1. Kapitel
Wie vor fünf Jahren fragte sie: »War ich gut eben?«
Er antwortete wie damals: »Du warst fantastisch.« Sex mit Britta war aufwühlend. Totale Kraft, wilde Intensität. Ein Formel-1-Rennen, das beide gewinnen wollten.
Wenn man in diesem Genre blieb, so ließ sich Sex mit Lucie eher mit einer Tour im Rolls Royce vergleichen. Sanft und stark, verläßlich und luxuriös. Gewiß nicht das schlechteste, was einem Mann widerfahren konnte. Mindestens einmal die Woche. Kein schlechter Schnitt nach zwanzig Jahren Ehe.
Alte Männer übernahmen sich manchmal endgültig bei Schäferstündchen mit der jungen Geliebten. Eigensinnig trotteten dann Ehefrau und Gespielin hinter dem Sarg des Verblichenen her. Sie hielten Abstand voneinander und wetteiferten um den eindrucksvollsten Kranz und den überzeugendsten Eindruck edler Trauer. Eine Tragödie, welche allerdings die Stimmung der Trauergemeinde erheblich aufzulockern pflegte.
Aber er war zum Glück noch in einem Alter, in dem der Körper Ekstasen glatt verkraftete. Fünfundfünfzig: kein Grund zur Panik, doch höchste Zeit, bewußt den Nektar zu schlürfen, den das Leben noch bot.
Natürlich war man nicht mehr der feurige Meister, der sich in jedem Qualifikationslauf für die ›pole position‹ qualifizierte. Kleine Konditionsschwächen wurden jedoch durch Routine glücklich ausgeglichen.
Britta lag auf dem Rücken, und er ließ den Blick über ihren Körper gleiten.
Ein Rendezvous nach fünf Jahren Pause, das war schon etwas. Natürlich hatten sie beide nicht sehr oft aneinander gedacht, aber nun behauptete sie, vor Sehnsucht fast vergangen zu sein, und er log schnöde, er habe im Ehebett nur an sie gedacht. Fünf Jahre hielt niemand wirklich durch. Zuerst hatten sie noch miteinander telefoniert, dann waren die Kontakte seltener geworden und hatten schließlich ganz aufgehört. Doch nun war es erstaunlich schön und trotz einer gewissen Vertrautheit wie neu.
Britta war damals mit der INA nach New York gegangen, hatte sogar in Manhattan eine kleine Wohnung gefunden. Richard wußte nicht, ob der Umzug notwendig gewesen war, eine Anordnung der Fluggesellschaft etwa, ob ein Kerl dahintersteckte oder irgend etwas anderes.
Er war schließlich verheiratet und dachte nicht im Traum an Scheidung. Er wollte auch beileibe keinen Wind machen. Die schönste Romanze konnte nicht ewig dauern. Lucie war eine gute und attraktive Ehefrau. Und ihr gehörte die Firma. Punkt. Ein kluger Mann vergaß das nicht.
Berlin als Treffpunkt hatte Britta selbst vorgeschlagen, als sie ihn anrief und ihre Ankunft in Deutschland ankündigte. Sie schien das abenteuerliche Liebesleben geführt zu haben, das Männer sich meist zu wünschen und nie zu bekommen pflegten. Sie hatte mit einem Kerl fest zusammengelebt. Oder waren es zwei Kerle gewesen? Oder mehr?
Mit den kostenlosen oder stark verbilligten Tickets ihrer Fluggesellschaft machte sie große Reisen in aller Herren Länder und zu fremden Herren und Damen, die sie oft nur flüchtig kannte oder mit denen sie lediglich telefonisch Kontakte aufgebaut hatte im INA-Büro. Sie hatte eine warme, helle Stimme. Jüdinnen hatten oft diese hohe, melodiöse Stimmlage. Aber Richard wußte nicht, ob sie Jüdin war. Ihre Haut war sehr braun. Sie hatte von Natur aus dunkles Haar, das sie rot färbte. Über ihre Herkunft wollte sie nicht reden. Es konnte ihm ja auch egal sein.
Kennengelernt hatte er sie in Berlin bei der ›Tourismus-Börse‹. Britta sorgte dort am Stand der ›British Airways‹ als Hosteß bei den meist männlichen Kunden für den entscheidenden, das Interesse an just dieser Fluggesellschaft beflügelnden Hormonstoß.
Jetzt lächelte sie ihn an. Dieses Lächeln war jede Reise wert. Schon alle Tage die aus Rendsburg. Richard liebte das Grandhotel. Es war genauso, wie er sich Hotels vorgestellt hatte, als er überhaupt nicht in der Lage gewesen war, eins zu betreten, geschweige denn eins der Luxusappartements zu mieten – für Summen, die ihm auch heute noch eine leichte Gänsehaut verursachten.
Wenn man nicht aus erstklassigen Verhältnissen kam, mochte man vieles blendend überspielen, sich an anderes gewöhnen, doch ganz tief in seinem Inneren vergaß man nie, daß im Elternhaus beim Verlassen der Stube jedesmal die Lampe über dem Eßtisch mit der Fünfundzwanzig-Watt-Birne ausgemacht werden mußte.
Nicht aus Umweltschutzgründen, sondern aus reiner Sparsamkeit.
Britta war verschwenderisch. Schöne junge Frauen gewöhnten sich wohl leicht daran, anderer Leute Geld hinauszuschmeißen. Sie nahmen es als Tribut für ihre gottgegebenen Vorzüge, für das Geschenk, das sie selbst darstellten.
Britta lächelte, und Richard lächelte zurück.
»Das war eine Jahrhundert-Idee von dir, nach Germany zu kommen, Bribri«, sagte er.
»Ich hatte solche Sehnsucht nach dir, Ricki«, versicherte sie. Und wer wollte nachweisen, daß sie log? Er glaubte ihr nur zu gern in diesem Moment. Gesättigt, entspannt, sehr glücklich.
»Du wirst noch mehr Sehnsucht kriegen, wenn du in Manhattan hinter dem Schreibtisch hockst. Wart nur ab.«
»Aber du wirst es auch nicht ganz leicht verkraften diesmal, Ricki!«
»Wir können es wiederholen.«
»Du schaffst es ja nicht einmal für drei Tage.«
»Hör zu, bleib hier. Amüsier dich, guck dir die Stadt an, kauf dir was Nettes. Am Dienstag komme ich für drei Tage wieder her. Am Wochenende muß ich zu Hause sein. Ich bin nicht direkt ein Pantoffelheld, aber es gibt Verpflichtungen, die ich nicht umgehen kann. Bleib hier. Bitte!«
»Das wird dich einiges kosten, Ricki.«
»Du weißt, daß es mir viel mehr wert ist.«
»Ist es das? Also … ich wollte sowieso nicht gleich wieder losdüsen. Berlin ist immerhin interessant geworden. Und irgendwo müßte hier sogar noch eine alte Freundin sitzen. Ich werde ins Telefonbuch schauen.«
»Du bleibst also, Bribri? Du wartest auf mich?«
»Okay, aber nur, wenn du mich gleich mit aller Wucht küßt und anfaßt und so.«
Eigentlich wußte er gar nichts von Britta. Außer dem, was sie ihm erzählte. Log sie? Egal. Sie war sehr süß und sehr sexy, und das war alles, was er wissen mußte. Sie bewegte sich weich und gelenkig. Ihre Glieder waren zierlich, aber nicht knochig. Fest und weich.
Von Anfang an hatte die Chemie zwischen ihnen gestimmt, die intensive Erregung ähnelte manchmal fast der Wut. Er wollte mehr von ihr, jedes verborgene Stück Haut, die Wärme und die Feuchtigkeit. Ihre Hingabe.
Lucie durfte es nie erfahren. Nie. Er würde es irgendwie wiedergutmachen. Sie hatte es nicht verdient. Aber das war jetzt egal. Es gab nur diese Gegenwart für Richard Hornung. Jetzt, hier, alles. O ihr Götter!
Lucie war wie immer: freundlich und etwas distanziert. Sie hatte bestimmt keinen Verdacht geschöpft. Warum sollte sie auch? Er war ihr stets ein treuer und aufmerksamer Ehemann gewesen, von wenigen kleinen Ausrutschern abgesehen.
Diesmal, mit Bribri, war es plötzlich gefährlich geworden, für Lucie, für ihn selber. Auch für Bribri? Doch er war sicher, daß er es wieder in den Griff bekommen würde.
Notfalls konnten sie sich noch einmal in New York treffen. Das würde sich allerdings nicht ganz einfach einrichten lassen. Eine Geschäftsreise in die USA war nicht alltäglich. Seine Frau mischte sich nicht ein, wurde nicht aktiv, saß nicht einmal im Beirat der Firma. Aber sie war wachsam, wenn es um die Firma ging, wollte immer unterrichtet werden, nicht unbedingt, um ihn zu kontrollieren, das wohl nicht. Oder vielleicht doch? Hatte sie das dem Alten auf seinem Totenbett gar versprechen müssen?
Sein Schwiegervater hatte ihn nie gemocht. »Ich weiß auch gar nicht, warum Lucie sich so 'nen alten Knacker nimmt«, hatte er oft gesagt.
Die moderneren Methoden, die Richard gern einführen wollte, hatten dem Senior auch nicht gepaßt. Der hatte nicht mal an Computer rangewollt. Dabei hätte er es wirklich schlechter treffen können mit einem Schwiegersohn.
Erstens war Lucie nicht gerade eine Schönheit gewesen. Sie war eher der Typ Dame, der im etwas reiferem Alter an Attraktivität zulegte und bei dem man die teure Kleidung und den eleganten Rahmen als zugehörig betrachtete.
Lucie hatte einen guten Charakter. Aber es war wohl doch besser, sie nicht auf die Probe zu stellen. Ohne Frage ähnelte sie im Wesen ihrem Vater. Die Mutter, dieses schüchterne Weibchen, hatte wohl nichts zum Weitergeben gehabt. Sie war sang- und klanglos an Krebs gestorben.
Zweitens hatte Richard Betriebswirtschaft studiert, war also einschlägig vorgebildet. Mancher hätte sich nach so einem Schwiegersohn die Finger geleckt. Der Alte nicht. Aber Lucie hatte ihren Kopf durchgesetzt. Ihr war der Alte nicht gewachsen.
Richard hatte als Trainee bei der Bank gearbeitet, als er Lucie im Tennisclub kennenlernte. Daß sie die einzige Tochter eines erfolgreichen Unternehmers war, hatte seine Begeisterung durchaus beflügelt. Es war keine Liebe gewesen. Doch im Laufe der Jahre war es so etwas geworden. Und dann war da das Baby, Angela, sein Töchterchen, sein Liebling. Angela liebte ihn auch sehr. So sehr ein Kind und ein Teenager, der sie inzwischen war, eben ihren Papi lieben konnte. Besonders wenn er ihr schöne Sachen schenkte und ihre Wünsche erfüllte.
Der alte Hübner hatte die Firma an seine Tochter Lucie vererbt und seine Enkelin Angela zur Nacherbin bestimmt. Richard Hornung war draußen. Offiziell jedenfalls.
Aber schließlich leitete er die Firma. Unter Anwendung seines modernen Konzeptes hatte er ihr zu neuem Gewicht verholfen. Er hatte Marktlücken erspäht, die von den Giganten auf dem Stahlsektor nicht ausgefüllt wurden. Nischenprodukte, für die ›Hübner Stahl‹ inzwischen bekannt war.
Richard kam an diesem Abend gegen sieben Uhr aus der Firma nach Hause. Er ließ seinen leitenden Angestellten viel Spielraum für Entscheidungen, deshalb lief der Laden so gut.
»Sie haben die Verantwortung. Ich setze auf Ihre Erfahrung und auf Ihre Fähigkeiten«, sagte er stets. Wenn einer einen Fehler machte, sprach er ruhig mit ihm.
»Ich weiß, daß dies ein Ansporn für Sie ist. Kommt eben nicht wieder vor, nicht wahr? Auch mir passiert mal ein Fehler. Wir werden das Malheur jetzt nach Kräften ausbügeln, mein lieber …«
Und Rüdiger Schmidt, Hans Windung oder der gute alte Scheibner entfernten sich erleichtert und total motiviert. Sie mochten ihren Chef zwar nicht direkt, aber sie schätzten seine Führungsqualitäten. Das genügte vollauf.
Richard öffnete das Garagentor vom Auto aus mit der Fernbedienung. Als er dann die Villa betrat, stellte sich das vertraute Wohlgefühl ein. Es war sein Haus. Lucie und er hatten es erst vor rund zehn Jahren bezogen. Zwei Jahre nach dem Tod des Alten. Er hatte es einfach nicht länger ausgehalten in dessen lausigem Protzkasten, der so gar nichts mit ihm zu tun hatte.
Alles hatte dort den Stempel des Schwiegervaters getragen. Hier dagegen zeugte jeder Winkel von Luxus und Geschmack. Und von seiner besonderen Fähigkeit, Wünsche und Ideen in die Tat umzusetzen.
Seine Frau kam ihm in der Diele entgegen. Lucie, in einem weißen Wollkleid, die großen Naturperlen in den Ohren, eine kühle und elegante Frau. Eisfee. Selbst in ihrer Stimme klirrten Eiskristalle.
Sie küßten sich leicht auf den Mund. Lucie betrachtete ihren Mann forschend. Einen Augenblick lang fürchtete er, sie könnte ihm sein Abenteuer ansehen, den Geruch der fremden Frau wahrnehmen oder eine Veränderung seiner Ausstrahlung wittern. Aber sie fragte: »Wie war Berlin? Anstrengend natürlich. Hast du erreicht, was du wolltest? Du siehst aus, als ob du ein Bad und einen Whisky brauchst.«
»Du hast mal wieder recht. Fangen wir mit dem Whisky an? Bei Tisch berichte ich dann in aller Ruhe. Wo steckt Angela?«
»Sie übernachtet heute bei Claudia. Ganz dicke Freundschaft im Moment.«
»Bist du sicher, daß Claudia sich bei näherem Hinsehen nicht als Claudius entpuppt?«
»Sicher kann man nie sein. Ich kenne Claudia zwar, aber vielleicht wird sie nur vorgeschoben. Andererseits wissen wir, daß Angela ein recht vernünftiges Mädchen ist. Sie haben ein distanziertes Verhältnis zum Sex heutzutage. Du weißt doch: Schon als Kind, mit sieben etwa, konnte sie aus Knete einen kleinen Penis formen. Wir waren damals regelrecht erschrocken.«
»Wirklich? Ja, wenn ich jetzt überlege … ich hatte es wohl verdrängt. Eltern sehen ihre Kinder ungern als sexuell gesteuerte Wesen, nicht wahr?«
»Sie beherrschen die Theorie, nicht die Praxis.«
Richard nickte.
Lucie hatte zu Anfang ihrer Ehe ebenfalls die Theorie beherrscht und die Praxis bei ihm erlernen wollen.
»Ich bin noch Jungfrau. Du mußt mir alles beibringen, Richard!«
Er war erstaunt gewesen, wie wißbegierig, unbefangen und unersättlich sie anfangs gewesen war. Und so jung. Es hatte aufgehört, als sie schwanger wurde. Ihre ehelichen Zärtlichkeiten hatten sich friedlich eingependelt.
Richard duschte und kleidete sich in seinem Schlafzimmer an: weißes Hemd, Weste im Paisley-Muster, bequeme graue Hose. Schwarze Socken zu schwarzen Slippern und selbstverständlich ein schwarzer Ledergürtel. Schuhe und Gürtel sollten immer in der Farbe zueinander passen. Das hatte ihm sein Lieblingsprofessor vorgelebt. Er hatte ihn kopiert, wo es nur möglich war. Und immer noch fragte er sich in brenzlichen Situationen, was den Benimm anbelangte: Wie hätte Prof. Wilke jetzt reagiert?
Duschen und Umkleiden nach der Arbeit gehörten für Richard, den Sohn eines kleinen Beamten, zum Luxus, den er sich jetzt erlauben durfte. Und zu diesem Wohlgefühl gehörte auch der Drink vor dem Essen, den Lucie und er im Wintergarten nahmen, wo Unmengen tropischer Pflanzen Urlaubsstimmung vorgaukelten.
Bei Tisch servierte Anton Brant die Mahlzeiten, die seine Frau Gerlinde kochte, buk und briet. Ehepaar Brant, das in einem Seitenflügel der Hornungschen Villa wohnte, sorgte für die Universalbetreuung seiner Arbeitgeber. Er chauffierte auch bei Bedarf. Sie leitete Putzfrau und Gärtner an, kümmerte sich um Einkauf und Küche, während ihr Anton für den Weinkeller zuständig war.
Jetzt präsentierte Anton mit Grandezza die Hauptschüssel: Tafelspitz, mit Gemüsen umlegt. Mit drei Saucen folgte ihm Gina, das Mädchen mit Abitur, das sich hier Geld für die Ausbildung zur Kunsttischlerin verdiente. Das sagte Gina jedenfalls. Sie war die Tochter eines Italieners und einer Deutschen, die mit neuen Partnern lebten und sich nicht um ihre beiden Töchter kümmerten. Gina selbst scheute feste Bindungen und wohl auch ein festes Lebenskonzept.
Richard konnte nie umhin, ihren besonders hübschen Po zu bewundern, und sie wußte es und servierte ihn schnuckelig zu allen Mahlzeiten.
Selbstverständlich hätte Richard niemals eine Liebschaft im eigenen Hause angefangen. Gina war wenig älter als Angela. Kein grundsätzlicher Hinderungsgrund. Aber nicht im Kirchspiel!
»Ich war heute in der Kunstausstellung ›Neue Amerikaner‹«, berichtete Lucie.
»Und?«
»Na ja. Immerhin gab es Warhols und Rauschenbergs. Man dachte doch beinahe schon, sie wären nur Illustrationen in Zeitschriften. In natura sind sie eindrucksvoller. Zwei Koons waren da. Diese Porzellangruppe, wo er mit seiner angetrauten Nymphe schläft. Jetzt sind sie längst geschieden, aber hier ist ihr Geschlechtsverkehr für eine Ewigkeit festgehalten.«
»Merkwürdig. Diese kleine Prostituierte, die so viel von sich reden machte? Das Werk möchte ich nicht im Hause haben, obwohl es zumindest originell wäre.«
»Ich mag Sachen nicht, deren Preis den Grad ihrer Wertschätzung bestimmt.«
»Es sollte umgekehrt sein.«
Friedliche Stimmung. Gepflegtes Heim. Gina räumte die Teller ab. Von rechts. Anton stellte Schälchen aus Kristall für den Nachtisch hin und brachte die Schale mit in Weißwein gedünsteten Pfirsichen.
»Ah, Pêche Cardinal«, sagte Richard und dachte: Wolf im Schafspelz! Du spielst hier heile Welt und kommst aus dem Bett der anderen. Duft und Schweiß der fremden Frau, nur oberflächlich abgeduscht.
Und während er an Britta dachte, meldete sein Körper die Sehnsucht nach ihr. Er mußte sie wiedersehen. Er brauchte es! Natürlich wollte er Lucie nicht verletzen, obwohl sie ihn manchmal mit ihrer kühl bestimmten Art zur Weißglut brachte.
Nicht einmal sich selbst gestand er ein, daß er Angst vor Lucie hatte. Nicht im Bett, da war er immer noch der King. Aber auf anderen Gebieten dominierte Lucie. Sie war selbstsicher, spielte besser Golf als er, wußte, wen man wozu einlud und wen überhaupt nicht. Und sie heuchelte nicht, wenn es um guten Geschmack ging. Sie hatte ihn. In ihren Kreisen wurde man selbstsicher geboren.
Sogar ein Dummkopf mit erstklassiger Kinderstube genoß mehr Ansehen als der tüchtige Kerl aus dem Kleinbürgertum. Richard wußte, daß sie ihn ›Landei‹ und ›Erbschleicher‹ nannten, hinter seinem Rücken, aber nicht so leise, daß er es nicht vernommen hätte.
Gewiß, er hatte sich durchgesetzt. Niemand schnitt ihn. Keiner schlug mehr diesen herablassend jovialen Ton an, den sie für Emporkömmlinge parat hatten. Doch er konnte nicht wirklich sicher sein. Nie! Wenn etwas geschah, würden sie ihn fallenlassen. Wenn Lucie sich von ihm abwandte, konnte er sehen, wo er blieb.
Aber es funktionierte ja. Er hatte allen Grund, mit sich zufrieden zu sein. Warum nur war er bereit, alles aufs Spiel zu setzen für diese kleine Abenteuerin, die er doch kaum kannte?
Natürlich war es der Sex. Dieses ganz und gar Animalische. Das Stammhirn triumphierte. Kampf und Liebe hatten ihren eigenen Motor. Auch bei Lucie? Er konnte es sich nicht vorstellen.
»Ich gehe nachher zu meinem Bridge-Abend«, sagte sie gerade. »Dabei wollen wir auch gleich den nächsten Bazar für unsere Spastis besprechen.«
Das war typisch Lucie. Sie engagierte sich in Wohltätigkeitsunternehmungen und sozialer Arbeit, und die Behinderten, die dort betreut wurden, nannte sie ›Spastis‹. Das war irgendwie zynisch. Sie hatten eine erwachsene Tochter miteinander. Sie lebten zusammen, und doch wurde Richard nach all den Jahren nicht wirklich schlau aus ihr.
Er wußte nicht warum, aber diese Bemerkung über ›ihre Spastis‹ gab endgültig den Ausschlag für seinen Entschluß: Am Dienstag würde er nach Berlin fahren. Er würde Britta wieder in seinen Armen halten.
Anton reichte die Pfirsiche herum wie ein Juwelier, der dem potenten Kunden seine Edelkollektion präsentiert. Gina schwänzelte mit dem Himbeerpüree hinterher.
Den Mocea tranken die Hornungs im Wintergarten, wie immer. Lucie nahm eine der beiden langen, dünnen Zigaretten, die sie täglich rauchte. Richard gab ihr Feuer mit einem goldenen Feuerzeug, das er ihr einmal geschenkt hatte. Es war ein kleines Ritual.
Beide wußten, daß Angela sehr viel rauchte, viel zu viel, aber sie sprachen nicht darüber. Was nicht erörtert wurde, existierte nicht. Ein Grundsatz, der von Lucie stammte. Sie hielten sich daran.
Am Dienstag morgen landete Richard in Berlin Tegel. Er war gelassen und eher ein wenig unzufrieden als voller glücklicher Erwartungen. Das passierte ihm häufig, wenn die Erfüllung eines Wunsches nahe war. Aber er wußte, daß sich dieser Zustand bald ändern würde.
Seinen Körper erfüllte schon eine Vorahnung. Die geschmeidige Frau in seinen Armen würde ihn auch seine Skrupel vergessen lassen: ein Ehemann auf Abwegen!
Lucie hatte er erzählt, er sei in Leipzig. Sein Hotel dort war bereits gebucht. Nachher wollte er von Berlin aus zu Hause anrufen und so tun, als sei er schon in Leipzig eingetroffen. Lucie würde keinen Kontrollrückruf machen. Und in zwei oder drei Tagen würde er in Leipzig erreichbar sein. So einfach sah es aus.
Er hatte seiner Frau bisher wenig Grund zu Eifersucht und Argwohn gegeben. Die Sache mit Britta war eine Ausnahme. Bribri würde bald zurückkehren nach New York. Die Affäre war zeitlich begrenzt.
Er rief vom Flughafen aus im Grandhotel an. Es war klüger, wenn man angemeldet erschien.
»Bitte Zimmer drei-sechzehn!«
»Wen möchten Sie sprechen?«
»Frau Hugendübel.«
»Ich verbinde.«
Eine Zeitlang lauschte er dem Summen in der Leitung, dann meldete sich die Männerstimme wieder: »Bedaure, es meldet sich niemand.«
Richard war etwas enttäuscht. Doch wahrscheinlich schlief Britta noch fest um diese Zeit. Er wußte so wenig von ihr.
Er nahm ein Taxi. Im Hotel sah der Mann an der Rezeption uninteressiert ins Leere. Richard schaute im Vorbeigehen flüchtig auf das Schlüsselbrett. Die Stelle für ›316‹ schien leer zu sein. Also war sie da. Denn sie würde doch wohl den Zimmerschlüssel mit dem dicken Knopf nicht irgendwohin mitnehmen?
Er nahm den Aufzug. Das Hotel schien noch im Schlaf zu liegen. An der Tür von 316 hing das Schild mit der Seite ›Bitte nicht stören!‹ nach oben.
Tausend Gedankensplitter und Gefühle wirbelten ihm im Bruchteil einer Sekunde durch Kopf und Herz. Was war? Schlief sie? War ein Kerl bei ihr? War sie umgezogen? Abgereist? Wohnte vielleicht schon ein anderer Gast hier? Wollte sie ihn nicht empfangen und hatte sich deshalb verbarrikadiert, nachdem das Telefon geklingelt hatte?
Hirngespinste. Und trotzdem: Sein Herz schlug hart. Er fühlte sich merkwürdig angespannt. Es war eher ein Fluchtinstinkt als der Wunsch nach Klarheit. Geh und kümmere dich um gar nichts. Hake die Geschichte ab. Lege sie ab unter der Rubrik ›Erinnerungen‹.
Er klopfte. Man kehrte nicht um, das würde man sich nie verzeihen. Er horchte. Klopfte noch einmal. Gedankenlos drehte er am Türknopf. Die Tür war ja gar nicht geschlossen.
Als er leicht dagegendrückte, öffnete sie sich zu einem Drittel und gab den Blick frei auf etwas, das Richard einen Augenblick lang nicht glauben wollte. Was er sah, mußte eine überspannte Reaktion seiner Nerven sein.
Zwei hellgrüne Sessel waren umgekippt. Einer davon war mit Platschen roter Farbe und hellgrauem Schaum befleckt. Hinter diesem Sessel lugten auf dem grauen Velours des Bodens zwei Beine in schwarzen Hosen und schwarzen Schuhen hervor. Solche Beine gab es in Scherzartikelgeschäften zu kaufen. Richard wußte das, weil er einmal gegen Abend beim Joggen im Park selber beinahe darauf hereingefallen war.
Die Beine hatten in der Dämmerung aus dem Gebüsch auf den Weg hinausgeragt. Er hatte sie für die Beine eines Toten gehalten und schon im Lauf gestockt, als er Kichern und Prusten von Kinderstimmen aus dem Gebüsch hörte. Er war weitergelaufen, aber der Schreck hatte noch nachgewirkt, seinen Puls beschleunigt und Leere im Kopf hinterlassen.
Wie jetzt. Aber diesmal war es Wirklichkeit, da gab es keinen Zweifel. Er stockte, schaute den Gang in beiden Richtungen entlang, sah sich sozusagen selbst zu, als er nun vorsichtig eintrat und die Tür schloß, gesteuert ausschließlich von seinen Instinkten.
Er erblickte den toten Mann. Er wunderte sich, daß er nicht stärker entsetzt war. Ein Mann ohne Gesicht. Er lag auf dem Rücken in einer Blutlache, die das karierte Jackett, die Hose, die Socken durchtränkte. Der Sessel war mit dem vollgespritzt, was wohl einmal sein Kopf gewesen war. Er hatte nur noch einen Rest davon. Eine furchtbare Hinrichtung hatte hier stattgefunden.
Wer immer es getan hatte, er war auf Nummer Sicher gegangen: Keine Chance für den Delinquenten. Und für Britta? Die Erkenntnis stürzte auf Richard ein: Sie mußte irgend etwas mit der Sache zu tun haben!
Er zwang sich, sich umzuschauen, weiterzugehen. Die Beine wollten ihm den Dienst versagen. Er räusperte sich und sagte vorsichtig: »Britta!«
»Britta? … Britta!« Seine Stimme wurde lauter. Wie ein Roboter marschierte er ins Bad. Da lag ihr Negligee auf dem Hocker. Ein Duft von Parfüm hing im Raum. Keine Britta.
Richard ging ins Schlafzimmer, schaute in den begehbaren Ankleideschrank. Dort hingen und lagen ihre Sachen, natürlich konnte er nicht feststellen, ob sie vollständig waren. Auf der Bank für das Gepäck standen Brittas nachgemachter Vuitton-Koffer und die Reisetasche.
Britta war also nicht da. Weder lebendig noch tot. Erst jetzt ging ihm auf, daß er selber in Gefahr schwebte. In Gefahr, hier entdeckt, erkannt, hineingezogen zu werden in eine finstere Mordgeschichte, die begonnen hatte als federleichte Affäre. Die konnten ihn gar für den Täter halten! Bestenfalls wäre er entlarvt als Herr auf Abwegen, Seitenspringer unter falschem Namen im zweifelhaftesten Milieu. Lucie würde ihm das nie verzeihen!
Sie würde ihn fallenlassen wie eine heiße Kartoffel, das stand eisern fest. Sie würde ihn abschaffen wie einen Hund, der plötzlich bissig wird. Es wäre sein Ruin! Die Boulevardpresse schlägt zu. Seine unfehlbaren Geschäftspartner distanzierten sich von dem Aufsteiger, dem sie nie getraut hatten. Solche Fälle klamüserten sich Drehbuchautoren aus, aber hier war die Hauptrolle mit ihm besetzt, mit Richard Hornung ganz persönlich. Wenn er nicht aufpaßte!
Augenblicklich spürte er den Adrenalinstoß. Neue Kraft. Sich umschauen. Handeln. Zwei Schritte bis zur Tür. Vorsichtig auf den Gang hinausspähen. War jemand vorbeigekommen? Nein, wohl nicht. Von links schob gerade ein Zimmermädchen ihren Wagen mit frischen Handtüchern, Bettwäsche und Putzmitteln in seine Richtung und parkte ihn drei Türen weiter.
Er zog die Tür leise von innen zu, wartete etwas, sah vorsichtig abermals hinaus. Der Wagen stand da. Sie war verschwunden. Richard trat aus der Tür, wischte eilig den Knauf, den er berührt hatte, mit seinem Staubmantel ab, zog die Tür zu, achtete darauf, daß ›Bitte nicht stören‹ wieder lesbar war, hastete den Gang entlang, die Treppen hinunter, sie waren leer, alle ordentlichen Leute fuhren im Aufzug. Er gehörte zur Zeit nicht dazu.
Irgendwo gab es in jedem Hotel Hinterausgänge. Er kannte von einem früheren Besuch her die Sauna im Keller. Von da aus konnte man ins Freie gelangen. Er ging durch den Heizungstrakt. Daneben schien die Wäscherei zu sein. Er trat möglichst sicher auf. Falls ihn jemand sah, konnte er ihn für einen Ingenieur oder einen kompetenten Hotelangestellten halten. Jedenfalls hoffte er das. Aber er traf zum Glück niemanden.
Dann war er draußen, auf einem Hof, auf dem Lieferwagen und wenige Privatwagen parkten. Auch hier war niemand zu sehen. Es erschien ihm wie eine Fügung, ein Wunder, das Zeichen einer wohlwollenden Macht.
Auf der Straße brach ihm der Schweiß aus. Sein Magen revoltierte. Er zitterte am ganzen Körper. Er war in Gefahr umzusinken.
Mit großer Willensanstrengung zwang er sich zum Weitergehen. Nicht schlappmachen! Du hast nichts getan! Du hast etwas gesehen, aber nichts getan! Du konntest nicht helfen! Der Mann war tot. Also hast du nichts unterlassen. Britta ist fort. Sie ist entweder schon vor dem Mord ausgezogen, vielleicht zu einem anderen Mann, bestimmt ist sie da nicht heikel. Oder sie ist geflohen. Oder … tot? War sie in diese Geschichte verwickelt?
Im Grunde wußte er wenig von Britta. Sie war entzückend im Bett. Das war's dann aber auch.
Richard erschauerte. Der Tote in Nummer 316 erschien vor seinem inneren Auge, dieser furchtbar zugerichtete Mensch. Jetzt hieß es, egoistisch zu sein, klug und umsichtig zu reagieren, die eigene Haut zu retten. Das hieß vor allem: schleunigst aus Berlin zu verschwinden!
Richard stieß auf einen U-Bahnhof und löste einen Schein. Er stieg mehrmals um, bis er schließlich den U-Bahnhof Zoo erreichte. Von da aus nahm er den Zubringerbus zum Flughafen, buchte den nächsten Flug nach Leipzig, wartete fast gedankenlos und völlig erschöpft auf den Abflug.
Im Flugzeug bestellte er sich einen Cognac, und als die Stewardeß ihm das Glas reichte, zitterte seine Hand. Seine Nachbarin sah ihn auf diese Weise an, mit deren junge Frauen Tattergreise bedenken. Eher abfällig als mitleidig. Blöde Zicke. Noch vor sehr kurzer Zeit hatte eine Jüngere, viel Hübschere in seinen Armen gezittert.
In Leipzig fuhr Richard mit einem Taxi ins Hotel. Er nahm seinen Schlüssel in Empfang und begab sich auf sein Zimmer, von wo aus er zu Hause in Rendsburg anrief. Lucie war nicht da. Gina flötete, sie werde bestellen, daß alles in Ordnung sei.
»Wiederseh'n, Herr Hornung, schönen Tag noch!«
Alles in Ordnung! Schönen Tag noch! Warum nicht? Er war gerettet. Die winzigen Flaschen im Barschrank reichten nicht aus zur Feier. Er ließ sich eine Flasche Whisky aufs Zimmer bringen und trank ihn ohne Eis, mit großen, langen Schlucken.
Einige Sekunden lang war ihm, als sei das alles gar nicht passiert. Ein Traum, eine Erinnerung an eine Fernsehsendung vielleicht. Dann kehrte die Wirklichkeit mit vermehrter Kraft zurück. Er rannte ins Bad und übergab sich. Danach war ihm wohler. Er packte seine Reisetasche aus. Ein Wunder, daß er sie nicht in Panik irgendwo verloren oder vergessen hatte. Er duschte, zog sich um und bestellte ein Taxi. Dann fuhr er zu dem Kabelwerk, das er nach der Wende mit aufgebaut hatte. Es war wie zu Hause. Sie mochten ihn nicht, aber sie schätzten ihn. Besonders, seit man schwarze Zahlen schrieb. Es war richtig und wunderbar, jetzt normal weiterzuleben. So zu tun, als wäre nichts geschehen. Bis man selbst daran glaubte.