bei einen echten und genußvoll zelebrierten Mord zuschauen zu können.
Was kann ich tun?
Das beste wäre in meiner Situation, aus dem Fenster zu springen. Aber das geht nicht. Ich bin gefesselt. Und ich würde sowieso nicht den Mut dazu haben. Solange noch ein Körnchen Hoffnung besteht, hoffe ich. Und wenn es umsonst war zu hoffen, werde ich vielleicht rechtzeitig ohnmächtig und muß nicht übermäßig leiden.
Denk nicht nach, Britta! Hör auf deinen Körper! Mach nicht das Bett voll!
Sie raffte sich auf, kletterte mit zitternden Knien hinaus und benutzte den Nachttopf.
Sie kamen!
Juri kam und machte sie los und führte sie den bekannten Weg in Onkel Koljas Schlaf- und Quälzimmer. Die Kamera war schon aufgebaut. Tatjana war nicht da, aber Vlado, frisch und nach herbem Männerparfüm duftend, kam ihr federnd entgegen. Er lächelte sein wundervolles Engelslächeln. Niemand hätte dahinter die Grausamkeit vermuten können, zu der er fähig war.
Er führte sie, gemeinsam mit Juri, zu dem Sessel, den sie kannte. Jede Regung außer der Angst schien aus Britta zu entweichen.
Tatjana war nicht da. Vielleicht kam sie noch? Die Tür öffnete sich, und Onkel Kolja schlurfte herein in seinem weißen Bademantel.
Die ist das Ende, wußte Britta. Sie wollte beten, aber auch das war nicht mehr möglich. Ein fremder Mann betrat den Raum, ein Durchschnittstyp, weder alt noch jung, weder groß noch klein, weder hübsch noch häßlich.
Er stellte sich hinter die Kamera. Britta erkannte, daß es der andere Mann war, der neben Juri hier seine Aufgaben erfüllte. Juri legte ihr eine Manschette um den Hals. Keine Maske. Ihr Gesicht blieb frei diesmal. Aber an der Manschette war eine Kette befestigt. Vlado ruckte probeweise daran und dirigierte ihren Hals und ihren Kopf schmerzhaft erst nach links, dann nach rechts.
Juri übernahm die Kette, während Britta fest an den Sessel gefesselt wurde, genauso wie das letztemal.
Das letzte Mal!
Dies würde das letzte Mal sein.
Während Onkel Kolja sich auf einem Stuhl niedergelassen hatte und die Dogge sich zu seinen Füßen ausstreckte – ein Bild wie aus einem Prospekt für schöneres Wohnen –, trat Vlado zwischen die Kamera und das Objekt Britta und deutete mit den Händen eine ›Klappe‹ an. »Exit eins, die erste«, rief er. Und in diesem Augenblick begann Britta zu schreien.
Sie brüllte schrill und so laut, als wollte sie ihre Lunge ausspeien. Sie brüllte, daß ihr die Augen aus dem Kopf quollen und die Adern am Hals und an den Schläfen zu platzen drohten.
Dann steckten sie ihr einen Knebel in den Mund. Ein Tuch schien es zu sein. Sie erstickte fast, weil sie durch die Nase zuerst überhaupt keine Luft bekam.
Sie kniff die Augen zu. Es gab keine Rettung mehr.
Dann erfüllte plötzlich das Geheul einer Sirene den Raum, schrillte offenbar durch das ganze Haus; wahrscheinlich war alles hier mit Warnanlagen gespickt.
Sie hörte Onkel Kolja aufgeregt etwas sagen, dann fluchte Vlado. Sie öffnete die Augen. Kolja und Vlado liefen zur Tür hinaus. Juri arbeitete hastig an ihren Fesseln, warf ihr dann aber einfach die Bettdecke über.
So saß Britta da wie eine verhüllte Statue, hörte Lärm von ferne, konnte sich überhaupt nichts erklären.
Bis zwei Polizeibeamte sie fanden.
Wedel betrat keuchend den Raum. Das Treppensteigen fiel ihm in letzter Zeit verdammt schwer. Man war eben nicht mehr der Jüngste. Diese schrillen Aufregungen waren eigentlich zuviel für einen gesetzten Mann.
Mady flatterte hinter ihm her. Da hing eine junge Frau in Fesseln. Sie war ohnmächtig. Die Polizisten arbeiteten an den Ketten und an der Manschette, die sie um den Hals trug.
Mady trat hinzu. Ihr Atem ging total gleichmäßig. Und jetzt machte sie der Frau mit einer fixen Bewegung die Halsmanschette ab, nahm den Knebel aus dem Mund, bedeutete den Männern, wie die Ketten ganz leicht aufgingen. Kaltblütig. Ruhig. Ernst. Nicht ohne sich anmerken zu lassen, daß sie sich selber wieder einmal außerordentlich gut fand.
»Ins Krankenhaus mit ihr. Ein Mann zur Bewachung«, ordnete Wedel an. Er zweifelte keine Sekunde daran, daß er die Frau vom Phantombild vor sich hatte. Die aus dem Grandhotel. Wohl doch entschieden Opfer und nicht Täterin. Aber wer wußte, wie sie in den Schlamassel hineingeraten war?
Na ja, offenbar war sie eine Kurierin gewesen. Bald würde man mehr wissen. Es sah ganz so aus, als würde sie das hier überleben. Mit seelischen Schäden, natürlich. Aber wer mit dem Teufel tanzen geht, stinkt später nach Schwefel.
Einzelheiten konnte Wedel noch nicht überblicken, im Gegensatz zu Mady selbstverständlich, die ihm gerade erklärte, man habe es hier einwandfrei mit einem Stützpunkt der organisierten Kriminalität zu tun. Russen vorwiegend in diesem Falle. Der Alte, den sie gerade abtransportierte, habe einwandfrei auf Russisch protestiert.
Daß die Kleine hier einfach eine Prostituierte fürs Grobe sei, glaube sie nicht. Prostituierte würden ihrer Meinung nach – obwohl sie da Gott sei Dank keine persönlichen Erfahrungen hätte – nicht ohnmächtig dabei.
Die Frau in dem einen Schlafzimmer, die auch schon auf dem Weg zum Revier sei, müsse eine Deutsche sein. Bestimmt war der andere Kerl, der junge, der behauptete, er sei ein bekannter Kameramann bei der DEFA gewesen, ein Deutscher, der aber auch Russisch sprechen könne. Aber der andere junge Kerl sei auch was Östliches.
Wedel war wieder einmal hin- und hergerissen zwischen widerwilliger Anerkennung und dem Überdruß des alten Hasen an soviel überschäumender Klugscheißerei.
Die Beamten durchsuchten nun alles, Meter für Meter, Wand für Wand, Schrank für Schrank, das hatten sie gelernt, das klappte. Man würde etwas finden. So total ließen sich Spuren von Verbrechen nicht verwischen.
Einige Gangster würden hinter Schloß und Riegel kommen, für einige Zeit, nicht ewig. Die Oberbosse erwischte man sowieso nie. Wenn man Idealist war – und Wedel wußte ganz tief in seinem Herzen, daß er einer war –, dann durfte man das eigentlich gar nicht machen. Kleine Erfolge, letztlich große Resignation. Deshalb waren auch die frischen Jagdhunde – und Jagdhündinnen neuerdings – so von Erfolgsstreben und Sendungsbewußtsein getragen. Die ahnten noch nichts, die rochen den Dreck noch nicht. Rührend. Beneidenswert, wenn man ehrlich war.
Mady hatte das Phantom-Mädchen in die Bettdecke gehüllt. Der Polizeibeamte wollte sie auf die Arme nehmen und zum Auto tragen. Aber die Kleine war zäh. Sie hatte die Augen offen und bedeutete dem Polizisten, sie wolle gehen. Wedel betrachtete ihr Gesicht forschend. Die Augen waren glasig. Wahrscheinlich hatten sie ihr etwas gespritzt. Die Narben an ihrem Körper waren nicht frisch. Das Leiden dauerte wohl schon die ganze Zeit über an, seit sie aus dem Hotel verschwunden war.
Er hätte sie gern befragt, ließ es dann aber. Wenn etwas dabei passierte, ein Kollaps oder Ähnliches, dann war er mal wieder schuld. Ein gefundenes Fressen für die Presse. So was kriegten die immer raus. Er winkte unwirsch in Richtung Tür.
Der Polizist und Mady stützten die Kleine, die nun laut und deutlich sagte: »Meine Sachen zum Anziehen sind in einem anderen Zimmer, auch auf diesem Flur.«
Donnerwetter, ein zähes kleines Luder.
Noch am selben Tag, gegen Mittag, konnte Wedel Näheres erfahren. Britta Schirrmacher saß im Krankenhausbett, den Rücken an ein dickes Kissen gelehnt. Sie hatte einen Schock, natürlich hatte sie den, aber sonst war alles paletti. Sie gab fließend Auskunft.
Über ihren Zimmergefährten im Grandhotel wollte sie partout nichts sagen. Als Wedel jedoch den Namen ›Richard Hornung‹ nannte, nickte sie.
»Er war aber nicht dabei, als der Mann getötet wurde.«
»Das weiß ich. Er wird nicht verdächtigt«, log Wedel, denn wahrscheinlich hatte der Herr Dreck am Stecken, und zwar in bezug auf den toten Moritz, von dem die Kleine hier ja nichts wußte.
»Wie war es denn, erzählen Sie mal in aller Ruhe.«
»Mein … also, Richard Hornung war nicht dabei. Aber er wollte nach dem Wochenende wiederkommen. Abends pochte es plötzlich an die Tür vom Hotelzimmer. Ich machte auf, dachte, es wäre jemand vom Personal. Aber es war ein fremder Mann. Hinterher drängten sich zwei andere Männer in das Zimmer. Ich wollte mich verstecken, aber da war es schon passiert. Einer stach mit einem Messer auf den ersten Mann ein. Einer schoß, wer, weiß ich nicht genau. Einer war mager, der andere war totaler Durchschnitt.«
»Wie waren sie angezogen?«
»Ganz normal. Ich weiß nicht, ich war einfach zu aufgeregt.«
»Hatten Sie den Mann, der getötet wurde, erwartet?«
»Nein. Überhaupt nicht. Ich kannte ihn ja auch gar nicht.«
»Haben Sie ihm irgend etwas übergeben, oder wollten Sie etwas übergeben?«
»Nein. Überhaupt nicht.«
»Da lag etwas in ihrem Schrank zwischen ihren Sachen. So etwas wie ein Spielzeug.«
»Spielzeug? Nee. Ach so, ja, da lag so Knete. Die war schon da, als ich ins Zimmer einzog. Ich hab' sie mir angesehen und dann wieder reingelegt. Muß ein Kind da vergessen haben. Ich wollte sie abliefern, aber hab's dann wieder vergessen.«
»Sie hatten also persönlich mit der Sache gar nichts zu tun?«
»Überhaupt nicht.«
»Und dann haben die beiden Männer Sie mitgenommen. Warum wohl?«
»Weil ich zugeschaut hatte.«
»Und warum, glauben Sie, hat man Sie verschont?«
»Ich tat ihnen leid.«
Vielleicht war es ja wirklich so gewesen, obwohl Wedel ihr kein Wort glaubte. ›Überhaupt nicht‹ und ›vergessen‹ schienen Lieblingsvokabeln der Kleinen zu sein.
»Sie wurden also aus dem Hotel fortgebracht. Von den beiden Männern?«
»Ja. Es saß noch einer am Steuer, aber ich kann mich nicht erinnern. Sie brachten mich erst irgendwo in einen Keller, dann in diese Villa, wo Sie mich gefunden haben. Sie haben mich gequält und Pornofilme mit mir gemacht …«
Jetzt fing sie an zu weinen. Das Verhör ging noch eine Weile weiter, hin und her, lang und breit und letztlich ergebnislos. Mehr würde sie nicht sagen.
»Im Hotel haben wir Ihre Sachen zusammengepackt. Sie werden Ihnen nachher übergeben.«
»Oh. Danke vielmals!«
Daß diese Britta nicht die Wahrheit sagte, stand fest. Aber sie war letztlich ein winziger Fisch. Und ganz schön gewitzt. Sie hatte wahrscheinlich Kurier gespielt, das war strafbar. Doch was brachte es, wenn er versuchte, es zu beweisen? Sie wollte natürlich wieder nach New York zurück, als sei nichts gewesen. Man würde sehen.
Sie fragte, ob sie ihren Bruder in Düsseldorf anrufen dürfe?
Das war ja nun wieder ein ganz neuer Aspekt. Er sagte, er würde es sich überlegen.
Wedel reiste erst einmal nach Kiel und überließ Mady Saparonsky das Berliner Terrain. Er kam gerade zur Beerdigung des ermordeten Moritz Mach zurecht.
Im Kino gingen die Kriminalbeamten immer mit auf den Friedhof. Warum sollte er das also im richtigen Leben nicht auch tun? Es war manchmal gewiß höchst aufschlußreich.
Die Eltern taten ihm leid. Offensichtlich ordentliche, brave Bürger. Der Vater war Feuerwehrmann, wie Wedel inzwischen wußte. Die Mutter sah noch aus wie eine echte Mutter, nicht wie die Schwester des Sohnes, wie man es jetzt so häufig sah. Sie schluchzte. Gramgebeugt. Plötzlich hatte dieses abgegriffene Wort augenfällig Sinn. Gramgebeugt, wie traurig. Und der Vater … beinahe zerrissen von Schmerz und Wut.
Dann war noch eine exaltierte Person da, die Tante Charlotte, ganz in Schwarz, Minirock und schwarze Strumpfhosen, blickdicht. Und schwarzer, runder Hut mit dichtem Schleier, den sie vor das Gesicht gezogen hatte. Sie war wie die Witwe zurechtgemacht, fand Wedel. Am Grab, als der Sarg heruntergelassen wurde, weinte sie laut.
Die Fotoreporter – und die waren mal wieder reichlichst vertreten und boxten sich gegenseitig in einigem Abstand aus den besten Positionen weg – konnten sich gar nicht einkriegen vor Begeisterung. Sie hatten ihre Kameras hoch über die Köpfe gestemmt, um genug Blickfeld für die Linse zu haben, und sogen die ganze Szene auf Deibel komm raus ein.
Wedel sprach später mit dem Vater. Herr Mach hatte keinen Verdacht. Er konnte sich das alles überhaupt nicht erklären.
»Wenn ich den Kerl in die Finger kriege, der das getan hat, dem schneide ich eigenhändig die Kehle durch, und wenn ich lebenslang dafür sitzen muß.«
»Na, na, Herr Mach. Haben Sie ein bißchen Vertrauen zu uns.«
Aber man sah ihm an, daß er überhaupt kein Vertrauen zur Polizei hatte. Und zur Justiz erst recht nicht.
»Sie lassen doch heutzutage jeden laufen. Da kommt so ein Psychiater und sagt, der arme Kerl war nicht bei Sinnen, und schon lassen ihn die Richter laufen. Vielleicht kommt er für ein Jahr in 'ne Klapsmühle. Das war's dann.«
Unvermittelt begann Herr Mach zu schluchzen. Wedel verabschiedete sich entnervt. Ein weinender Mann, das ging einfach über seine Kraft.
Der schwere Teil stand ihm aber noch bevor. Wedel fuhr gegen Abend zu Hornungs Villa. Ein richtiger Butler, wie aus dem Kino, öffnete die Tür. In einer Bibliothek empfing ihn der Hausherr.
Wedel stellte auf Anhieb fest, daß er es hier mit einem Edelkaufmann von echtem norddeutschen Schrot und Korn zu tun hatte. Aber das bedeutete nicht so sehr viel. Das war der olle Wie-hieß-er-noch damals auch gewesen und mancher andere ebenfalls.
Wedel erklärte rundheraus, man wisse zweifelsfrei, daß Richard Hornung der geheimnisvoll verschwundene Mann im Grandhotel gewesen wäre, daß er jedoch nichts mit dem Mord dort zu tun hätte.
»Etwas anderes macht uns Kopfzerbrechen. Es scheint einen gewissen Zusammenhang zu geben zwischen dem Mord an einem Pagen aus dem Hotel, der aus Rendsburg stammte und übrigens heute beerdigt wurde, wie Sie wohl wissen werden, und Ihnen, Herr Hornung.«
»Wie bitte? Was wollen Sie denn damit sagen?«
»Weiter nichts. Ich bin aber gezwungen, Sie nach Ihrem Alibi zu fragen für, warten Sie mal … aha, hier haben wir's …«
Er hielt Hornung seinen Terminkalender unter die Nase und zeigte auf Datum und Zeitpunkt der vermutlichen Mordzeit zwischen halb zehn und halb elf. Hornung setzte sich eigens eine kleine Lesebrille mit halben Gläsern auf, die er aus der Brusttasche zog und auseinanderfaltete.
»Ganz einfach. Ich weiß zwar nicht, weshalb Sie das wirklich wissen müssen. Aber da war ich zu Hause. Ich glaube … ja, das stimmt … mein Wagen war in der Werkstatt. Ich wollte eigentlich noch etwas halb Geschäftliches erledigen. Aber dann blieb ich doch zu Hause. Ich habe mit meiner Frau gemeinsam ferngesehen.«
»Na wunderbar. So ein präzises Alibi lobe ich mir. Darf ich vielleicht zur gänzlichen Abdichtung noch kurz die Bestätigung Ihrer Frau einholen?«
Der Mann redete zuviel. Zu ausführliche Erklärungen waren oft ein Zeichen von schlechtem Gewissen, wußte Wedel.
»Selbstverständlich.«
Hornung ging allen Ernstes ans Telefon und nahm den Hörer ab.
»Lucie, hier ist ein Herr von der Kriminalpolizei. Er möchte dir Fragen stellen. Könntest du netterweise kurz in die Bibliothek kommen?«
Sie warteten etwa drei Minuten. Na ja, in solchen Villen verlief sich alles. Da dauerte es. Anders als bei Wedels zu Hause, wo man sich einfach durch die ganze Wohnung einschließlich des Badezimmers etwas zurufen konnte. Die Dame des Hauses trat ein. Sie sah wirklich so aus. Wedel erhob sich unverzüglich. Sie war die Art Frau, der man die Hand küßte.
Sie begrüßte Wedel, reichte ihm sogar die Hand, ließ aber trotzdem deutlich fühlen, daß sie ihn für einen Untergebenen hielt und für einen ungebetenen Gast sowieso. Für einen Störenfried sogar.
Sie wies auf den Stuhl, auf dem Wedel gesessen hatte, und nahm selber Platz.
Wedel stellte noch einmal die Frage nach Richard Hornungs Alibi.
»Können Sie sich an den Abend erinnern, gnädige Frau?«
Warum auch nicht ›gnädige Frau‹? Es kostete ja nichts und stimmte die Eisfee vielleicht etwas milder.
Sie runzelte leicht und nicht unkleidsam die Stirn. Dann sagte sie sehr bestimmt:
»Ich erinnere mich deutlich. Der Wagen meines Mannes war in der Werkstatt. Er lieh sich meinen Wagen aus. Gegen acht Uhr ist er fortgefahren. Wollte mit einem schwierigen Kunden und einem Architekten, mit dem wir häufig zusammenarbeiten, in irgendeinem Lokal den Kontakt verdichten. Er war gegen elf Uhr wieder zu Hause und hat dann noch ein wenig mit in die Röhre geschaut.«
»Lucie, bitte! Wie kannst du so etwas behaupten!«
»Weil es die Wahrheit ist, Lieber. War das alles, Herr … äh …?«
»Ja, danke sehr. Das war alles, gnädige Frau.«
Sie erhob sich und ging mit ruhigen Schritten zur Tür. Sie hatte ihren Mann ins Zwielicht gebracht.
Wußte sie es?
Wedel tippte: Ja.
Hornung rief hinter ihr her: »Lucie, es wird einen Skandal geben.«
Sie reagierte nicht und verließ den Raum.
»Wir hatten Streit in letzter Zeit. Meine Frau hat von dem … dem kleinen Seitensprung in Berlin erfahren. Sie will sich an mir rächen. Glauben Sie mir, ich war zu Hause.«
»Der Butler? War der Butler zu Hause?«
Anton Brant erklärte würdevoll und ohne zu zögern, Herr Hornung sei zu Hause gewesen. Er selber habe noch Tee serviert. Die Herrschaften hätten gemeinsam ferngesehen, erst eine Talkshow, dann eine Tiersendung, wenn er sich nicht täusche.
Schöner Mist. Der Kerl wirkte ungeheuer seriös. Ob er gelauscht hatte und deshalb wußte, was sein Brötchengeber hören wollte?
Wedel verabschiedete sich verärgert.
»Wiedersehen, Herr Hornung. Machen Sie sich keine Sorgen. Sie sind so gut wie aus dem Schneider. Es gibt keine konkrete Verbindung. Und Ihr Butler ist eine Perle.«
Letzteres stimmte, ersteres dagegen nicht. Wedel war sich sicher, daß die Frau Gemahlin die Wahrheit sagte.
In Berlin hatte Mady schon fleißig vorgearbeitet. Der Fang in der Villa hatte sich wirklich gelohnt. Der alte Russe, Kolja Tirow, war schon sehr hoch oben in der Hierarchie angesiedelt. Sein Spezialfach war das ›Einschwärzen‹. Eine Connection des Schmuggels, das ›nicht offizielle Verbringen von Gegenständen zur Verschleierung ihrer Herkunft‹. Es ging um Zigaretten, Alkoholika, Rauschgift, Kaviar, Raubkopien von Kassetten, pornografische Videos und Ikonen.
Auf den wichtigsten Straßen und Eisenbahnlinien zwischen Moskau und Berlin wurden jedes Jahr Unmengen dieser Güter beschlagnahmt. Doch es blieb ein Tropfen auf dem heißen Stein.
Beschlagnahmte Zigaretten wurden kompostiert, Kaviar landete auf dem Müll – er war sowieso unzulässig hoch mit Schadstoffen belastet. Ikonen wurden schließlich vom Zoll versteigert. Gerade bei den Ikonen ging es um Riesensummen. Zwei Berliner Galeristen waren bereits ermordet worden.
Der Juri R. war kein unbeschriebenes Blatt. Er saß nun bereits in Auslieferungshaft. In Österreich wurde er mit internationalem Haftbefehl als mutmaßlicher Mörder gesucht. Möglicherweise hatte er auch in Berlin Morde auf dem Gewissen. Die Mörder aus dem Hotel saßen bereits. Sie waren ja ganz ungeniert mit ihrem ›Seafood Murmansk‹-Auto rumgegondelt. Es würde noch viel gesungen und gelogen werden. Und neue Verbrecher verschiedener Nationen, mit Deutschen kräftig durchmischt, würden nachströmen.
Der alte Kolja Tirow hatte in der Haft einen Schlaganfall erlitten. Er hatte die Sprache verloren und saß im Rollstuhl.
Die göttliche Gerechtigkeit nahm ihren Lauf.
Zwei der Männer waren entkommen. Den einen hatte die Kleine im Krankenhaus als sehr hübsch, ja schön beschrieben. Es war ganz leicht, ihn mit Hilfe eines Fotos zu identifizieren. Er gehörte zu den gesuchten Ikonenschiebern, war offenbar ein Kopf der Truppe.
Zehn Tage später wurde ein Mord in der Wilmersdorfer Straße gemeldet. Einbruchspuren gab es nicht. Das Opfer hatte offenbar dem Mörder selber die Tür geöffnet. Es hatte sich hinknien müssen und war durch einen Kopfschuß getötet worden. Die ebenmäßigen Züge waren entstellt, doch war noch soviel zu erkennen: Der Tote war Vlado L., ein Exilrusse. Der Ikonenschieber!
Die Flucht aus der Villa hatte ihm kein Glück gebracht.
An Vlados Tod war eine Sonderkommission dran, die eigens für Ikonenschmuggel und dessen Umfeld gebildet worden war. Bernd Wedel blieb auf seiner alten Spur.
Die kleine Mieze aus New York war nicht mehr ergiebig. Sie hatte gesagt, was sie wußte oder was sie sagen wollte. Wohin sollte man mit ihr? Sollte man sie etwa einbuchten? Hatte doch gerade genug mitgemacht. Das würde ihr vielleicht eine Lehre sein. Die Wache vor ihrer Tür im Krankenhaus war schon abgezogen worden.
Britta hatte nur noch einen Wunsch: Zurückzukehren in ihr altes Leben, das sie früher gern als Sklaverei bezeichnet hatte. Sie wollte alles vergessen, sogar Ricki wollte sie vergessen.
Die Sachen aus dem Hotel wurden gebracht. Im doppelten Futter der Manteltasche steckte der Paß. Ein Wunder und zugleich der Beweis, daß ihn dort Diebe am wenigsten finden würden, wenn ihn nicht einmal die Polizei dort fand.
Sie hatte einfach einen Brief an ihren Halbbruder in Düsseldorf geschrieben, der dort Zahnarzt war und bestimmt nicht am Hungertuch nagte. Die Reinemachefrau hatte ihn hinausgeschmuggelt und offenbar wirklich dichtgehalten.
Britta und ihr Bruder waren seit Jahren ein bißchen böse miteinander, aber Blut ist dicker als Wasser. Am nächsten Tag traf der Brief in Düsseldorf ein. Ihr Bruder kam mit der nächsten Maschine und gab ihr genügend Geld für die Rückreise. Das war die Hauptsache jetzt.
Sie zog sich schön an und kämmte und schminkte sich und sah wieder aus wie die Britta, die sie vor der Katastrophe gewesen war. Unbeschädigt eigentlich.
Wedel ließ sie ziehen.
Es sah nicht so aus, als könnte sie ihm noch von Nutzen sein. Und New York lag nicht aus der Welt. Britta telegrafierte ihrer milchkaffeebraunen Freundin Lizzi in New York. Sie wollte abgeholt werden vom Airport, wenn es sich irgend einrichten ließ.
Auf dem Berliner Flughafen überkam sie ganz plötzlich Sehnsucht. Richards Telefonnummer hatte sie im Kopf. Wer ständig mit dem Telefon arbeitete, entwickelte eine spezielle Technik darin, sich Nummern zu merken. Sie wählte und wartete mit klopfendem Herzen, während es tutete.
Dann wurde abgehoben.
Schweigen.
Britta sagte leise: »Hallo?«
Weiter Schweigen.
Ach, er war ihr böse, weil sie ihn hineingezogen hatte in ein schlimmes Abenteuer.
»Richard! Ricki?!«
Sie hörte jemanden atmen. Aber alles blieb stumm. Sie legte auf. Good bye, Ricki. Feige wie alle Kerle. Er war es gewesen. Da war sie sicher.
Als das Flugzeug startete, hätte sie am liebsten geschrien vor Glück. Immer schon hatte sie dieses In-den-Himmel-Steigen fast körperlich als Glücksgefühl empfunden. Man ließ alles hinter sich. Die Sorgen blieben am Boden. Man startete zu neuen Zielen. Es war so faszinierend. Merkwürdig, daß viele Menschen es gar nicht wahrzunehmen schienen.
Lucie legte den Hörer auf. ›Ricki‹ hatte die am Telefon gehaucht. Das Weib, das Unglück über die Familie Hornung gebracht hatte. Schande. Die ersten Boulevardblätter hatten bereits gemeldet, daß der gesuchte ›Todes-Liebhaber‹ bei dem Mord im Hotel der angesehene Kaufmann Richard H. aus Rendsburg gewesen wäre.
Ihr Herz blutete, aber Lucie fühlte sich dem verpflichtet, was ihr geliebter und bewunderter Vater von ihr erwartet hätte. Geradlinig und stolz, so hatte er seine Lucie erzogen und geliebt.
Sie hatte dem Kriminalbeamten aus Berlin die Wahrheit gesagt, aber war es richtig gewesen? War es letztlich anständig gewesen? Sie wollte sich an Richard rächen.
Inzwischen war ihr der schreckliche Gedanke gekommen, daß sie Richard verdächtigten, diesen Hotelpagen aus Rendsburg umgebracht zu haben. Warum sollten sie sonst am Alibi ihres Mannes interessiert sein?
Aber warum hätte er so etwas Furchtbares tun sollen? Es paßte gar nicht zu ihm. Er war niemals ein Mörder.
Sie rang lange mit sich. Dann rief sie in seinem Büro an und bat ihn um eine Unterredung. Nachdem der Kommissar fortgegangen war, hatten sie kein Wort mehr miteinander gesprochen.
Richard kam umgehend. Und wieder gingen sie in die Bibliothek, wo in den letzten Tagen all diese deprimierenden Gespräche stattgefunden hatten.
»Das Mädchen hat angerufen«, begann Lucie. »Aber ich habe nicht mit ihr gesprochen. Sie nannte deinen Namen. Sie sagte ›Richard‹ und dann noch ›Ricki‹. Hat sie dich so genannt?«
»Ja. Nicht immer …«
»Verschone mich bitte mit Einzelheiten. Richard, ich bin sehr verletzt. Du weißt, daß ich dich bei Papa unter größten Schwierigkeiten durchgesetzt habe. Gut, du warst tüchtig im Geschäft. Aber ich habe immer geglaubt, daß wir beide uns unter allen Umständen aufeinander verlassen könnten.«
»Es war das einzige Mal. Lucie!«
»Ich könnte kein Vertrauen mehr zu dir haben. Was jetzt geschieht, das ist einfach unglaublich peinlich, für mich und auch für Angela. Die Zeitungen haben deinen Namen. Reporter werden uns vom Aufstehen bis zur Nacht beobachten, unser Haus, unser Leben. Sie werden alles in den Dreck ziehen.«
»Ich wollte es nicht. Wer hätte an solche Folgen denken können, sag mir das!«
Richard schaute Lucie an. Sie saß kerzengerade im Sessel. Ihre Frisur war untadelig. Auch in verzweifelten Situationen würde sie die Wimpern tuschen. Ihr Papa hatte ganze Arbeit geleistet.
Angela war in England. Ein Segen. Er wußte nicht, wie er ihr gegenübertreten sollte. Obwohl er im Grunde seines Herzens wußte, daß Angela anders war als ihre Mutter. Sie würde das alles nicht so tragisch nehmen. Das, was sie wußte. Nicht das andere natürlich.
In diesem Augenblick fragte Lucie: »Der Kommissar wollte wissen, wo du warst, als dieser junge Mann ermordet wurde. Ich weiß, daß du dir kürzlich eine Waffe besorgt hattest. Ich habe sie jetzt nirgendwo gefunden. Hast du sie weggeworfen?«
»Du spionierst mir nach?«
»Mach dich nicht lächerlich. Sag mir jetzt ganz ehrlich, Richard, hast du den Jungen getötet?«
»Warum hätte ich das tun sollen?«
»Er könnte etwas gewußt haben, das ich nicht wissen sollte, zum Beispiel.«
Richard war schockiert. Das war unheimlich. Er hatte seine Frau offenbar immer noch unterschätzt.
»Ich liebe dich, Lucie.«
»Und die im Hotel liebst du auch? Jedenfalls hat sie sich schon wieder gemeldet. Ich möchte dich etwas fragen, und sag mir bitte die volle Wahrheit. Hast du den Jungen getötet?«
»Nein. Ich schwöre es.«
Es entstand eine lange Pause. Sie schauten sich nicht an. Richard wußte, daß sie sich niemals wieder voller Zuneigung in die Augen sehen würden. Er hatte Lucie falsch beurteilt. Er hatte gedacht, sie ruhe in sich, sei egozentrisch. Statt dessen hatte sie ihn beobachtet, hinter ihm hergeschnüffelt. Er war das Eigentum, das ihren Erwartungen auf der ganzen Linie entsprechen sollte. Nur in einer Hinsicht reagierte Lucie genau so, wie er es erwartet hatte: Sie vergab nicht.
Lucie dachte, daß sie den Seitensprung vielleicht doch hätte überwinden können. Man machte nicht so einfach einen Schlußstrich unter ein wichtiges Kapitel seines Lebens. Aber sie war nun sicher, daß ihr Mann diesen Knaben ermordet hatte. Nicht aus Liebe zu ihr, sondern um seine Reputation, seine Stellung, seine Familie zu behalten.
Er leugnete, und das rechnete sie ihm eigentlich hoch an. Sie konnte ihr Gesicht wahren.
»Ich habe noch einmal den Abend damals überdacht, nach dem der Kommissar mich fragte. Ich habe auch mit Anton gesprochen. Ich gebe dir dieses Alibi um all der Jahre willen, in denen ich mit dir glücklich war. Und natürlich auch Angelas wegen. Sie soll nicht mit dem Handicap belastet sein, daß ihr Vater ein Mörder ist. Jetzt bin ich sicher, daß ich mich geirrt habe. Ich habe da etwas durcheinandergebracht. Anton hatte recht. Ich will den Kommissar anrufen und meine Aussage richtigstellen. Du warst an dem fraglichen Abend natürlich die ganze Zeit über zu Hause.«
»Lucie!«
»Hieß der Kommissar nicht Weber?«
»Wedel.«
»Gut. Es gibt eine Bedingung. Ich reiche die Scheidung ein. Du übergibst die Geschäftsleitung Herrn Buche, ich werde dann weitersehen. Du ziehst hier umgehend aus und bist weg, wenn Angela zurückkommt.«
»Und was soll ich machen, deiner Meinung nach?«
»Wir werden alles mit unseren Anwälten besprechen. Viel Möglichkeiten, meine Wünsche zu durchkreuzen, bleiben dir nicht, oder? Ein tüchtiger Mann wie du wird schon wieder etwas finden. Bist du einverstanden?«
»Selbstverständlich. Du bist sehr großzügig.«
Beinahe hätte er laut gelacht. Alles kaputt, das ganze Leben kaputt wegen ein paar leidenschaftlicher Umarmungen mit einer süßen fremden Frau. Zu alt für einen neuen Start. Er hatte die Makarow in den Kanal geworfen. Jetzt tat es ihm beinahe leid. Vielleicht wäre das der letzte Ausweg gewesen. Vielleicht war es ja wirklich der einzige Ausweg?
Bernd Wedel war der Held der Stunde. Er hatte einen Verbrecherring hochgehen lassen. Mady sonnte sich in seinem Glänze. Monica war wieder einmal sehr stolz auf ihn. Im Falle Hornung allerdings hatte die Gattin nun doch ein wasserdichtes Alibi geliefert, das von dem Diener voll bestätigt wurde.
Es blieb dieser Bodensatz. Stinkend, gammelig.
Bernd Wedel dachte an den kleinen Pagen im Hotel, der ihm nicht die Wahrheit hatte sagen wollen, und an dessen Beerdigung später. Und an den ehrenwerten Kaufmann Richard Hornung.
Er war es gewesen. Er, Wedel, wußte es. Er konnte es nicht beweisen, aber er würde ihn im Auge behalten. Jahrelang. Irgendwann würde er über seine eigenen Füße stolpern. Dann würde er da sein. Und gewiß nicht, um ihn aufzuheben. Strafe mußte sein. Hornung würde sie kriegen.
So oder so.