7. Kapitel

Moritz Mach betrat eine kleine Wohnung und stellte sofort den Player an. Er schob Phil Collins ein, eine sanfte Melodie mit einer traurigen Story über die Ausgestoßenen der Erde, vorgetragen im typischen Collins-Sound, ein Stück klang wie das andere, ob Phil nun die Leiden der Wohlstandskids oder die Nachtseiten im Leben von Underdogs beklagte mit seiner soften, etwas negroid angehauchten Stimme.

Moritz wußte von den TV-Videos, daß Phil auch mimisch überhaupt nicht variabel war. Er sah sich immer ganz und gar gleich, einfach und sogar ein bißchen simpel. Und gerade das war ja so wundervoll. Man wußte, woran man war. Stetigkeit, Zuverlässigkeit, Gefühl ohne Abstürze – wünschte sich das im Grunde nicht jeder? Und wie selten gab es das!

Moritz setzte sich in den Schaukelstuhl und lauschte Phils Gesang. Nachher wollte er duschen und seinen rostroten, seidenen Morgenrock anziehen. Aber erst einmal ließ er die Wohnung auf sich wirken. Seine Wohnung! Ein sehr großes Zimmer, winziges Bad, winzige Küche, winziger Korridor. Riesenfenster, die über einen Außengang hinweg, der allen Mietern des Hauses und ihren Gästen und leider auch ungebetenen Besuchern offenstand, auf die belebte Straße hinausgingen. Keine Vorhänge. Wer glotzen wollte, sollte glotzen.

Das pulsierende Leben einer Großstadt. Berlin war beinahe so gut wie London oder New York, diese Metropolen, von denen Moritz geträumt hatte, als er noch in Rendsburg lebte. Er hatte im Café gesessen und den Mädchen zugeblinzelt, seinen Klassenkumpels Witze erzählt. Er war einer von ihnen. Einer, der dazugehörte. Die Mädchen mochten ihn. Er war hübsch mit seinen widerspenstigen blonden Haaren und den veilchenblauen Augen. Ein Gesicht wie aus einem Werbeprospekt. Leider war er nicht groß, aber dafür gut proportioniert. Kräftige Schenkel, gerade Beine, schmale Hüften. Die Schultern hätten etwas breiter sein können, doch das ließ sich vielleicht noch durch Bodybuilding korrigieren.

Oft hatte er sich im Spiegel des elterlichen Schlafzimmers betrachtet, dem einzigen Spiegel im ganzen Haus, in dem man sich von Kopf bis Fuß sehen konnte. Wenn seine Mutter beim Friseur gewesen war oder einkaufte oder Behördengänge erledigte, hatte er sich manchmal sogar nackt ausgezogen und gedreht und gewendet, sich sein Profil angeschaut, die gerade Nase, den etwas aufgeworfenen Mund, das kräftige Kinn, den Brustkorb, die flache Bauchpartie, das – dieses Allerwichtigste da unten. Sehnsuchtsvoll. Und mit einem kleinen Lächeln.

In der Schule lernten sie vieles über Sexualität. Trotzdem brachte er es noch nicht auf die Reihe. Seinen Vater konnte er nicht fragen. Papa, der so alt war wie manche Opas von Mitschülern, war ein total verhaltener Typ. Stark und wortkarg.

Moritz hatte mit der hübschen Jenni aus seiner Klasse geknutscht und nach Kräften gefummelt, aber es war nicht so toll gewesen, wie er erwartet hatte.

Als er seinem Vater erklärte, er wolle kein Abitur machen, sondern ins Hotelfach einsteigen, dort könne man schnell Karriere machen, war der nicht gerade begeistert.

Leni, die ältere Schwester, war mit einem Bankmenschen verheiratet. Hans Georg, der ältere Bruder, hatte eine angesehene Position als Filialleiter einer Lebensmittel-Großmarktkette. Und nun wollte Moritz, Nachkömmling und heimlicher Liebling von Hans Mach, der als Feuerwehrmann ein aufrechtes und gesetztes Leben führte, in diese fremde, unberechenbare Welt der Hotels aufbrechen. Aber der Vater gestattete es, unter vielen Ermahnungen und mit großen Bedenken.

Als die Eltern ihren Moritz ein halbes Jahr später in Berlin besuchten, staunten sie über die hübsche, kleine Wohnung ihres Sohnes. Sie wußten, daß Leben in der Stadt teuer war. Sie verspürten ein dumpfes Unbehagen – wovon bezahlte der Junge die Wohnung? – und unterdrückten es beide, ohne miteinander darüber zu reden.

Ihr Liebling hatte Geschmack und offenbar auch Erfolg. Moritz hatte immer schon lächelnd seinen Kopf durchgesetzt. Manchmal hatte Hans Mach den Eindruck, daß sein Sohn ihn nicht mochte. Verachtete? Haßte? Aber nein. Er schalt sich selber dafür aus. Der Junge war liebenswürdig. Jeder sagte das. Unfähig, Böses zu denken oder gar zu tun. Er hatte Fantasie, da wirkte einer leicht etwas überdreht und ungeduldig. Vielleicht war er eine Spur leichtsinnig, aber wer es zu etwas bringen wollte, mußte wohl auch etwas riskieren.

Dieser Meinung war auch Charlotte.

»Er ist eben kein Landei«, erklärte sie ihrer Cousine Lydia. »Dein Sohn ist der geborene Großstädter. So was von guten Anlagen. Der macht seinen Weg, sage ich euch.«

Weder Charlotte selbst noch gar die Familie hatten es je fassen können, wie diesem soliden Boden so ein exotisches Gewächs hatte entsprießen können wie Charlotte. Eigentlich hieß sie Lieselotte, aber sie hatte schon als Teeny darauf bestanden, Charlotte genannt zu werden – stummes E am Schluß.

Mit sechzehn hatte sie die Schule verlassen und war fortgegangen aus der provinziellen Enge, zuerst nach Hamburg, als Verkäuferin in einer Boutique. Dann nach Berlin, wo sie als Model arbeitete. Sie führte anfangs sporadisch Pelze vor, dann verrückte Klamotten bei der Junge-Mode-Woche. Sie machte eine nette kleine Karriere, ließ alles stehen und liegen und startete nach Paris. Eine Agentur nahm sie unter Vertrag. Sie hungerte noch einige Pfunde herunter, ließ die Nase verkleinern und den Busen neu stylen. Von einem verheirateten Geschäftsmann bekam sie eine Wohnung und ein Kind. Der Sohn hieß Alain. Ihr Französisch behielt einen deutschen Akzent, der den Leuten gefiel.

Sie trug mit Vorliebe Sachen von Kenzo. Als sie sich von ihrem gealterten Liebhaber trennte, ließ sie ein neues Lifting machen und setzte ihren Weg entschlossen fort, nicht an die Spitze, aber im guten Mittelfeld – bis viel jüngere Frauen ihre kleinen Hintern über die Laufstege schwenkten, die Bars rauchiger und die Drinks schwerer erschienen und der Überblick über Zigaretten- und Männerkonsum sich schwieriger gestaltete.

Charlotte machte wieder einen neuen Anfang. Sie ging zurück nach Berlin und eröffnete eine Boutique für Second Hand und Neues. Beziehungen hatte sie genug. Ihr Laden wurde ein Erfolg, wie alles, was Charlotte anpackte. Alain fehlte ihr ein bißchen, aber er studierte in Paris und besuchte sie manchmal.

Ihr kleiner Neffe Moritz, der da aus der Provinz anreiste, erinnerte sie an die eigenen Anfänge. Sie nahm ihn unter ihre Fittiche, besorgte ihm die Wohnung im Zentrum, gab ihm Tips, wie man sich einrichtete, anzog, benahm.

Als sie ihn zum erstenmal abends in eine Bar ausführte, trug sie einen durchsichtigen Body mit langen Ärmeln, der unter schwarzem Stretchnetz ihre tadellosen nackten Brüste sehen ließ, und dazu eine Art rotes Tutu, schwarze Strumpfhosen und rote Pumps. Moritz war nicht so naiv zu glauben, dies sei die übliche Kleidung weltläufiger Damen für die mondäne Bar, ob in Berlin, in Paris oder anderswo.

Er blickte ihr tapfer in die Augen, vermied es, auf ihren Busen zu starren, gab ihr Feuer für zahlreiche Zigaretten und tanzte locker mit ihr auf der Glasfläche, die Laserstrahlen aus der Wirklichkeit herausschnitten.

Sie amüsierten sich beide. Charlotte fand es süß, daß der hübsche Bengel hier Große Welt spielte. Moritz dachte, daß seine Tante, die so hieß wie die kleinen französischen Zwiebeln, vielleicht doch eine wildgewordene Kleinstädterin war.

Nun ruhte Moritz in seiner Wohnung aus und genoß Phil Collins' samtigen Elendssong. Der Dienst war anstrengend. Aber Moritz beklagte sich nicht. Er hatte eine Freundin: Enna, Arzttochter, hübsch und solide. Er wußte wohl, daß es ihn zu Männern hinzog, aber das wollte er nach Kräften ignorieren. Wie es Thomas Mann getan hatte. Ja, er würde ein stinknormales bürgerliches Leben führen, keine Randexistenz sein. Er haßte die kämpferische wie die weinerliche Pose, mit der sich schwule Männer oft im Fernsehen präsentierten. Er wollte die Karriere in der Welt der Heteros. Heiraten. Kinder haben. Es war möglich. Er konnte mit Frauen.

Eisern übte er mit seinem Expander, machte Liegestütze und danach noch die Isometric-Übung, die er schon als Knabe in Rendsburg durchgeführt hatte: Mit aller Kraft stemmte er sich gegen eine Wand und zählte bis fünfzehn. Das machten die russischen Sportler so, hatte er damals in einer Zeitschrift gelesen. Es setzte Muskeln an.

Heute kam er nicht weit mit seinen Übungen. Ganz plötzlich verharrte er, um den Plan herauszulassen, der sich im Unterbewußtsein entwickelt hatte. Er kannte den angeblichen Paul Hugendübel, der spurlos aus dem Grandhotel verschwunden war, vor oder nach dem Mord. Es war Herr Hornung, Besitzer der tollen Villa etwas außerhalb von Rendsburg, der Firmenchef, Stahl- und Kunststoffteile, seit der olle Chef gestorben war.

Moritz hatte ihn gleich erkannt, als er mit der Traumprinzessin Hand in Hand durch die Hotelhalle spaziert war. Fast hätte er so gegrüßt, wie man Leute grüßt, die man kennt. Aber ihm war klar gewesen, daß die Traumprinzessin nicht Frau Hornung war.

Später merkte er, daß der Herr auf Abwegen sich hier Paul Hugendübel nannte. Als Moritz den Champagner in der Suite servierte, hatte sein Herz geklopft, aber Herr Hornung hatte ihn nicht erkannt. Wie denn auch? Schon auf dem Schulhof kannten nur die jüngeren Schüler die der älteren Klassen, nicht umgekehrt. Dieses Gefälle galt natürlich erst recht für Erwachsene: Unten guckt nach oben, nicht umgekehrt.

Der Sohn eines Feuerwehrmannes kannte den Firmenboß, aber der kannte andere Leute. Der sah ihn gar nicht. Seine Tochter ging auf eine andere Schule.

Er hatte dem Kommissar nichts davon gesagt. Warum nicht? Das wußte er selber nicht. Es hatte ihm widerstrebt. Etwas in seinem Gemüt sagte nein dazu. Angst? Nein, Angst hatte er nicht gehabt.

Herr Hornung machte Eindruck. Das Trinkgeld war sehr anständig gewesen. Und der Mann hatte die Aura von Erfolg und Männlichkeit, die Moritz bewunderte. Er war einer von den Kerlen, die in Werbespots Adler freiließen und tolle Autos fuhren. Die den Mann im Manne anmachen sollten.

Seltsam war, daß Moritz sein Wissen ganz für sich behalten und auch Charlotte nichts davon gesagt hatte. Sie hatte schließlich allerhand Macht über ihn, wenn sie ihm Rücken und Nacken massierte, ihn streichelte und spielerisch genau so küßte, wie er es mochte.

Und nun, wie er da schwer atmend stand und aus dem Fenster starrte, ohne die anderen Häuser mit anderen Fenstern und Gängen und Menschen wahrzunehmen, gewann er Klarheit. Er würde seine Chance nutzen. Anruf genügt, dachte er und wandte sich dem hohen Spiegel zu, in dem er sich von Kopf bis Fuß betrachten konnte. Bleikristall in einem wertvollen Rahmen. Spätbarock. Angeblich echt. Frühes achtzehntes Jahrhundert. Der Trödler hatte es geschworen. Moritz lächelte sich zu. Er mochte sich so. So lächelten die Putten auf dem Rahmen.

Etwa um dieselbe Zeit betrachtete sich Richard Hornung im Badezimmerspiegel. Er war zufrieden: Die Bürste auf der Oberlippe war nahezu perfekt.

Errol Flynn ließ grüßen. Rund um das Kinn, streng in Form gestutzt, mit einem Hauch Grau darin, wirkte der Bart männlich herb, signalisierte jedoch zugleich, daß der Träger ein Erfolgsmensch mit hinreichend extravaganten Neigungen war.

Den Haarschnitt hatte sein Friseur wunschgemäß verändert, er nannte den Schnitt ›Architektenlook‹: stoppelig kurz, die runde Kopfform betonend, mit sehr kurzem Pony und einem Anflug von Koteletten, die zum Bart überleiteten.

Der Haarton war durch eine rötliche Spülung ganz leicht aufgepeppt worden. Lucie hatte, nach anfänglichem Zögern, zugestimmt: »Ich hoffe nur, daß keine andere Frau dahintersteckt.«

Angela hatte angerufen: »Tralala, der dritte Frühling ist da!« Seine Sekretärin zollte errötend Beifall. Aber darum ging es ja nicht.

Er sah anders aus. Wenn er morgens seine Joggingrunde drehte, zögerten manche Leute, denen er so oft am Morgen begegnet war, mit dem Gruß. Einer erkannte ihn überhaupt nicht. Der alte Richard Hornung war von der Bildfläche verschwunden. Niemand würde ihn jetzt bei einer Gegenüberstellung sicher erkennen. Andererseits war die Veränderung nicht so spektakulär, daß sie Argwohn erregen konnte: Warum hat er das wohl gemacht?

Dieser Brief! Als er eintraf, löste er einen Schock bei Richard aus, der alles bisherige übertraf. Sterbende sollten so fühlen. Stationen seines Lebens jagten vor seinem inneren Auge vorbei, das Stammhirn lieferte und löschte unkontrollierbar. Angst schnürte ihm die Kehle zu, bis sich plötzlich eine völlige Leere in seinem Kopf ausbreitete. Dann fand sein Herz vom flatternden Stakkato zu ruhiger Gangart zurück.

Sehr geehrter Herr Hornung,
jemand weiß, daß Sie der Mann im Grandhotel waren. Wenn Ihnen mein Schweigen 10.000 Mark wert ist, setzen Sie am Sonntag folgende Anzeige in die Berliner Morgenpost:
Harry, unser Boot ist da. Melde dich.
Keine Polizei. Sie erhalten Nachricht.
                     Ein Freund

Am nächsten Tag bereits fuhr Richard nach Hamburg. Dort suchte er eine Hafenkneipe auf, deren einschlägiger Ruf auch nach Rendsburg gedrungen war. Draußen waren die üblichen Plakate mit nackten Mädchen angeschlagen, doch stand kein Anreißer vor der Tür. Vielleicht war es auch noch einfach zu früh dafür, jetzt um neunzehn Uhr dreißig.

Der Schankraum lag im Souterrain. Man stieg einige ausgehöhlte Steinstufen hinunter. Er war mit allerhand Seefahrtsutensilien garniert. Von der Decke hingen Schiffsleuchten. In einer Ecke stemmte eine hölzerne Galionsfigur ihren blanken Busen statt Wind und Wogen dem säuerlichen Dunst von abgestandenem Bier, zu lange benutzten Wischtüchern, altem Rauch, Urin und Petroleum entgegen. Eine Schiffslampe blakte auf der Theke.

Auf den Tischen lagen geblümte Plastikdecken. Auf dem Bord hinter der Theke standen Buddelschiffe und mit Muscheln beklebte Koggen. An einer Wand zeigte auch hier ein Schaukasten die Fotos von Stripperinnen. Die trostlose Atmosphäre wurde noch verstärkt durch Seemannsromantik aus der Musikbox. Vielleicht stellte sich eine Art Nestwärme ein, wenn es hier voll war und angefüllt mit Stimmengewirr. Aber um diese Zeit war es noch fast leer.

Richard setzte sich an einen der Tische, bestellte bei einem betont vergnügten alten Mann das als Mindestverzehr vorgeschriebene ›Gedeck‹, Bier und Schnaps, und schaute sich um. Er wartete. Nach einiger Zeit gesellte sich tatsächlich ein junger Mann zu ihm, dem er ebenfalls ein ›Gedeck‹ bestellte. Der Mann trug eine schwarze Lederjacke und eine Kreole im Ohr, und Richard dachte flüchtig, daß diese Typen tatsächlich so aussahen wie im Film. Vielleicht richteten sie ihr Outfit sogar nach ›Derrick‹ oder ›Tatort‹? Richard fragte den Mann rundheraus, wo man eine Waffe zu kaufen kriegte, ›ohne Fisimatenten und gegen gute Bezahlung‹.

Der Mann erklärte in leicht singendem Tonfall – Richard tippte auf Wien –, das habe er sich schon gedacht.

»Jemand wie Sie kommt sonst nicht her. Höchstens wenn er schwul ist, aber da kenn' ich mich aus. Sie könnten natürlich auch ein verdeckter Ermittler sein, aber diese Typen von der Kripo, die nicht als solche erkannt werden wollen, tarnen sich meistens viel zu perfekt. Sonst wäre das bei Ihnen eine neue Masche. Aber sie wissen wohl: Wir lassen uns hier nicht verarschen. Wir sind nett, können aber auch ungemütlich werden. Wollen Sie Hasen jagen?«

»Kaninchen. Sie nehmen im Garten überhand.«

Der Mann lachte.

»Kommt immer mal wieder vor, daß in den Gärten Karnickel überhand nehmen. Warten Sie hier. Es kann etwas dauern. Trinken Sie noch was, das freut den Wirt.«

Nach einer guten Stunde war er zurück. Richard war vor Aufregung naßgeschwitzt. Das Lokal füllte sich allmählich. Niemand hatte besonders Notiz von ihm genommen. Es kam ihm so vor, als wüßten alle hier Bescheid. Er bemühte sich jedoch um ein Pokerface und widerstand dem Impuls, einfach wegzugehen. Dem Schicksal seinen Lauf zu lassen. Nein, das wäre unter seinem Niveau gewesen.

Der Mann mit dem Ohrring sagte zu ihm:

»Kommen S' mit. I hoab oanen.«

Richard zahlte. Er hatte Angst. Was war, wenn sie ihn niederschlugen und beraubten? Töteten? Er mußte es riskieren.

Der Mann mit dem Ohrring führte ihn ein paar Straßen weiter. Die Gegend war ruhig, keine Glitzerwelt, kleinbürgerlich vielleicht. Stille Straße, stille Häuserzeile. Durchgang zu einem Hinterhaus. Dort standen zwei Kerle, eigentlich sahen sie ganz ordentlich aus.

Es seien abgemusterte Russen, die aus Militärbeständen allerlei feine, noch brauchbare Sachen verscheuerten, erklärte sein Vermittler. Alles, was nicht niet- und nagelfest gewesen sei in Wünsdorf oder Potsdam. Nachtsichtgeräte, Uzi-Maschinenpistolen, Pumpguns und die sogenannten Sportwaffen. Schwarze Schafe gebe es ja überall.

Der eine der beiden Russen hielt Richard stumm ein Päckchen hin, eingeschlagen in ein Stück Packpapier. Richard schlug es auseinander. Eine Pistole. Sein Vermittler erklärte, das sei eine »Neun-Millimeter Makarow, erstklassige Qualität, mit genügend Munition für eine ganze Karnickelarmee! Zwofünf Mille und für mich zwohundertfünfzig.«

Richard wußte nicht, ob das billig oder teuer war. Er hatte fünftausend Mark dabei, mehr nicht, denn zuviel wäre wohl ein Anreiz für Verbrecher gewesen. Er hatte die Scheine an verschiedenen Stellen in seiner Kleidung versteckt. Die im Schuh rührte er nicht an.

Sie schüttelten sich alle die Hände. Richard wartete, bis die Russen ihm den Rücken zudrehten und gingen. Er hätte auch seinem Vermittler am liebsten bei seinem Abgang das Gesicht zugedreht, aber er überwand sich. Sein neuer Kumpel lief noch ein Stückchen neben ihm her und verschwand dann in einer Seitenstraße, nicht ohne ihm vorsorglich den günstigsten Weg zurück erklärt zu haben.

Richards Herz klopfte heftig. Die Waffe in seiner Gürteltasche unter dem Anorak verlieh ihm ein neues Selbstvertrauen. Er würde sich nicht erpressen lassen. Und er würde auch kein Geständnis ablegen. Der Skandal wäre sein Untergang.

Lucie verzieh nicht, das wußte er. Ihr Gatte mit einer jungen Geliebten, in einen Mordfall verwickelt, durch die Presse geschleift mitsamt der Familie, nein, da würde der Alte von seiner Wolke aus drohen und sein braves Töchting ermutigen, den Kerl abzustoßen. Nach der Scheidung wäre Richard Hornung einer, von dem kein Köter mehr ein Stück Brot nähme. Richard konnte sich auch schon gut vorstellen, wer der neue Chef werden würde. Lucie strömte ja jetzt schon förmlich über vor Wohlwollen, wenn es um den Prokuristen Schöttler ging.

Als Richard nach Hause kam, scherzte Lucie: »Wie siehst du denn aus, Lieber? Ist das Räuberzivil? Und du riechst, als wärst du in einer Hafenspelunke gewesen.«

Richard erschrak, aber er sagte sich: Sie weiß nichts. Es war ein Zufallstreffer.

»Ich hatte eine Besprechung mit Schott, dem Architekten, und zwei Bauherren. Araber. Sie bauen im kastilianischen Stil und lassen alles aufwendig vergittern. Die Kerle wollten unbedingt in eine ›In-Kneipe‹. Nicht mein Geschmack, aber was tut man nicht alles fürs Geschäft? Ich muß duschen.«

Er fühlte den Druck der Makarow an seinem Hüftknochen. Jawohl, melde dich, Harry, unser Boot ist da. Keine Polizei! Alles nach Wunsch.

Am nächsten Tag gab Richard Hornung die gewünschte Anzeige auf.