2. Kapitel

Britta war eingekeilt in dem grauen Mittelklassewagen. Links von ihr saß der magere Dunkelhaarige mit der Stirnglatze, über die er einige fettige Strähnen verteilt hatte. Sie schätzte sein Alter auf fünfzig. Er war klein, aber drahtig, wie einer, der von Kind auf hart gearbeitet hatte.

Rechts hockte der sehr junge Mann, fast noch ein Knabe, schwarze Locken wie ein Putto, sehr hübsch, mit großen, ängstlichen Augen. Der Schein trog, wie Britta wußte. Beide Männer waren Killer.

Ein älterer Mann fuhr den Wagen. Auch er sah nicht gefährlich aus, wirkte so durchschnittlich, daß sich gewiß nie jemand an ihn erinnern konnte.

Ja, sie waren gefährlich. Tödlich. Britta war steif vor Angst. Ein Eiszapfen. Deshalb zitterte sie auch nicht. Erstarrt, erfroren. Auch ihr Gehirn arbeitete nicht richtig.

Niemand sprach. Vorhin hatte ihr der Magere kurze Befehle zugebellt: Ganz still! Kein Wort! Wenn du schreist, bist du tot. Sie hatte sogar auf Kommando gelächelt, als sie durch die Hotelhalle geführt wurde.

Niemand merkte etwas, keiner schöpfte Verdacht. In diesen großen Hotels bewegte man sich anonym. Das machte ja sonst auch gerade einen Teil ihres Reizes aus.

Die Männer waren mit ihr ein Stückchen die Straße entlanggegangen, fort aus dem Blickfeld des Hotelportiers. Sie wußte, daß an Flucht nicht zu denken war. Dann fuhr der Wagen vor. Sie stiegen ein. Die Menschen gingen ihrer täglichen Beschäftigung nach. Alles war normal. Wie sonst auch. Nur nicht für Britta Schirrmacher.

Sie hatte eben einen Mord aus nächster Nähe mit ansehen müssen. Nun war sie in der Gewalt der Mörder. Warum nahmen sie die Zeugin mit? Hatten sie etwa Mitleid? O nein. Aber es mußte einen Grund geben.

Britta kannte Berlin wenig, ihr sagten die Straßen nichts, durch die sie fuhren. Außerdem wagte sie auch nicht, an ihren Bewachern vorbei hinauszuschauen. Vielleicht hätte sie sonst aus den Augenwinkeln Straßenschilder erkennen können. Aber wozu? Es waren Mörder. Die gingen kein Risiko ein. Zwei von den Dreien waren jedenfalls Mörder. Britta hatte es mit angesehen.

Der Wagen hielt. Der Magere stieg aus und bedeutete ihr durch ein Zeichen, sie solle ebenfalls aussteigen. Eine normale Wohnstraße. Niemand würde sich für das Grüppchen interessieren, das nun aus dem Auto stieg.

»Maul halten«, sagte der Magere. Der Junge war ebenfalls schon auf dem Bürgersteig. Der Alte fuhr weiter.

›Seafood Murmansk‹, stand in schwungvoller Schrift über der Tür, zu der sie nun geführt wurde.

Zwei Frauen mit Einkaufstaschen gingen vorbei. Sie plauderten miteinander. Britta hätte gern geschrien, aber sie nahm sich zusammen. Eine ältere Frau führte ihren Dackel an der Leine spazieren. Das Tier blieb stehen und sah Britta an. Die Frau mußte es energisch weiterzerren.

Ein paar Häuser weiter war ein Laden für Surfing und Wassersportbedarf mit sehr bunt bemalten Schaufenstern und einem aufgetakelten Surfbrett vor der Tür. Die Sonne schien. Es war ein milder Spätsommertag mit knallblauem Himmel. Die Straßenbäume zeigten den ersten Anflug von herbstlichem Gelb nach dem langen, trockenen Sommer.

Zu dem Seafood-Murmansk-Geschäft führten einige Stufen hoch. Hinter dem Schaufenster waren Pappkartons gestapelt. Es gab eine Verkaufstheke, auf der einige Kaviardosen in unterschiedlichsten Größen das einzige Angebot zu bilden schienen. Und es roch schwer nach Fisch und Muscheln und alten Pappkartons. Was um Himmels willen hatten diese Verbrecher hier zu suchen?

Britta wurde durch den Laden geführt und einen anschließenden großen, völlig kahlen und unmöblierten Raum. Dann ging es durch einen Gang, eine Treppe hinunter, o Gott, ein Keller, eine Tür, die der Magere öffnete. Eine sehr helle Deckenleuchte wurde eingeschaltet, eine Glühbirne in der Fassung lediglich. Es war ein großer Raum. Die kleinen Fenster mit Ziegelsteinen zugemauert. Spartanische Einrichtung: ein Tisch, drei Stühle, ein Holzsessel mit Armlehnen, beinahe ein Thron. Dorthin dirigierte der Magere sie, hielt sie am Ellenbogen.

Britta wurde plötzlich bewußt, daß ihre Blase übervoll war. Noch zwei Minuten, und sie würde sich naß machen. Noch nie hatte sie da lange durchhalten können. Der Drang, Pipi zu machen, übertraf an Intensität sogar ihre Angst.

»Ich muß mal«, sagte sie kläglich.

Der Magere reagierte nicht.

»Ich muß sofort!« Sie merkte selber, daß ihre Stimme kickste.

Der Magere trat dicht vor sie. Sie war daran gewöhnt, daß Männeraugen aufleuchteten bei ihrem Anblick. Diese nicht.

»Halt's Maul!«

»Ich muß aber!«

Unversehens schlug er zu. Die Ohrfeige riß ihr den Kopf zur Seite. Das Trommelfell schien geplatzt zu sein. Tränen traten ihr in die Augen. Nun war es sowieso geschehen. An ihren Schenkeln breitete sich nasse Wärme aus.

Der Unhold drückte sie auf den harten Sessel. Sie fühlte, wie ihre Wange anschwoll. Erst in diesem Augenblick ging ihr mit letzter Gewißheit der absolute Ernst ihrer Lage auf. Sie saß in einem wahrscheinlich schallisolierten Keller. Zwei Mörder bewachten sie. Der mit dem Revolver hinten im Hosenbund hatte ihr eben mit scheinbarer Belanglosigkeit gezeigt, daß er vor Gewalt ihr gegenüber nicht zurückschreckte. Und der mit dem Messer, der hübsche kleine Junge, der immer wieder zugestochen hatte vorhin, bevor der andere das Massaker durch einen ganz leisen Schuß beendet hatte, der sah gelassen zu. Vielleicht sogar genüßlich? Er war bestimmt nicht um einen Deut mitleidiger.

Sie hatten etwas mit ihr vor. Jaaa, sie hatten etwas mit ihr vor! Was? Sie wußte es nicht. Doch sie hätten sie getötet oder laufenlassen, auf keinen Fall hätten sie die Zeugin mitgeschleppt in diesen Keller, wenn sie nicht etwas mit ihr vorhätten.

Der Junge war von hinten an ihren Sessel herangetreten und warf ihr plötzlich eine Schlinge über, die er etwa in Höhe ihrer Schenkelbeuge an der Lehne festzerrte. Der Magere ergriff ihre rechte Hand. Sie ließ es ohne Widerstand geschehen, daß er den Unterarm mit einem Lederriemen an der Sessellehne festschnallte. Dasselbe tat er mit ihrem linken Arm.

Sie schloß die Augen, als sei es so möglich, zu entfliehen in ein anderes Land. Vielleicht würde sie aus einem Alptraum erwachen, wenn sie die Augen wieder öffnete?

Sie spürte, wie die beiden Männer nun ihre Füße an die vorderen Stuhlbeine schnallten. Dann gingen sie wortlos zur Tür und machten das Licht aus. Sie machten das Licht aus! Es war stockdunkel. Sie hörte, wie die Tür verschlossen und offenbar verriegelt wurde.

Nein, das kann nicht wirklich sein. Ein schrecklicher Traum. Es kann nicht sein, daß ich hier angeschnallt sitze wie ein Todeskandidat auf dem elektrischen Stuhl! Ich hab' doch nichts verbrochen!

Vielleicht war es ein bißchen illegal, daß ich diese Uhren mit dem möglicherweise merkwürdigen Inhalt transportiert habe. Mister Ledermans ›Kleine Botin‹, sein ›INA-Engel‹, seine ›Zaubermaus‹.

Sie hatte auf ihren kostenlosen oder stark verbilligten Flügen, die ihr als Angestellter der Fluggesellschaft zustanden, schon mehrmals solcher ›Transporte‹ durchgeführt. Sie wurde nicht überprüft, ihr Gepäck nur oberflächlich gecheckt.

Diesmal waren es Uhren gewesen, made in Hongkong: drollige Modelle, einige zeigten Indianerköpfe auf dem Zifferblatt, andere Blumen, Mickymäuse, sogar Weihnachtsmänner mit der Aufschrift ›Merry Christmas‹ waren dabei gewesen. Einige waren farbig, blau, weiß, rot oder grün, mit passenden Lederarmbändern.

Jedes Exemplar steckte in einer Zellophantüte, die wiederum in die Fächer eines Etuis geschoben war, das den Eindruck eines kleinen Reisenecessaires erweckte. Es ließ sich aufklappen, und sie hatte noch scherzhaft zu Mister Lederman gesagt, sie fühle sich beinahe wie die Besitzerin eines Bauchladens. Mister Lederman hatte gelächelt und dabei sein zu großes, zu weißes, sicher falsches Gebiß gebleckt.

Er hatte weiße Locken, die über den Ohren abstanden, ein Typ wie aus einem Comic-Heft. Aber wer lachte denn nun? Bestimmt nicht Britta Schirrmacher.

Ihr Herz schlug so hart, daß sie fürchtete, es könnte plötzlich überfordert damit aufhören. Es war nicht kalt im Keller, aber auch nicht warm. Die feuchten Stellen zwischen ihren Schenkeln und an ihren Beinen wirkten allmählich wie kühle Kompressen.

Sie versuchte, ihre Haltung ein wenig zu verändern, ihren Muskeln und Sehnen Erleichterung zu verschaffen trotz der Fesselung.

Mehrmals sagte sie »Mama!«, »Mamilein!«, und dann weinte sie, leise und gleichmäßig, ohne zu schluchzen, immer auf der gleichen Tonhöhe.

Ihre Mama. Wie sehr hatte sie sich immer nach Mamas Liebe gesehnt. Aber nach dem Tod ihres Vaters hatte ihre Mutter wieder geheiratet, einen freundlichen, neutralen Mann, der die Stieftochter gut behandelt und nie geschlagen hatte. Nicht einmal ausgescholten hatte er sie – wie die drei Kinder, die er und Mama zusammen hatten.

Ihre Geschwister. Nette, neutrale Kinder. Liebe! Liebe – das war etwas, das die kleine Britta über alles begehrte. Auch später, als junges Mädchen, suchte sie danach bei lauter neutralen, oft gar nicht netten Männern. Richard hatte ihr wenigstens die Illusion von Liebe verschafft. Obwohl sie gewußt hatte, daß er letztlich zu seiner Familie halten würde. Jetzt war es vorbei. Wenn ich rauskomme, werde ich sofort nach New York zurückkehren. Für Mister Lederman werde ich nie mehr etwas befördern. Und wenn er mich totschlägt … Und wenn er mich wirklich totzuschlagen droht?

Sie wußte, daß sie sich etwas vorgemacht hatte, von Anfang an: Die Bezahlung war zu üppig gewesen für den angeblichen ›kleinen Gefallen‹, als den Mister Lederman ihre Botendienste hingestellt hatte.

Bevor sie sich persönlich kennenlernten, hatten sie ganz normale dienstliche Telefongespräche miteinander geführt. Er war ein potenter Kunde von INA gewesen. Eines Tages war er in das Büro gekommen und hatte sich ihr vorgestellt mit der Bemerkung, sie sehe genauso aus, wie er sie sich der Stimme nach vorgestellt hätte. Er hoffe nun, daß sie ihn nicht so ledern finde, wie sein Name es vielleicht vermuten lasse. Er hatte sie zum Essen eingeladen, in ein feudales Lokal, sich danach aber keinerlei Freiheiten herausgenommen.

Nach der dritten Einladung hatte er sie um einen kleinen Gefallen gebeten.

Sie hatte gezögert, und er hatte erklärt: »Ich nenne Ihnen mal gleich mein bestes Argument.« Und das Argument war die Bezahlung. Sehr üppig, sehr verlockend. Nicht nur wegen der Kaufkraft. Geld stand für Erfolg. Und Erfolg war fast so gut wie Liebe. Besser vielleicht. Würden sonst so viele Männer den Erfolg über die Liebe stellen?

Nun, zuerst war es wirklich einfach gewesen. Richtig nett und lustig, ein bißchen wie beim Geheimdienst, wenn es stimmte, was man da so las. Vielleicht wollte Mister Lederman sie zuerst nur testen?

Im Grandhotel hatte sich nun eine weiche Männerstimme mit östlichem Akzent bei ihr am Telefon gemeldet: »Spreche ich mit Frau Hugendübel?«

Es war abgemacht, daß sie diesmal unter dem Namen Hugendübel absteigen sollte. Die Idee mit Richard Hornung stammte allerdings ganz und gar von ihr. Aber warum sollte Frau Hugendübel nicht verheiratet sein? Das schadete doch sicher keinem Menschen.

»Ja, bitte?«

»Hier ist Boris. Es geht um Onkel Nick.«

»Oh, ja, Boris. Sonntag abend, zehn Uhr«, hatte sie erwidert.

›Onkel Nick‹ war das Stichwort. ›Nick‹ war wohl Mister Ledermans Vorname. Es klappte ja wieder hervorragend. Sie würde dem Mann die Uhren geben. Er würde ihr sein Päckchen überreichen, das sie in der mittelafrikanischen Botschaft abliefern sollte, zusammen mit dem Spielzeug im Schrank, die würden alles weiterbefördern, Diplomatengepäck würde überhaupt nicht durchsucht. Kinderleicht. Ein Traumjob – irgendwie.

Sie ging ins Kino und war rechtzeitig zurück. Duschte noch in aller Ruhe. Sie fühlte sich entspannt und noch gesättigt von Leidenschaft.

Um zehn hatte es an der Tür ihrer Suite geklopft. Sie hatte geöffnet, gekleidet in ihren neuen Hosenanzug von Armani, hellgraue Seide. Dazu trug sie die passenden Wahnsinnsstiefelettchen. Nicht, daß sie ein Abenteuer direkt gesucht hätte, aber manchmal ergab sich ein Flirt. Und nach ›Spellbound‹ hatte sie geduftet, verführerisch und apart.

Jetzt roch sie nach Schweiß und Urin. Der Hosenanzug war durchnäßt und verkrumpelt. Die Schenkel juckten, und sie konnte sich nicht einmal kratzen, weil ihre Hände gefesselt waren.

Sie begann laut zu beten. Von Kind an betete sie: Lieber Gott, und manchmal spürte sie deutlich, wie der da oben sich zu ihr neigte und ihren Bitten lauschte, gütig und allwissend. Aber jetzt hörte er nicht zu.

Britta dachte, daß sie gern sterben wollte, aber sie wußte zugleich, daß sie überhaupt nicht sterben wollte. Sie wollte leben und glücklich sein, sich über Kleinigkeiten aufregen, sich über ihre Kollegin Lindi ärgern, Serien im Fernsehen anschauen, in die Disco gehen und Liebe machen, alles, was schön und wichtig und das echte Leben war.

Ich muß schlafen. Ich muß schlafen, um frisch zu sein, wenn es hier losgeht. Aber sie wurde das Schreckensbild nicht los.

Boris hatte die Uhren in Empfang genommen, ohne jede persönliche Kontaktaufnahme. Sie hatte sich auch nicht darum bemüht. Sein Aussehen schüchterte sie ein. Er wirkte gefährlich und grausam mit diesen schrägen Augen im zu mageren Gesicht. Schwarze Augen, hohe Wangenknochen, schmaler Mund, gelber Teint. Er sah aus wie ein Mongole. Jedenfalls konnte Britta ihn sich gut vorstellen im Sattel, in Dschingis-Khans Regiment, ein Lasso schwingend – oder hatten sie Säbel gehabt?

Er hatte sein Päckchen aus einer simplen Plastiktüte gezogen und auf den Tisch gelegt, die Uhren in dieselbe Tüte verstaut und war wortlos zur Tür geschritten, die sie entriegelte. Er öffnete die Tür. Zwei Männer drängten ihn zurück ins Zimmer. Sie wußte instinktiv, daß die beiden äußerste Gefahr bedeuteten, und zog sich geräuschlos in den Hintergrund des Zimmers zurück.

Boris wurde gegen den grünen Sessel gedrängt. Der Magere schloß die Tür, während der Junge Boris bedrängte. Britta hörte ein schmatzendes Geräusch, mehrmals, Boris fiel zu Boden, der Sessel kippte um, und dann sah Britta das Messer in der Hand des Jungen und auch die Waffe in Boris' Hand. Dann sprang der Magere mit einem Satz hinzu, und es gab diesen Knall, dumpf, sehr laut. Auch wenn man vorher nie einen Schuß gehört hatte, wußte man absolut sicher, was das war.

Britta kniff die Augen zusammen, zu spät. Sie hatte gesehen, wie der Kopf zerplatzte, hatte dieses schreckliche, platschende Geräusch gehört.

Der Magere sagte dann etwas zum Jungen, in einem harten, fremden Tonfall. Sie kamen auf Britta zu. In diesem Augenblick schien etwas von der vergangenen Lebensenergie des Toten in sie überzugehen, jedenfalls hatte sie deutlich dieses Gefühl. Sie wurde nicht ohnmächtig. Sie sank nicht um. Sie sah ihnen entgegen, auf alles gefaßt, zum Durchhalten entschlossen.

Aber jetzt hatte alle Kraft sie verlassen. Sie zitterte, zerrte matt an den Fesseln, sie ächzte und wimmerte. Die Dunkelheit schien stofflich zu sein, wie Watte, die ihr das Atmen erschwerte. Sie fürchtete zu ersticken.

Aus Richtung Tür kam plötzlich ein Geräusch. Es wurde schneidend hell im Keller. Als ihre Augen sich an das Licht gewöhnt hatten, sah sie den Engel in der Tür stehen. Ein Mann. Blond, groß, athletisch gebaut, mit kräftigen Schultern und schönen Schenkeln. Er trug Jeans und ein weißes Hemd, das sich über dem Gürtel bauschte. Er stand breitbeinig da und lächelte. Offenbar kannte er seine Wirkung und genoß sie auch.

Er schloß die Tür und trat etwas näher. Auch seine Züge waren ebenmäßig. Er war tatsächlich schön. Schön auf die harte, männliche Art. Und er war keine Einbildung, keine Manifestation ihrer Angst. Er war real.

»Meine Güte, was haben die Idioten denn mit Ihnen gemacht? Angebunden! Im Dunkeln! Sie sind doch keine Kriminelle, nicht wahr?«

Er kam nahe heran. Sie hatte Angst. Trotzdem nahm sie wahr, daß er nach Tabak und gutem Rasierwasser roch. Er ging vor ihr in die Hocke und löste die Fesseln von ihren Füßen. Das Blut schoß schmerzhaft ein. Er berührte ihre Fesseln über den Stiefelettchen, dann ließ er eine Hand ein Stück höhergleiten.

Sie empfand die Berührung mit einer Intensität, als hätte die Dunkelhaft ihre Sinne geschärft und ihre Nerven bloßgelegt.

Er erhob sich und machte nun auch ihre Hände los. Den Strick um ihre Hüften löste er nicht. Er zog einen der Holzstühle heran und setzte sich ihr dicht gegenüber, mit gekreuzten Beinen, so elegant, als säße er im Salon und führe ein nettes, gepflegtes Gespräch.

»Möchten Sie rauchen?«

Sie krächzte und mußte sich räuspern, bevor die Stimme kam.

»Ja gern, danke.«

Er hielt ihr eine Packung hin, wartete, bis sie sich bedient hatte, und gab ihr Feuer mit einem kostbar wirkenden Feuerzeug.

»Lassen Sie die Asche einfach auf den Boden fallen, hier muß sowieso ausgefegt werden.«

Er lachte und fuhr fort: »Ich möchte, daß Sie mir einige Fragen beantworten. Danach sind Sie frei, ganz einfach.«

Er sprach fließend Deutsch, mit östlichem Akzent.

»Was wollen Sie wissen? Ich weiß ja nichts.«

»Sie haben diesem Mann im Hotelzimmer etwas übergeben. Wir haben es und wissen, was es war. Sie wußten es natürlich auch. Es ist immer dasselbe. Wir haben auch das Red Mercury, immerhin rund dreihunderttausend Dollar wert, Püppchen. Und du bist also ein Kurier, oder, modern ausgedrückt, eine Kurierin.«

Er lachte wieder.

»Wir wollen Namen und Adressen. Auftraggeber. Was du wo übergeben hast und wem natürlich. Das wäre es dann schon. Beinahe.«

»Ich kenne nur Mister Lederman in New York. Er hat mir die Sachen gegeben. Seine Anschrift weiß ich nicht. Er rief mich an und bestellte mich in ein Lokal. Wir aßen was und tranken Wein. Er sagte mir genau, was ich tun und sagen sollte. Das war alles.«

»Wie sieht er aus?«

»Alt. So fünfzig, sechzig Jahre. Weißes Haar, rosig, rundes Gesicht. Schwarze Augen.«

»Weiter!«

»Ich glaube, er heißt Nick mit Vornamen. Nick war meist auch das Erkennungswort für den Kunden.«

»Was bekamst du dafür?«

»Diesmal dreitausend Dollar. Ich habe mit tausend Dollar angefangen.«

Er wirkte jetzt gar nicht mehr besonders freundlich. Das Bild des zerplatzten Kopfes erschien vor ihrem inneren Auge. Womit hatte der Magere nur geschossen? Im Kino war ein Loch in der Schläfe und fertig. Ihr Magen schien sich zu heben. Sie preßte die Hand auf den Mund.

»Wohin hat der Mann dich geschickt?«

»Zweimal nach Nassau auf den Bahamas. Einmal in ein Hotel auf Moorea. Dann sollte ich nach Warschau, aber das hat sich zerschlagen. Und jetzt Berlin …«

»Wie genau war das Kennwort?«

»›Onkel Nick läßt grüßen.‹ Der in Berlin, der das sagte am Telefon, nannte sich Boris. Er sah wie ein Kosak aus.«

»Aha! Sehr schön. Nun erzähl mir etwas über die Organisation. Du wirst schließlich nicht nur den Onkel Nick kennen.«

»Auf den Bahamas habe ich mit einem in meinem Hotelzimmer ein Glas Planter's Punch getrunken. Wir waren uns sympathisch. Wie er hieß, weiß ich nicht. Ich sollte ihn Don nennen. Er sah wie ein Europäer aus. Vielleicht ein Litauer oder ein Lette. Oder ein Russe. So östlich, irgendwie. Wir … wir mochten uns irgendwie.«

Ihr kamen die Tränen. Sie hatten sich einen Nachmittag lang geliebt. Das Reisenecessaire, das sie übergeben hatte, lag unter dem Hotelbett. Die Sonne hatte das Zimmer in Gold getaucht, die Klimaanlage hatte die Illusion von frischem Seewind gezaubert, wie die Ventilatoren neben der Sonnenbank im New Yorker Studio, wo sie ein Abonnement hatte.

»Du wirst mir nicht erzählen, daß dein Lederman in New York Amerikaner ist. Kann er Russe sein? Einer aus dem Osten?«

Sie wagte nicht zu fragen, weshalb das eine Rolle spielen sollte. Aber wenn sie es nun recht bedachte, hatten die meisten Männer wirklich gewirkt, als kämen sie aus dem Osten. So wie die Truppe hier. Irgendwie.

»Glaub' ich nicht. Nein.«

»Hat er mal jemanden mitgebracht zu euren Treffen? Denk nach. Es ist wichtig für dich.«

Er war gar nicht mehr freundlich.

»Ich sage die Wahrheit. Bitte glauben Sie mir. Er kam immer allein. Einmal war er in dem INA-Büro, wo ich arbeite. Dann trafen wir uns in verschiedenen Restaurants. Jedesmal woanders.«

»Und du fandest das ganz normal. Na schön. Deine Adresse?«

»Soho. Preston Place zwölf.«

»Allein? Wohnst du allein?«

»Ja.«

Er gab ihr eine Ohrfeige, nicht sehr hart, aber auf die Wange, auf die der Magere sie schon geschlagen hatte.

»Mit einer Kollegin. Diana West. Sie ist eine Spur schwarz, sehr nett und hübsch. Sie hat aber nie mitgemacht.«

Darauf kam es nun auch nicht mehr an. Offenbar wußten sie Bescheid und wollten nur ihre Wahrheitsliebe testen.

Er lächelte leicht.

»Na also. Wir wollen doch nett zueinander sein. Du möchtest nicht, daß ich dich schlage. Aber wenn du lügst, dann wird es sehr unangenehm für dich. Schau auf den Tisch da. Sehr verstockte Leute werden auf ihm sehr gefügig. Verstehst du?«

Ihre Zähne schlugen aufeinander. Was konnte sie ihm denn noch erzählen? Sollte sie etwas erfinden? Offenbar wollte er etwas Bestimmtes erfahren. Aber was?

Ihr war jetzt klar, daß sie sich offenbar dumm und leichtsinnig in den Einflußbereich einer Organisation begeben hatte. Es ging um mehr als um das bißchen, das sie transportierte. Es ging um Macht und um Verbindungen. Vielleicht war der Tote ein Abtrünniger gewesen, einer im Alleingang oder Mitglied einer konkurrierenden Gang?

Sie hatte früher gern gemütlich in Krimis gelesen, wie da bei der Mafia Aussteiger bestraft wurden: totgeschlagen, erschossen, ertränkt, erwürgt. Leichen mit einem Kanarienvogel im Mund, wenn der Delinquent ›gesungen‹ hatte. Bei diesen Typen mochte es ähnlich sein.

Eine Connection, für die sie ein winziges Licht war. Er hatte sie geschlagen. Er würde sie ohne weiteres foltern, vergewaltigen, wenn er es für richtig hielt. Töten? Auch töten.

Inzwischen wußte sie zuviel, als daß sie noch hätte glauben dürfen, sie ließen sie frei. Diese Erkenntnis breitete sich mit Eiseskälte in ihr aus.

»Mister Lederman hat einmal während des Essens telefoniert. Da habe ich etwas wie Bokoi gehört, das schien ein Name zu sein, Bokoi oder so ähnlich, ich fand damals, daß es wie Bolschoi klang, und deshalb habe ich es behalten. Er hat gesagt, sein Sohn sei interessiert. Und er säße hier mit einer hübschen, tüchtigen Zaubermaus.«

Sie wurde verlegen. Aber es stimmte wirklich.

Der Schöne nickte und schien interessiert zu sein. Der Lebenserhaltungstrieb gab ihr ein zu sagen:

»Einmal gab er mir eine Telefonnummer. Vor der Reise auf die Bahamas. Vor der zweiten Reise. Da sollte ich anrufen, wenn etwas nicht klappte. In New York. Ich mußte mir die Nummer merken, und das tat ich. Aber jetzt fällt sie mir nicht ein. Ehrenwort. Ich bin zu aufgeregt.«

Der Schöne erhob sich.

»Dann solltest du in aller Ruhe nachdenken. Das geht vielleicht im Dunkeln wirklich besser, nicht wahr? Ich komme wieder.«

Er schob den Stuhl zurück, schritt zur Tür, machte das Licht aus und ging. Sie hörte, wie er den Riegel vorschob. Sie war sicher, daß ihre letzte Galgenfrist begonnen hatte und versuchte, alle Kraft zusammenzunehmen. Ihr fiel der dumme Spruch ein: Du hast keine Chance, aber nutze sie!

»Hilf mir!« rief sie laut. Es mußte etwas geben, eine Kraft, die ihr beistehen würde. »Hilf mir, bitte, bitte, hilf mir doch!«