9. Kapitel
Es war ein kalter Abend. Im Park war es schon vorbei mit der Blütenpracht. Die Krähen aus Polen und Rußland, für die Berlin und seine Umgebung eine Sommerfrische in ihrem Winter darstellte, versammelten sich für die Nacht unter apokalyptischem Gekrächze in einzelnen Bäumen, die unter ihrer Last zu wanken schienen und wirkten wie mit großen, schwarzen Früchten überladen.
Bernd Wedel empfand das triste Ambiente als durchaus passend zu seiner Stimmung. Der Fall ›Mord im Hotel‹ drückte auf Gemüt und Magen. Es ging nicht voran. Die Leute im Hotel waren entweder doof, oder sie schwiegen aus Angst. Herrgott, es mußte doch möglich sein, die beiden Gäste aus dem Mordzimmer im Grandhotel aufzuspüren. Sie hatten sich doch nicht in Luft aufgelöst!
Der Zimmermann wollte den Fall im Fernsehen vorstellen. In seiner Sendung Aktenzeichen XY ungelöst, die vielleicht ein bißchen bieder, aber jedenfalls recht erfolgreich war. Hunderttausend Laien als Detektive, Sheriffs und Kommissare lebten Jagdinstinkte aus. Da wurde der verständliche Wunsch nach Recht und Ordnung und manchmal wohl auch der Hang zum Petzen aktiviert, der schon kleinen Kindern eigen war.
Als Fachmann fühlte man sich zwiespältig, wenn man solche ungebetene Hilfe bekam. Machte auch viel Arbeit. Dumme Tips von Übereifrigen. Privaten Feinden sollte eins ausgewischt werden. Trotzdem fanden die blinden Hühner öfter ein Korn.
Wedel eilte durch den Park nach Hause. Totensonntagstimmung. Gut, wenn man seine Oase hatte. Monica würde das Essen fertig und den Wein zum Öffnen hingestellt haben.
Mady Saparonsky hatte ihm heute nachmittag ihre Theorie mitgeteilt, fix und fertig aus der Jeanstasche: Dealer-Ehepaar wollte an Kurier liefern. Andere kriminelle Bande war ebenfalls interessiert. Sie drangen ins Hotelzimmer ein, erschossen den Kurier und … und … ja, wie war es? Jaaa. Sie nahmen die Frau mit und töteten sie unterwegs. Auch den Mann fingen sie vor dem Hotel ab und karrten ihn ebenfalls zu der bewährten und beliebten Mülldeponie. Peng! Yes, Sir!
Jeden Tag stand so etwas in der Zeitung. Chicago war längst auch in Berlin. Aber Wedel wußte: An diesem Fall war irgend etwas faul. Er fühlte das unangenehme Kribbeln das Rückgrat hinunter, wenn er daran dachte. Und die Gedanken drängten sich in seine Freizeit, das war gar nicht gut.
Wenn die Russen-Mafia dahintersteckte, war Aufklärung ziemlich aussichtslos. Die italienische Mafia funktionierte immerhin nach gewissen Regeln, aber bei der Ost-Kriminalität herrschte das organisierte Chaos. Viele kochten da ihr Süppchen. Manche arbeiteten noch für'n Appel und 'n Ei.
Es gab angeblich Tarife: Finger brechen: dreihundert Mark. Einfacher Mord: tausend Mark. Mit Benzin übergießen und anstecken wurde teurer. Drei Schüsse für eine Person signalisierten angeblich eine Strafaktion, und das in etwa konnte auf den Toten im Hotel zutreffen, wenn man es großzügig auslegte. Konnte, mußte nicht.
Die Mitglieder der Banden rekrutierten sich nicht nur aus ihren Mutterländern. Nach der Auflösung der russischen Standorte in den neuen Bundesländern waren Ex-Soldaten gestrauchelt, aus Angst, in ihrer Heimat keine Wohnung zu bekommen, aus Abenteuerlust, was auch immer. Ein Motiv gab es stets. Meistens ging es um Geld. Sehr viel Geld oder nicht so sehr viel – auch das war schließlich relativ.
Monica und Bernd Wedel sahen sich die Sendung ›XY – ungelöst‹ zusammen an. Ihr ›Fall‹ war nachgestellt, soweit das nach den bisherigen Erkenntnissen möglich war.
Sie hatten Schauspieler genommen, die ein bißchen den Phantombildern ähnelten. Eine Stimme im Off belehrte jeweils darüber, ob es sich gerade um eine Erkenntnis oder um eine Vermutung handelte.
Das Erscheinen des Opfers wurde riesig ausgemalt, ein liebevoll inszenierter Mord. Die kleine Frau versteckte sich hinter dem Sessel, doch die Banditen zerrten die Schluchzende hervor und nahmen sie mit. Der reale, gefährliche Bastelkasten wurde gezeigt. »Wer kann Angaben dazu machen? Wer kennt einen der Beteiligten? Hinweise nimmt …« und so weiter.
Wedel stöhnte auf: Jetzt trat doch wirklich sein Chef in Erscheinung! Das hatte das Aas sich nicht nehmen lassen. Einerseits war Wedel gekränkt, war es doch sein Fall. Andererseits aber, im Grunde seines Herzens, fühlte er sich auch erleichtert. Er war nun mal kein Mann der Öffentlichkeit.
Sein Chef stellte sich in Positur und warnte: »Die Szene ist besonders gefährlich. Bitte, unternehmen Sie nichts auf eigene Faust.«
Es tat Wedel wohl, daß Monica sagte, der Schlips von Herrn Brettschneider sei ja schauderhaft, und seine Haarsträhnen über der Glatze hätte er auch etwas geschickter färben können.
»Der Kerl hat mich ausgetrickst«, sagte er.
»Mensch, Bernd, mein Hase. Sei doch froh. Hättest dich da von jungen Schnöseln rumkommandieren lassen müssen. Du magst doch solche Sachen gar nicht. Hast du doch auch wirklich nicht nötig.«
»Hast ja recht. Trotzdem …«
»Hauptsache, es bringt etwas, irgendeine Erkenntnis.«
»Na, da bin ich skeptisch.«
Ausnahmsweise war sein Skepsis unangebracht.
Es gab drei recht interessante Anrufe. Zwei der Tips erwiesen sich trotzdem als Fehlschläge, aber der dritte war endlich die Stecknadel im Heuhaufen.
Eine Frau hatte angerufen. Wedel fand es in diesem Falle richtig, Mady Saparonsky mitzunehmen, denn so ein Gespräch von Frau zu Frau löste oft die Zungen.
Die Frau hatte Angst. Das merkte er schon am Telefon. Sie wollte gar nicht bei sich zu Hause aufgesucht werden.
»Lieber irgendwo im Café? Oder ich kann ja auch hinkommen?«
Wedel beruhigte sie.
»Meine Kollegin und ich sind in Zivil. Wir sehen ganz normal aus. Kein Mensch wird sich etwas dabei denken. Wir könnten von der Versicherung sein oder von den Zeugen Jehovas.«
Er lachte probeweise, aber sie lachte nicht mit.
»Na, meinetwegen.«
Er schrieb die Adresse auf.
Wedel und Saparonsky wurden vom Ehemann empfangen. Er hieß Klaus Weiss, und Mady scherzte später, sie fände, er müsse eigentlich Nase Weiss heißen. Er war der Typ, der in Berlin nicht eben selten ist: weiß alles, kann alles, sagt alles.
Frau Weiss sagte, sie habe sich lange nicht getraut, die Polizei zu verständigen.
»Man will ja in nichts reingezogen werden. Aber jetzt – es gibt doch eine Belohnung, nicht? Also, ich meine, mein Mann sagt auch … nicht, Klaus?«
»Nu mach mal, Rita.«
»Es bleibt unter uns, Frau Weiss.«
Mady fügte hinzu: »Wenn der Tip zur Ergreifung des Täters oder der Täter führt, gibt es auch die versprochene Belohnung, Herr Weiss.«
Frau Weiss gab sich einen Ruck. »Also, kurz bevor die Sache, also, dieses Verbrechen, im Fernsehen gemeldet wurde, hab' ich in unserer Straße was gesehen. Na, es kam mir irgendwie komisch vor, aber weiter hab' ich mir nichts dabei gedacht. Mir ist erst danach aufgegangen, daß das vielleicht die Frau war. Da wurde doch so eine Zeichnung gezeigt, ich sag' zu meinem Mann, du, die kenn' ich, na, ich kenn' sie nicht, aber gesehen hab' ich sie, wo bloß?«
»Rita, nu quassel nich rum. Erzähl der Reihe nach.«
»Na ja, ich kam vom Einkaufen. Hatte zwei schwere Tüten, wird ja immer mehr, als man denkt. Da geht die Tür vom Fischladen auf. Also dieser Laden mit den Stufen zwei Häuser weiter. Ist gar kein richtiger Laden, ich seh' da auch nie jemand kaufen, aber teure Autos stehen da oft rum. Die Frau sah aus wie die im Fernsehen …«
»Rita, der Reihe nach!«
»Also, einer guckt aus dem Laden raus, nach rechts und nach links, ich war noch ein Stück davor. Dann kommt ein häßlicher alter Knopp raus, sah aus, als hätte er einfach einen Mantel über seinen Pyjama gezogen, hatte aber ne Mütze auf, so eine, wie der Mark Goellner immer verkehrtrum trägt, und er hat eine ganz junge Frau untergehakt. Die sah aber erbarmungswürdig aus, ganz verängstigt. Irgendwie hatte ich das Gefühl, daß sie nicht freiwillig mitging.«
»Erzähl dem Kommissar von den anderen Kerlen.«
»Aus der Tür guckte einer, der sah aus wie der Sascha Hehn früher, hübsch. Mehr hab' ich nicht hingeguckt. Es wäre zu auffällig gewesen.«
»Aber du hast doch gesehen, wie der Olle mit der Kleenen in det Auto stieg, Himmel noch mal, Rita!«
»Du läßt einen ja nicht zu Wort kommen. Also, der Alte und die junge Frau stiegen in ein Auto, wo auch so Politiker drin fahren, lang und schwarz, wohl Mercedes, aber ich hab' nicht extra drauf geachtet. Mit Chauffeur. Sie stiegen beide hinten ein, und los ging's. Jetzt, wo ich es Ihnen erzähl', kommt es mir gar nicht mehr so aufregend vor. Oder doch?«
Wedel lächelte sie an, so nett er konnte.
»Oh, das kann man so nicht sagen. Wir gehen der Sache nach. Es war unbedingt richtig, mit uns zu sprechen, Frau Weiss. Herr Weiss, wir wissen Ihre Courage zu schätzen. Benehmen Sie sich in der nächsten Zeit bitte ganz normal. Wenn Sie einkaufen, schauen Sie nicht extra zu dem Laden hin. Zeigen Sie kein Interesse, wenn jemand rauskommt oder reingeht. Das gilt für Sie beide, bitte.«
»Wir dürfen jetzt keinen Argwohn erregen. Wenn etwas dran ist an Ihrer Beobachtung, hängt sehr viel von Ihrem Verhalten ab«, kämpfte Mady Saparonsky um das letzte Wort. Das kleine Luder wollte sich nicht abhängen lassen.
»Vielen Dank, daß Sie sich zu dieser Aussage entschlossen haben. Ordentliche Bürger sollten zusammenhalten«, erklärte Wedel markig und reichte beiden Weissens die Hand. Kein Wort davon, daß sie sich früher hätten dafür entscheiden müssen. Das brachte eh nichts mehr.
Klar, es war ein Zufall. Keine Tüchtigkeit, keine überwältigende Kombinationsgabe. Einfach Kommissar Zufall. Warum auch nicht? Er hatte oft die Hand im Spiel. Aber jetzt kam die Feinarbeit. Vielleicht steckte ja auch gar nichts dahinter. Doch Wedel hatte ein gutes Gefühl. Und Mady sagte von sich aus, sie habe in diesem Falle ›ein mächtig gutes Feeling‹.
Also wurde der Laden so unauffällig wie möglich observiert. Wenn einer der beiden Lieferwagen ›Seafood Murmansk‹ losfuhr, folgte ihm jeweils ein ziviler Fahnder, im Golf oder im Renault, auch ein privater Ford und sogar ein Audi kamen dran.
Zwei Tage und Nächte lang stellte sich das Unternehmen Fischladen als völlig unergiebig dar. Die lieferten Dosen und lose Muscheln in Eis an Restaurants und Geschäfte aus. Wedel war nahe daran, zu resignieren. Saparonsky legte sich zu Hause die Tarot-Karten und hatte daraufhin weiter ›ein gutes Feeling‹.
Dann, am dritten Tag, gab es den Durchbruch: Der eine Lieferwagen kurvte aus der Stadt hinaus und bog schließlich in die imposante Einfahrt zu einer Villa ein. Das Tor öffnete und schloß sich automatisch.
Der junge Beamte meldete Wedel die Entdeckung über Funk. Er hatte ein bißchen spioniert:
»Natürlich hätte hier eine Party stattfinden können mit Köstlichkeiten von ›Seafood Murmansk‹ auf dem kalten Buffet. Aber der Lieferwagen ist hiergeblieben, steht neben der Villa, fünfzehn Meter von einem kleinen See entfernt. Direkt vor der Villa parkt ein Sportwagen, nichts Besonderes, mehr sportlich als Sport. Draußen am Tor steht ›Im- und Export GmbH‹. Sieht alles reich und edel aus. Muß früher ein Freizeitheim für SED-Bonzen gewesen sein oder so. Und eben fuhr ein langer, schwarzer Mercedes vor.«
»Ein Mercedes?«
»Sag' ich doch. Soll ich weiterhin dem Lieferwagen folgen?«
»Ja. Aber erst mal will ich die genaue Adresse. Haben Sie die Karte zur Hand? Quadrat? Straße?«
Der Beamte machte präzise Angaben. Die Gegend stimmte. Da gab es diese Villen und Schlösser, die nach 1946 von der SED enteignet und für ihre Zwecke als Gästehäuser oder Hotels für die Nomenklatur genutzt worden waren. Jetzt gab es wieder neue Eigentümer. Ein weites Feld.
Der Beamte machte präzise Angaben, und Wedel brach unverzüglich auf. Mady Saparonsky nahm er mit. Schließlich oblag ihm a) ihre Ausbildung, und war es b) auch nicht übel, eine hübsche Frau in der Nähe zu haben. Selbst wenn es eine von der vorlauten Sorte war.
Auf einmal klappte es auf der ganzen Linie. Die Beamten, die mit der Verfolgung der Verdächtigen betraut waren, stellten fest, daß die Lieferwagen keineswegs nur Ware zu einschlägigen Geschäften brachten.
Jetzt, zum Monatsende, suchten ihre Fahrer vielmehr, immer zu zweit und vorwiegend im Ostteil Berlins und seiner brandenburgischen Umgebung, in den Abendstunden diverse Etablissements auf, wobei sie nicht lieferten, sondern ganz offenbar Schutzgelder kassierten: Kneipen, Spielsalons, Eßlokale.
Aber auch am hellichten Tage betraten sie Boutiquen, Bräunungsstudios und Frisiersalons, wo sie sich weder die Haare schneiden noch den Teint auffrischen, geschweige denn ein Dreß verpassen ließen. Sie kamen vielmehr stets nach kurzer Zeit wieder heraus. Es gab also keinerlei Schwierigkeiten. Und zweimal – ein Spielsalon, ein Animierladen – war ein Angeber dabei, der aussah wie ein Filmstar.
Na also! Wedel spürte deutlich, wie er in Topform geriet. Seine Laune hob sich wie eine Rakete. Er hatte den roten Faden in der Hand. Aber Bäume wachsen nicht in den Himmel. Inzwischen gab es diesen neuen Mord.