6. Kapitel

Wedel hatte seinen Wecker auf sieben gestellt. Letzte Nacht war es spät geworden. Seine Monica hatte Geburtstag. Auf ihren Wunsch hin waren sie in die Philharmonie gegangen. Monica liebte Konzerte. Er war stolz darauf, daß seine Frau solche musischen Neigungen hatte.

Claudio Abbado dirigierte Mussorgskijs ›Boris Godunow‹. Russische Sänger, drei Chöre, riesige Leidenschaft, alles echt rrrussisch, obwohl der Abbado ja wohl Italiener war. Sie gaben wirklich alles.

Wedel hätte niemals eingestanden, daß ihn die romantische Geschichte von Schuld und Sühne am Zarenhof ergriff und daß die Musik des Prologs ihm wieder diese peinlichen Tränen in die Augen trieb, die sich auch in der Kirche nicht bremsen ließen, wenn Weihnachten das Orgelspiel einsetzte.

Er sagte nachher zu Monica, das sei ja zum Glück eine richtige Story gewesen, unter der sogar ein nüchterner Kriminalmensch sich etwas vorstellen könne. Ja, beinahe sein Metier. Mord und Totschlag, Verdächtige, Intriganten und Täter. Wie im wirklichen Leben. Er habe da gerade so einen Fall …

Danach hatte er Monica ins ›Pergola‹ geführt, wo Italiener so taten, als hätten sie ein Luxusrestaurant mit vier Michelin-Sternen. Allein der Grappa, den er und Monica zum Schluß zur Feier des Tages getrunken hatten, angewärmt und mit silbernen Deckelchen als Kostbarkeit serviert, hatte fünfundvierzig Mark gekostet. Pro Stück!

Aber Monica war glücklich gewesen und auch nicht böse, daß er hinterher zu müde war für die Liebe. Wenn, dann sollte es auch rauschen im Karton. Bloß keine matten Sachen, keine Pflichtübungen, da waren sie sich einig … zum Glück.

Er hatte zu Hause noch zwei Schlummerbierchen genossen und einen Cognac als späten Absacker geschlürft, und jetzt war die Bescherung da. Das typische, pelzige Gefühl im Mund, die eklige, tapsige Gliederschwere. Dazu kam das Bewußtsein, daß es gestern eigentlich zu teuer gewesen war. Schließlich war man nicht Herr Esso persönlich.

Gut, sie verdienten beide und hatten keine Kinder, waren also DINKS, double income, no kids, es hatte nicht funktioniert mit dem Nachwuchs, sie hatten beide viel mitgemacht, bevor sie kapituliert hatten, und irgendeinen kleinen Exoten zu adoptieren, das paßte ihnen auch nicht, die wurden hier nicht wirklich glücklich, und darauf kam es schließlich an.

Monica schlief noch. Sie hatte erst ab Mittag Dienst. Bernd Wedel machte sich leise zurecht, aß sein Müsli und ging die zehn Minuten zur U-Bahn. Punkt acht saß er hinter seinem Schreibtisch. Sie hatten ihn vor drei Monaten befördert und in ein feineres Büro versetzt, so etwas wie ein Aufstieg. Seine Wohnung lag verkehrsgünstig zum Büro, das war die Hauptsache bei den vielen Staus auf den Straßen.

Wedel nahm sich noch einmal die Notizen zum Fall ›Toter im Hotel‹ vor. Aus den Tips, die zu den Phantombildern eingegangen waren, hatte sich bisher nichts Brauchbares ergeben. Aber es gab etwas und, daraus resultierend, eine Theorie, total wacklig, und doch geradezu faszinierend. Eine Spur! Ein handfester Fund!

Natürlich hatten sie alles gecheckt, was die Hugendübels im Hotelzimmer zurückgelassen hatten. Auffällig war, daß es ausschließlich Sachen der Frau waren. Nicht einmal ein Rasierapparat. Eine einsame Zahnbürste. Der Kerl hatte sich in Luft aufgelöst. Merkwürdig.

Die Sensation aber steckte in der Reisetasche, nachempfundenes Vuitton, einfach im Seitenfach. Der Reißverschluß war nicht einmal zugezogen.

Harmlos auf den ersten Blick: Kinderspielzeug. Ein Malbuch, ein Heft mit Stickern, lauter scheußlich kitschige Monster, höchst geschmacklos und pädagogisch total daneben. Und, in Mickymaus-Papier eingewickelt, ein Karton aus Plastik und Pappe, mit einem ›Schaufenster‹, durch das man gleich den Inhalt sah. Knete in Stangenform, rot, orange, grün und schwarz, daneben kleine Plastikformen wie zum Plätzchenbacken. Blume, Baum, Hase, Haus. Auf dem Rand des Deckels war in bunten Bildern gezeigt, was man daraus machen konnte, ›für Kinder ab drei‹, Aufschrift in Englisch und Spanisch und Deutsch.

Beim Öffnen im Labor verströmte die Knete einen leichten Nitro-Geruch. Chemikers Sternstunde! Die Knete war Sempex H, der Wundersprengstoff, weltweit Lieblingswaffe von Terroristen und anderen Schwerverbrechern. Stammte ursprünglich aus Tschechien, kursierte aber inzwischen weltweit, oft kopiert, nie erreicht.

Im Pan-Am-Jumbo ›Maid of the Seas‹, der 1988 bei Lockerbie abgestürzt war, waren dreihundert Gramm Sempex im Kofferradio eingeschleust und gezündet worden. Die IRA hatte Häuser damit gesprengt; Tote inklusive. Es wurde unter Autos und hinter die Tresen von Lokalen geklebt, in Kaufhausfahrstühlen versteckt und für Explosionen jeder Art verwendet.

Der Chemiker Stanislaw Brebera hatte es einst für Nord Vietnam als Super-Version seiner Erfindung Sempex kreiert. Jetzt war es eine Legende. Ging überall hin, wo im großen Stil oder auch nur mal eben so getötet werden sollte. Die Tschechen hatten inzwischen kalte Füße bekommen, machten mehr die harmlose Ausgabe für Sprengungen in Steinbrüchen und Ähnliches. Aber Sempex H blieb im Rennen.

Die Knete ließ sich einfach transportieren. Luftdicht in Plastik verpackt – wie in dieser Spielzeugschachtel – passierte sie die raffiniertesten Kontrollen auf Flughäfen und Straßen.

Solange nicht eine Prise Initialzündstoff dazukam, war der Transport völlig harmlos. Das ›Kind ab drei‹ hätte wirklich unbeschadet Häuschen, Häschen und Vögel aus dieser Schweinerei basteln können. Mörder konnten es überall unauffällig anbringen, weil es sich in jede beliebige Form kneten ließ.

Die gefundene Menge Plastiksprengstoff im Mickymaus-Papier war eigentlich zu gering als Anlaß für einen Mord, wie auch immer. Andererseits wurden Morde aus nichtigeren Anlässen begangen. Und um ein kleineres Flugzeug zu atomisieren, dachte Wedel rüde, würden Häuschen, Bäumchen und Blümchen allemal reichen.

»Es könnte das Unternehmen eines Einzeltäters sein. Aber ich könnte mir auch vorstellen, daß ein kleiner Fisch hier unabsichtlich ins Haifischbecken geraten ist«, vertraute Wedel seiner jungen Kollegin Mady Saparonsky an, die ihn wieder mit Eulenaugen anstarrte, als wolle sie ihn hypnotisieren. Oder vernaschen.

Es war aber bei der nur der reine Ehrgeiz. Die Kleine war ehrgeiziger, als es die Polizei erlaubte. Clever, fleißig bis unermüdlich, gesund. Dabei auch noch recht hübsch. Wenn sie nur ein bißchen Glück hatte, stand ihrer Karriere nichts im Wege, Quotenfrau oder nicht.

»Der Tote ist möglicherweise Russe«, spann er sein Garn weiter. »Vielleicht O.K. – organisierte Kriminalität? Russen, Polen und Italiener kämpfen hier um Terrain. Chinesen halten sich zur Zeit noch an ihre eigenen Leute. Zigeuner sind eher auf Kleinkram spezialisiert. Außer in den neuen Bundesländern. Da mischen sie schon oben mit. Aber den ganz großen Kuchen schneiden neuerdings von der anderen Seite aus eben die Russen an, Tschetschenen vorneweg, die russischen ›Südländer.‹ Und das sehen die italienischen Südländer, unsere alten Freunde von der Mafia, nun aber gar nicht so gern.«

»Es könnte um den Aufbau einer neuen Rauschgift-Connection gehen, wie damals San Francisco – Paris«, gab Mady ihren Senf dazu.

»Das war graue Steinzeit, Mädchen. Jetzt ist Krieg auf der ganzen Linie. Da geht's um geklaute Autos ebenso wie um entführte und an verschwiegener Stelle umgeladene Lastwagen mit wertvoller Fracht wie Uzi-Maschinenpistolen und Pumpguns und was sonst nicht niet- und nagelfest war auf den ehemaligen Stützpunkten der Sowjetarmee, um erpreßte Schutzgelder, Prostitution und Ikonenschmuggel, den Erwerb von seriösen Betrieben wie Gaststätten und Spielsalons zum Beispiel, die gar nicht florieren müssen, sondern nur der reinen Geldwäsche dienen. Um Drogen natürlich erst recht.«

Mady nickte.

Wichtigtuerisch, fand Wedel.

»Was wir wissen, stützt sich doch im Grunde alles nur auf Vermutungen. Im Drogenhandel stecken eben diese riesigen Gewinne, und die ziehen die O.K. ins Land. In den USA zu Zeiten der Prohibition setzte sich dort die Mafia fest. Für immer. Demokratien sind zu unbeweglich, zu unflexibel …«

Wedel runzelte die Stirn. Er konnte diese naseweise Tour junger Leute auf den Tod nicht vertragen. Sie waren vollgestopft mit Theorie und dachten, jetzt wüßten sie Bescheid. Er war ein Praktiker, klar. Von reiner Theorie hielt er gar nichts. Sensibel mußte man sein, auf Zwischentöne achten, hineinhorchen in einen Fall. Nicht zu selbstsicher sein. Klar, sie waren jung. Kriegten schon als Kinder zuviel mit, durch das Fernsehen. Es gab kein Bildungsprivileg der Erwachsenen mehr. Wissen war allen gleichmäßig zugänglich. Wie im Mittelalter, als zwischen Kindern und Erwachsenen kein Unterschied gemacht wurde und böse Steppkes sogar hingerichtet worden waren.

Mady dozierte denn auch prompt weiter: »Die meisten Morphinbasen für unseren Raum wurden ja bisher in Sizilien aufbereitet. Ich hab' gelesen, daß für tausend Gramm schneeweißes Heroin, Spitzenqualität, zehntausend Gramm Opium gebraucht werden.«

»Ja, und ein Kilo Essigsäureanhydrit, je feiner das Zeug, desto besser auch das Heroin. Da liegt der Hase im Pfeffer. Die Russen mischen mit. Riesige Mohnplantagen um Tschernobyl liefern reichlich Grundstoff für die Heroinaufbereitung. Der afghanische Markt ist im Eimer. Rußland ist durch die neue wirtschaftliche Struktur nicht nur Ziel für den Absatz, sondern auch als Durchgangsland interessant. Sechs Tage dauert auf diesem Wege ein Rauschgifttransport vom Goldenen Halbmond bis zum Süchtigen. Früher wurde verschifft oder der riskante Landweg über Iran und Türkei genommen. Die geringen Mengen, die in Flugzeugen geschmuggelt werden, sind eher Kleinkram für die großen Organisationen.«

Madys Miene drückte eine gewisse Anerkennung aus. Ja, dachte sie denn im Ernst, sie könnte einen alten, gewieften Hasen mit ihren paar angelesenen Wissensbrocken beeindrucken?

»Und jetzt wird Essigsäureanhydrit also auch aus den ehemaligen asiatischen Sowjetrepubliken bezogen«, sagte sie.

»Genau. Allerdings ist es nicht erstklassig, dafür aber billiger als das bisher gebräuchliche.«

»Aber in welcher Funktion war der Ermordete wohl in Berlin?«

»Gute Frage. Das Netz ist jedenfalls außerordentlich kompliziert. Er könnte einen Alleingang versucht haben. Oder dieses Paar Hugendübel hat auf eigene Faust gearbeitet mit den begehrten Artikeln. Das macht man hier aber nicht lange. Wahrscheinlich begucken die beiden schon in irgendeiner Kiesgrube die Radieschen von unten oder laufen mit Betonstiefeln im Schlachtensee spazieren.«

»Vielleicht wollte der Russe eine Lieferung bezahlen. Die Hugendübels haben ihn umgelegt und sind mit dem Geld abgerauscht.«

»Wenn es überhaupt ein Russe war.«

Daß junge Leute immer glaubten, sie könnten Welträtsel im Nullkommanichts lösen!

»Nee, daß nur die Sachen der Frau im Raum waren und seine ratzekahl ausgeräumt, das bedeutet was. Aber was? Ach Gottchen, ich hätte Sparkassendirektor werden sollen wie mein Bruder. Da geht's ordentlich um Soll und Haben. Wir hier sollen immer, aber haben tun wir nichts.«

»Sie hätten Kabarettist werden sollen, Herr Wedel, die Pointe war doch schon bühnenreif.«

»Ach, Mädchen. Wenn ich pensioniert bin, zieh' ich nach Mallorca.«

»Soweit ist es ja noch lange nicht.«

»Wahrscheinlich werde ich vorher schon den Löffel abgeben. Herzinfarkt.«

»Sie sind doch topfit.«

»Ich empfange schlechte Schwingungen. Sagt ihr Jungen nicht so, Lady Mady?«

»Längst überholt.«

Sie grinste. Nicht unhübsch, in der Tat. Meinte sie es doppeldeutig? War das auf ihn gemünzt? Ein Segen, daß Monica noch alte Schule war.