10. Kapitel

Als Moritz Mach den Brief in den Kasten geworfen hatte, packte ihn die Angst. Er starrte wie gebannt auf den Briefschlitz und wünschte, er könne alles rückgängig machen.

Wie besinnungslos stand er da, bis eine Frauenstimme neben ihm ihn in die Wirklichkeit zurückholte.

»Darf ich mal? Oder bewachen Sie da was Bestimmtes?«

»Entschuldigung!«

Moritz trat beiseite. Jawohl, meine Dame, ich bewache hier was Bestimmtes. Etwas, das mir viel Geld einbringen soll. Er trottete davon.

Den Erpresserbrief an Richard Hornung hatte er spontan geschrieben. Jetzt stand er plötzlich vor dem Problem: Wie sollte es weitergehen?

Würde Herr Hornung den Briefschreiber ignorieren? Anzeigen? Oder würde er die Annonce in die Zeitung setzen? Harry, unser Boot ist da. Melde dich.

Wenn Herr Hornung anbiß, mußte man es sehr klug anfangen, damit man sich nicht selber ans Messer lieferte. Es wäre nicht gut, die Summe irgendwo hinterlegen zu lassen. Dann käme die Polizei aus dem Hinterhalt, und alles wäre gelaufen.

Nein, es mußte einen persönlichen Kontakt geben. Herr Hornung durfte ihn nicht erkennen und würde ihn später nicht identifizieren können. Der sollte ihm das Geld geben und fertig. Für einen so reichen Mann waren zehntausend Mark doch gar keine Summe.

Kein weiteres Wort mehr davon. Nichts zum Kommissar, nichts zu Frau Hornung. Ehrenwort, Herr Hornung, würde Moritz sagen.

Wenn Hornung ihn nun aber doch anzeigte? Wenn sie den armen kleinen Moritz fingen? Dann ade, Hotelkarriere, Zukunft, einfach alles ade. Tante Charlotte würde sehr sauer sein. Es war ein bißchen kindisch gewesen, diesen Brief zu schreiben. Aber je mehr Moritz darüber nachdachte, desto sicherer wurde er: Herr Hornung würde den Brief einfach ignorieren. Wenn jetzt nichts weiter passierte, war es, als wäre der Brief nie geschrieben worden.

Der Gedanke beruhigte Moritz. Er versah seinen Dienst in bester Laune. Abends in seiner Wohnung fühlte er sich wieder richtig wohl. Er liebte sein kleines Heim. Und er kochte sich Spaghetti Bolognese, die er besonders gern aß.

Nachts erwachte er mit einem Ruck. Er war schweißgebadet. Wie heller Rauch stand ihm ein Spruch vor Augen: Wer wagt, gewinnt.

Warum nicht? Warum sollt er es nicht tun? Warum nicht die Chance wahrnehmen, die er schon vorbereitet hatte? Taten das nicht alle Erwachsenen, die er kannte?

Am nächsten Morgen wollte er davon nichts mehr wissen. Heiß, kalt, heiß, kalt. Wechselbad der Gefühle. Es war ein Sonntag, aber Sonntage waren für Hotelpersonal keine arbeitsfreien Tage. Moritz hatte jedoch erst gegen Abend Dienst. Er zog eilig den Jogginganzug über und rannte hinunter zum Zeitungskiosk, wo er die Morgenpost kaufte.

Er lief sofort zurück. Schon im Hausflur versuchte er in der dicken Zeitung den Anzeigenteil zu finden, aber er war zu aufgeregt. Mehrere Seiten fielen zu Boden. Er raffte alles kraus zusammen und schloß seine Wohnung auf. Im Zimmer dann kam der Schock. Da stand es!

Harry, unser Boot ist da. Melde dich.

Moritz verließ die Wohnung wieder und steuerte eine Telefonzelle an. Aber er konnte es nicht! Er lief einfach weiter, wie häufig am Morgen. Tante Charlotte war mit irgendeinem Kerl von der Telekom in Dresden und würde erst morgen zurück sein. Moritz ging ins Kino und sah sich in der Filmbühne Wien nacheinander zwei Filme an. Der Tag wurde lang, und er war ganz erleichtert, als sein Dienst begann.

Am nächsten Morgen aber rief er von einer Telefonzelle aus bei Hornung an. Er hatte die Nummer bei sich gehabt und empfand das als merkwürdigen Anstoß zum Handeln. Es ist ein Versuchsballon, sagte er sich. Immer noch ganz unverbindlich.

Eine Frauenstimme meldete: »Hier bei Hornung.«

»Ich möchte bitte Herrn Hornung sprechen.«

Erst furchtbares Herzklopfen, dann plötzlich beinahe heitere Gelassenheit.

»Herr Hornung ist nicht im Haus. Kann ich etwas ausrichten? Wer spricht, bitte?«

»Hier Schulze-Krohn. Es ist wegen der Versicherung. Ich würde schon gern persönlich mit ihm sprechen.«

»Dann rufen Sie bitte im Büro an. Sie haben wohl die Nummer?«

»Natürlich. Danke.«

Der Damm war gebrochen. Klar, man rief so einen Mann im Büro an. Wie hieß die Firma noch? Hornung hieß sie nicht. Jetzt fiel ihm der Name nicht ein. An solchen lächerlichen Kleinigkeiten konnten also große Vorhaben scheitern.

Irgend etwas mit Sche … Scheerer … nein … Schee … nein. Es fiel ihm nicht ein. Er überlegte, ob er zu Hause anrufen und die Firma auf irgendeine Weise ins Gespräch bringen könnte. Aber das war unmöglich. Es würde selbst seiner Mutter auffallen.

Dann, mitten in der Nacht, wachte er mit einem Ruck auf. Seyboldt! Jawohl, Seyboldt. So hatte der erste Chef geheißen, und der Herr Hornung hatte die Tochter geheiratet. Von wegen See … Blödsinn, Seyboldt war richtig.

Am nächsten Morgen vor dem Dienstbeginn war Moritz schon im Postamt und suchte im Kieler Telefonbuch die Telefonnummer der Geschäftsadresse heraus. Ein Kinderspiel.

Und gegen elf Uhr, als er vom Hotel aus geschickt wurde, für eine amerikanische Revuetante eine Wimpernzange zu besorgen – er hatte noch nie vorher von der Existenz eines solchen Instrumentes gehört, erfuhr aber in der eleganten Drogerie, daß man damit in die Wimpern einen eleganten Knick nach oben machte –, nahm er die Gelegenheit wahr, eine Telefonzelle aufzusuchen. Sie war nicht kaputt. Daß sie funktionierte, erschien ihm als Bestätigung des Schicksals: Tu es!

Er wählte und preßte ein Papiertaschentuch vor den Mund. Zum Glück hatte er seine Telefonkarte. Kleingeld reichte nie bei Gesprächen nach auswärts. Außerdem litt die Konzentration, wenn ständig neue Münzen nachgelegt werden mußten.

Eine Frauenstimme meldete sich. Beinahe hätte Moritz wieder aufgelegt. Aber dann nahm das Schicksal seinen Lauf. Er brachte wieder die Geschichte von der Versicherung vor.

Die Frau fragte: »Welche Versicherung? Herr Hornung ist sehr beschäftigt.«

»Helvetia Transportversicherungen. Mein Name ist Müller-Krohn.«

Den Namen der Versicherung hatte er aus dem Branchentelefonbuch herausgesucht.

»Können wir Sie zurückrufen?«

»Ich mache anschließend Kundenbesuche. Es wäre mir schon sehr angenehm, wenn ich Herrn Hornung kurz persönlich sprechen könnte. Ich rufe aus Berlin an.«

»Einen Moment bitte. Ich erkundige mich.«

»Hornung.«

Moritz zuckte zusammen. Aber er nahm allen Mut zusammen. »Haben Sie meinen Brief bekommen?«

»Welchen Brief? Ich kriege viele Briefe.«

»Grandhotel. Wollen Sie … oder soll ich …«

Das hatte er sich vorher ausgedacht. Es klang sehr professionell, fand er.

»Lassen Sie hören.«

»Kennen Sie das Museumsdorf in Kiel? Den Kransee? Da am südlichen Ufer gehen Sie entlang. Mittwoch dieser Woche. Punkt zweiundzwanzig Uhr. Ich werde da sein. Kleine Scheine. Ich meine es ernst. Keine Polizei. Das würde sich rächen.«

»Na schön.«

Er hängte ein. Das Herz eine Dampframme.

Kaum anzunehmen, daß ein Mann wie Hornung sich auf so etwas einließ. Andererseits kam er sonst bestimmt in Teufels Küche. Moritz würde auch kein allzugroßes Risiko eingehen. Er konnte sich in den dichten Büschen am Ufer wunderbar verstecken. Selbst wenn Hornung zur Polizei ging und die Bullen mit Hunden rumstöbern würden, konnten sie Moritz gar nichts nachweisen. Seine Eltern wohnten in der Nähe. Er würde ein Fahrrad mithaben und behaupten, er radele halt abends gern noch einmal um den See.

Als er ein Junge gewesen war, hatte er sich hier wirklich oft aufgehalten. Im Sommer ankerten Boote im Schilf. Abends hörte man die glücklichen Menschen auf den Booten lachen. Musik wehte über das Wasser, Gelächter, Gesang. Sein Herz hatte sich sehnsüchtig verkrampft. Nun sollte hier sein Einstieg in ein besseres Leben beginnen.

Er wollte das Geld nehmen. Hornung würde ihn nicht erkennen, dafür mußte er noch sorgen. Rein ins Gebüsch. Weg. Mit dem Fahrrad später in die Heuhütte am Nordufer. Abschminken, umziehen. Nach Hause zu den Eltern radeln. Zwei Tage hatte er frei durch den Schichtdienst und den Tausch mit einem Kollegen. Es war nicht das erstemal, daß er kurz nach Hause fuhr. Es gab immer kleine Geschenke. Und er brauchte auch die Liebe seiner Familie. Tante Charlotte war für diese Art von Liebe nicht disponiert.

Zuerst wollte er den Führerschein machen. Dann im Urlaub durch Südfrankreich nach Spanien trampen. Da konnte er schon unauffällig Geld eintauschen. Dann würde er ein kleines, unauffälliges Auto kaufen. Die gab es schon gebraucht für zehntausend Mark. Ja, das war sein Traum. Alle Leute hatten Autos.

Es war vielleicht riskant, was er nun vorhatte. Wer wagt, gewinnt, sagte sein Vater. Und ein Lehrer hatte immer gesagt: Wille versetzt Berge.

Stimme verstellen. Großes Ehrenwort geben: nur dieses eine Mal. Nachsehen, ob kein Zeitungspapier in der Tasche war. Alles noch einmal durchgehen. Nix wie weg. Und wenn kein Geld drin war?

Rache! Anonyme Anzeige bei dem Kommissar. Mit dem war bestimmt nicht gut Kirschen essen. Mit dem legte man sich besser nicht an.

Ferner: Anruf bei der Gattin. Ihr lieber Mann in Berlin mit einer echten Zuckerpuppe im Bett. In einen Mord verwickelt. Na, gute Nacht!

Zwar war Moritz furchtbar aufgeregt. Doch das Leben funkelte und prickelte plötzlich. Er rief bei Tante Charlotte an.

»Ich brauche ein bißchen Hilfe, meinen Typ zu verändern für eine Nacht. Hilfst du mir? Es geht um eine Wette.«

»Zu wann?«

»Dienstag brauch' ich's.«

»Okay. Die Wette ist schon so gut wie gewonnen. Man wird dich nicht erkennen, Schatz.«

»Danke, Charlotte.«

Moritz lächelte vor sich hin. Ich erkenne mich jetzt schon nicht mehr, dachte er.

Richard Hornung hatte sich entschlossen, es als seine Aufgabe zu betrachten, den Erpressungsversuch unter Einsatz aller seiner Fähigkeiten scheitern zu lassen. Er sah sich als coolen, pragmatisch handelnden Geschäftsmann, der an eine Aufgabe überlegt und konsequent heranging.

Mittwochs hatte Lucie immer ihren Bridge-Abend. Diesmal war ihre Freundin Gerda als Gastgeberin dran. Er würde Lucie mit seinem Wagen hinfahren, wie er es meistens nach Möglichkeit tat, und sie nahm dann ein Taxi zurück, damit sie nach dem Spiel in angenehmer Gesellschaft noch entspannt ein paar Gläschen Wein trinken konnte.

Er würde zurückfahren und mit Lucies Wagen gen Kiel starten. Dieser Mittelklassewagen fiel – im Gegensatz zu seinem eigenen – niemandem auf. Lucie kam nie vor zwölf Uhr nach Hause. Dann würde er längst wieder zurück sein. Sie schaute nie auf den Kilometerstand, also konnte ihr auch nichts auffallen.

Er hob bei seinen beiden Banken je fünftausend Mark ab. Das tat er oft. Es war völlig unverfänglich. Eine lächerliche Summe. Die Päckchen gingen bequem in eine schwarze, lederne Aktentasche, die er früher benutzt hatte, bevor man zu Samsonites übergegangen war. Er hatte sich nie entschließen können, sie wegzuwerfen.

Er lud seine ›Makarow‹ und verstaute sie einstweilen in einer Gürteltasche, die er vor Jahren von einem Reisebüro als kleine Aufmerksamkeit erhalten hatte.

Er würde diese unangenehme Sache souverän meistern, wie er schon schwere Pannen in seinem Betrieb gemeistert hatte, vom Sieg durch Ausdauer über den alten Seyboldt mal ganz abgesehen.

Der Mittwoch war stürmisch und kalt.

Um so besser. Zeugen konnte man bei einer solchen Geschichte nicht brauchen. Mittags sagte ihm Lucie, ihre Freundin Gerda sei erkrankt. Hans Semmler fühle sich auch nicht besonders wohl. Kurz: Die Bridgepartie fiele ins Wasser.

Nun, es war ein kleines Mißgeschick, aber kein wirkliches Drama. Richard fuhr nun seinen Wagen in die Werkstatt und erkläre dem Meister, der Motor mache so ein komisches Geräusch. Der Meister, durch beachtliche Trinkgeldgaben stets zuvorkommend emsig, horchte und prüfte vergeblich. Richard stimmte zu, den Wagen dazulassen für eine genauere Überprüfung, eventuell eine Probefahrt.

»Aber morgen brauch' ich ihn wieder, Herr Stössel!«

»Klar. Das machen wir schon. Schönen Tag noch, Herr Hornung.«

»Danke gleichfalls. Kann man immer brauchen.«

Abends erklärte er Lucie, er müsse noch einmal mit dem Architekten und dem Bauherrn – »Du weißt doch, der ›Großbauer‹ mit dem Kneipentick« – verhandeln. So etwas passierte manchmal und erregte deshalb auch keinen Verdacht. Schon der alte Seyboldt hatte oft gesagt, die wirklich guten Geschäfte würden auf privater Ebene abgeschlossen.

»Leihst du mir deinen Wagen, Schatz? Meiner ist in der Werkstatt.«

»Sei aber vorsichtig. Das kostbare Stück ist an gute Behandlung gewöhnt.«

»Ich werde mir Mühe geben.«

Mühe geben. Schönen Tag noch. Allerweltssätze bekamen heute einen vertrackten Doppelsinn.

Als Lucie in ihrer ›Töpferwerkstatt‹ war – sie machte einen Keramik-Lehrgang und arbeitete auch zu Hause; gerade fertigte sie einen sehr schönen Behälter zum Verdunsten ätherischer Öle –, brachte Richard eilig die Aktentasche in die Garage und legte sie in den Kofferraum von Lucies Golf. Sie würde bestimmt nicht darin nachforschen.

Abends war es dann soweit. Er startete bereits um acht. Ein zu später Zeitpunkt hätte Verdacht erregen können. So fuhr er noch etwas umher, hielt auf Parkplätzen an und fuhr gerade rechtzeitig in Kiel-Ramsee ein, parkte dort, wo auch die anderen Autos parkten, das fiel am wenigsten auf. Und ein kleiner Anmarsch konnte nicht schaden. Eine ausreichende Entfernung vom Ort des Geschehens würde nur gut sein.

»Packen wir's an!« sagte er laut, als er ausstieg. Er nahm die Aktentasche aus dem Kofferraum und fühlte nach der Waffe in der Tasche, die er unter dem beigen Lumberjack aus weichem Nappa umgeschnallt hatte. Den leichten Mantel ließ er offen.

In dieser Gegend war es abends ruhig. Er traf keinen Menschen. Aber es wäre auch nicht schlimm gewesen. Schließlich sah er zwar gut aus, aber nicht auffällig. So wie er waren hier viele Männer gekleidet.

Richard marschierte zügig in Richtung Kransee und verlangsamte das Tempo, als er den Uferweg erreicht hatte. Zweiundzwanzig Uhr, er war pünktlich. Hoffentlich war der Erpresser es auch.

Er durfte jetzt keinen Fehler machen. Sein Herz schlug gleichmäßig. Er war angespannt, aber nicht nervös. Kraftvoll und gesammelt wie vor einer großen geschäftlichen Transaktion.

Er hatte seine dünnen Lederhandschuhe angezogen und hielt die Tasche mit der Linken vor den Bauch gepreßt. In der Rechten hatte er die 9-Millimeter-Pistole. Entsichert und einsatzbereit.

Natürlich wußte jedes Kind, daß man einem Erpresser niemals nachgeben darf. Sie kamen immer wieder. Sie bluteten ihr Opfer aus. Es war wie beim Pokerspiel, wenn man mit einem General Flash zuerst einen kleinen Einsatz machte, um den Gegner anzulocken, dann langsam erhöhte und, wenn für ihn schon viel auf dem Spiel stand, richtig zuschlug. Poker hatte Richard früher gern und erfolgreich im kleinen Kreis gespielt, um relativ geringe Summen. Er hatte Talent dafür. Später gab er es auf. Es paßte nicht zum jungen Boß, nicht zu dieser hanseatischen Familie, auch nicht zu dem Mann, der er jetzt war. Der zockte nicht die Nächte durch bei Bier und Zigaretten. Doch der Wagemut und die Kaltblütigkeit hatten ihn trotzdem nicht verlassen. Diese Pokerpartie würde Richard Hornung gewinnen. Yes. Sir!

Zehn Minuten war er gegangen, vorbei an wenigen Häusern mit einzelnen beleuchteten Fenstern. Dies waren nicht die Häuser junger Familien, die alle Räume nutzten. Hier zog sich ein Paar oder ein alter Mensch jeweils in sein Wohnzimmer oder in sein Schlafzimmer zurück. Allenfalls werkelte die Frau in der Küche, und der Mann saß schon vor dem Fernseher.

Ja, und nun? Es mochte ein einzelner Erpresser, es konnte aber auch eine ganze Horde sein. Sie könnten ihn eventuell zusammenschlagen, ihm das Geld abnehmen. Jedenfalls sahen sie dann seinen guten Willen. Er hatte das Geld dabei. Und nur deshalb, aus diesem einzigen, nicht wirklich kalkulierbaren Grunde, hatte er es besorgt und eingepackt. Er hatte nicht vor, es zu übergeben, wenn es sich vermeiden ließ.

Richard war auf der Höhe einer Bank, wie sie hier in Abständen für Spaziergänger aufgestellt waren. Es war nicht dunkel, aber doch schon mehr als dämmerig. Aus dem Gebüsch, das sich mit wenigen Unterbrechungen am Ufer hinzog, tauchte eine spillerige Figur auf. Sollte das wirklich …? Die armselige Figur taperte näher. Mit offenbar verstellter Stimme fistelte sie:

»Hergeben. Damit ist alles erledigt. Ehrenwort.«

Ehrenwort! Ein Erpresser gab sein Ehrenwort! Nur kein Mitleid haben.

Richard senkte den Kopf und schob die Tasche ein Stückchen dem Erpresser entgegen. Der tat einen zaghaften Schritt und streckte die Hand aus. Gleichzeitig trat Richard energisch vor. Der Lauf seiner Waffe traf auf die Brust des anderen.

Dieser Knall! So laut! Der Schuß war viel lauter, als er gedacht hatte. Er hallte über den See hin. Ein Hund bellte irgendwo in der Nachbarschaft.

Richard stieß den Kerl mit der Waffe vor die Brust. Der strauchelte und sackte zusammen. Nein, doch nicht so dicht neben der Bank! Als Fundstück für den ersten, der vorbeikam.

Richard zerrte den Körper hinter einen Strauch. Es war gar nicht einfach, wenn man sich selbst dabei nicht derangieren wollte. Er war nicht sicher, ob der Kerl tot war. So entschloß er sich, das Risiko einzugehen: Er setzte die Makarow an dessen Schläfe und drückte noch einmal ab.

Mehrere Köter bellten auf den Grundstücken. Richard durchsuchte eilig die Taschen des Kerls. Er schaute ihn an. Der trug einen Oberlippenbart, schien jung zu sein. Ein Fahrrad lag ein Stück weiter im Gebüsch. Ein Irrer! Das hatte er nun davon.

»Bleib man schön hier«, murmelte Richard. Der Kerl war tot. Das überlebte niemand. Hornung steckte die Waffe zurück in seine Gürteltasche und klemmte die Tasche mit dem Geld unter den Arm wie ein kleiner Angestellter, von der Arbeit nach Hause strebend, ein Wachmann vielleicht.

Er ging den Weg zurück. Niemand schaute nach, was die Schüsse wohl bedeutet haben mochten. Das war ja typisch. Man mischte sich nicht ein. Schüsse, Alarmsirenen, Hilferufe – bloß nicht auffallen. Heiliger St. Florian, verschon mein Haus, zünd and're an!

Er traf keine Menschenseele. Später fuhr ein Auto an ihm vorbei, und er trat vorsichtshalber hinter einen Baum, obwohl diese Gegend schon wieder ganz unverfänglich war. Man wußte nie.

Unbemerkt, soweit er das beurteilen konnte, erreichte er den Wagen. Mühelos schloß er auf, öffnete die Tür, stieg ein und ließ sich auf den Fahrersitz fallen. Er wollte den Zündschlüssel einstecken. Es war nicht möglich. Seine Hände zitterten.

Er zitterte am ganzen Körper. Sein Kopf sank auf das Lenkrad. Ihm wurde schwarz vor Augen. Er hatte einen Menschen getötet.

Er hatte gemordet. In Notwehr sozusagen. Aber war es das wert? Ja, es war richtig. Er oder ich. Er hat angefangen.

Er nahm sich zusammen. Das fiel doch auf, was er hier tat. Haltung! Er drehte den Startschlüssel. Der Motor sprang an. Jawohl, es ging. Tief atmen, keinen Fehler machen. Du mußt damit fertig werden. Er oder ich. Wie ein Refrain gingen diese Sätze immer wieder durch Richards Kopf, während er Lucies Wagen sorgsam und bedacht nach Hause lenkte. Du mußt damit fertig werden. Er oder ich.

Lucie sah sich gerade im Fernsehen eine Sendung über die Gefährdung von Nashörnern und Elefanten in freier Wildbahn an. Er trat zu ihr, und sie hielt ihm die Stirn hin zu einem flüchtigen Kuß.

Er ging ins Bad und wusch sich ohne besonders heftige Emotionen die Hände, dann begab er sich wieder nach unten und goß sich einen großen Whisky ein. Mit dem Glas in der Hand setzte er sich zu seiner Frau. Das eiskalte Glas kühlte seine Rechte angenehm. Er schaute auf seine Hand und stellte fest, daß sie nicht zitterte.

»Ist deine Keramik was geworden?«

»Heut' war ich gut.« Sie lächelte ihn an.

»Ich war auch gut.«

»Du bist immer gut, Lieber.«

»Aber manchmal eben noch besser.«

»Etwas Besonderes? Das ich wissen sollte?«

»Ach wo. Es war ein Scherz. Guck mal, da. Die armen Tiere.«

»Wahrhaftig. Es gibt grausame Menschen. Unvorstellbar, daß Menschen so etwas tun können. Gut, daß du nicht auf die Jagd gehst, Richard.«