4. Kapitel

Britta saß im Dunkeln. Sie zitterte. War es vor Kälte? Oder vor Angst? Nein, richtige Angst war es nicht. Jedenfalls nicht die Art Angst, die sie kannte.

Alles in ihr war eiskalt, auch das Gehirn schien erfroren zu sein. Sie hatte weder Hunger noch Durst. Kein körperliches Bedürfnis. Muskeln und Sehnen, die anfangs stark geschmerzt hatten beim durch die Fesselung unbeweglichen Sitzen, meldeten kein Gefühl mehr. Ihr Gesicht hatte geschmerzt nach dem Schlag. Auch das war überstanden. Abgestorben.

Diesen Zustand mochten Fakire erreichen. So ähnlich könnte es sein, wenn man erfror. Gleichgültigkeit. Totale Kapitulation.

Britta merkte, daß sie doch noch einer Regung fähig war: Sie wartete auf den Engel. Irgendwann würde er wieder erscheinen und ihr befehlen, was sie tun und sagen sollte.

Aber er kam nicht. Er ließ sie im Stich. Dann verging auch diese Regung. Diese merkwürdige Sehnsucht nach dem Peiniger. Sie würde sterben.

Weshalb? Es war nicht mehr wichtig.

Plötzlich schien Licht vor ihren Augen zu explodieren. Sie schreckte hoch. Da stand er. Der Schöne, die Verkörperung ihrer Wünsche und Fantasien von damals, vor einer Ewigkeit, als sie noch heiter und sieghaft gewesen war. Ihr Kerkermeister. Die einzige Person, die noch für sie existierte.

Er trug ein weites, weites Hemd zu Jeans. Sein Lächeln war makellos. Seine Augen waren Granit. Er trat stumm hinter ihren Stuhl und löste die Fessel um ihren Unterleib. Sie stöhnte. Er trat vor sie hin und streckte die Arme nach ihr aus. Sie ergriff seine Hände. Er zog sie hoch. Aber sie knickte in den Knien ein. Das Blut strömte schmerzhaft in ihre Beine. Sie merkte selbst, daß sie entsetzlich stank. Nach Schweiß, Urin und Kot. Er hakte sie unter.

»Gehen wir ein paar Schritte, Matka. Du bist ja ganz von Kräften. Gleich lasse ich dir ein kleines Frühstück bringen und auch Zigaretten, wenn du willst. Aber vorher sagst du mir, wer die Kerle im Hotel waren. Der, mit dem du zusammen warst. Und der andere, der nicht wieder aufwachen wird. Wie lief es ab? Kanntest du den Kerl, der angeblich Boris hieß, schon vorher? Rede! Du steckst mit drin. Wenn du jetzt nicht den Mund aufmachst, wirst du ihn bald nie wieder aufmachen können. Und denk nicht, wir würden dir bloß die Zunge abschneiden. Wir fangen das ganz professionell an, scheibchenweise.«

»Aber ich weiß nichts. Ich habe alles gesagt. Ich habe immer so Päckchen überreicht, diesmal Uhren, einmal ein Radio, einmal Bücher, einmal … ach, ich habe doch schon alles gesagt, ich weiß nicht einmal, was sonst noch drin war, ich kann es aufschreiben, wenn Sie wollen. Rauschgift war es nicht, glaube ich jedenfalls. Und es hat nie mehr gewogen als ungefähr ein Kilo – mit Verpackung. Der Mann … also, der Boris, sollte mir auch etwas geben. Er hat es auf den Tisch gelegt. Ich weiß nicht was, Ehrenwort. Ich habe zwischen tausend und dreitausend Dollar bekommen, die Hälfte vorher, als Taschengeld, hat Mister Lederman gesagt, die Hälfte hinterher. Das Hotelzimmer war immer schon gebucht, und meist auf meinen Namen, weil es ja ganz unverfänglich ist; alle Angestellten bei der BEA reisen viel umher. Diesmal aber nicht, ich weiß nicht, wieso.«

»Na schön, du machst das doch recht ordentlich.«

»Ich mußte immer auf jemanden warten, der etwas von ›Onkel Nick‹ sagte. Es waren immer Männer. Der letzte, der …« Sie schluckte, »… der tot ist, der hat am Telefon gesagt: ›Hier ist Boris. Ich bestelle Grüße von Onkel Nick‹, und er hatte wohl einen östlichen Akzent, das ist wahr …«

Flüchtig dachte sie an das Päckchen im Schrank. Ob sie das gefunden hatten? Wohl nicht. War ja auch nur Spielzeug, sah jedenfalls so aus.

Schlafende Hunde sollte man nicht wecken. Also: Schwamm drüber!

Die Tür wurde geöffnet. Der Magere trat mit einem Tablett ein. Darauf standen ein Glas Wasser und ein Teller mit einer Pizza.

Eine Pizza! Wenn alles nicht so schrecklich gewesen wäre, hätte Britta es komisch gefunden.

Der Magere setzte das Tablett auf dem Stuhlsitz ab und ging wieder.

Britta lehnte sich an den Tisch und stützte sich auf dessen Platte ab.

»Gleich gibt's Hamham, Matka«, sagte der gestürzte Engel. Er öffnete den oberen Knopf ihres Jacketts. Natürlich trug sie nichts darunter. Es war der Inbegriff des Sexyseins, unter scheinbar strengen Sachen gar nichts anzuhaben. Im Sommer: Leinenkleid, halterlose Strümpfe. Kein Slip. Herbst und Winter: klassischer Hosenanzug, kein Büstenhalter, kein Slip. Es genügte schon, wenn man es selber wußte. Es strahlte Verführung aus, die Männer rochen es förmlich.

Natürlich nicht in einem Moment wie diesem – dem schrecklichsten bisher in Brittas Leben. Ihr Peiniger hatte sich eine Zigarette angezündet. Er tat zwei tiefe Züge und hielt ihr die Zigarette dann hin, wobei er fragte:

»Was solltest du mit dem Päckchen von Boris machen?«

Bloß nichts von der afrikanischen Botschaft sagen.

»Ich sollte es einem Mann übergeben, der sich am Telefon melden würde. Wie der Boris.«

»Was sollte er sagen?«

»Hier ist Nick.«

Ach du Schreck, ihr war nicht so schnell etwas Besseres eingefallen. Sie streckte die Hand nach der Zigarette aus. Aber er zielte auf ihren Busen und drückte die Glut auf den Ansatz der linken Brust. Der Schmerz war ungeheuerlich, alles Leben strömte an diesem Punkt zusammen.

»Das war nur eine kleine Aufmunterung, Püppi. Und jetzt sagst du mir, wie der Mann hieß, mit dem du im Grandhotel zusammen warst. Ich möchte nicht noch einmal nachhelfen, also rede.«

Ja, der Schmerz war unbeschreiblich, aber er setzte in Britta eine Kraft frei, die sie bisher nicht gekannt hatte. Sie würde nicht ohnmächtig werden. Nicht schreien. Und Richard Hornung nicht verraten. Was löste diesen Widerstand in ihr aus? War es Trotz? Eine atavistische Kraft? Eine Anordnung in ihren Genen? Die Tränen in ihren Augen waren keine Tränen der Schwäche.

»Er hieß wirklich Hugendübel, Paul Hugendübel. Das hat er mir jedenfalls gesagt. Ich heiße Britta Schirrmacher. Wir hatten uns doch erst eine Woche vorher kennengelernt.«

»Wie und wo?«

»An der Rezeption. Ich wollte mich gerade anmelden, da war aber vor mir eine Gruppe Japaner dran. Paul stand auch da, neben mir. Er fragte mich, ob wir nicht zur Überbrückung etwas trinken wollten. Wir gingen in die Bar. Dann zogen wir gemeinsam in meine Suite. Ich nahm ihn mit, wir gaben uns als Ehepaar aus.«

»Du bist eine Nutte.«

»Ich hatte mich verliebt. Er sah sehr gut aus. Nicht so gut wie Sie allerdings«, traute sie sich, ihm zu schmeicheln. Sie wußte, daß die meisten Männer Komplimente genossen, besonders die über ihr Aussehen.

»Ich würde es dir besorgen, aber du stinkst, Matka. Soll ich dir glauben? Keine Ahnung. Iß erst einmal deine Pizza. Sonst wird sie kalt.«

Beinahe hätte sie hysterisch gelacht, trotz des scharfen Schmerzes. Als ob es für sie wichtig wäre, ob die Pizza heiß oder kalt war.

Die Tür wurde aufgerissen. Der Magere stürzte herein.

»Der Chef will sie sehen. Ist gleich hier.«

Der böse Engel dirigierte Britta hastig zu ihrem Stuhl zurück. Der Magere nahm inzwischen die Pizza hoch und stellte sie auf den Tisch. Der Schöne knöpfte ihr Jackett wieder zu und drückte sie auf den Sitz nieder.

»Keinen Mucks, Matka, ich kann sehr ärgerlich werden«, flüsterte er.

Ein kratzendes Geräusch an der Tür. Der Magere huschte hin und öffnete. Der Schöne nahm Haltung an, erstarrte förmlich zur Salzsäule.

Herein schlurfte eine Jammergestalt. Der Mann war alt und krumm, ja, er hatte eine Rückgratverkrümmung, einen Buckel. Auf dem Kopf trug er eine weiße Baseballmütze, der Schirm schien zusammen mit seiner langen, spitzen Nase einen Schnabel zu bilden. Das Gesicht war zerknittert. Graue Haut. Die Augen waren erst zu sehen, als der Alte den Kopf in den Nacken legte, um Britta zu betrachten: schöne, dunkle, große Augen. Ein merkwürdiger Kontrast zu der übrigen Erscheinung.

Der Mensch trug eine Art Pyjama, grau-weiß gestreift, mit einem Adler auf der Brusttasche. Es wirkte wie Gefängniskleidung. Die schwarzen Schuhe aber waren elegant und offenbar handgenäht. Britta achtete bei Männern stets auf das Schuhwerk und kannte sich aus.

Zugleich mit dem Auftritt der merkwürdigen Vogelscheuche drang ein intensiver Duft in den Raum und übertönte ihren eigenen Gestank und Rosmarin und Thymian der Pizza. Britta kannte den Duft nicht, aber er erinnerte sie an glückliche Einkaufsbummel, an Bloomingdale's, an die Welt der teuren Läden und gepflegten Männer, die für sie schon unwirklich geworden war in diesem Reich zwischen Leben und Tod. Er brachte sie beinahe um ihre Fassung.

»Vlado«, sagte die Panoptikumsfigur und umarmte den Engel, der sich zu ihm hinunterbeugte und zwei schmatzende Küsse links und rechts auf die Wangen in Empfang nahm.

Der Chef sah zu ihr hin, dann sprachen sie miteinander. Britta versuchte, aus Blicken und Mimik der beiden Männer Aufschluß zu gewinnen. Der Chef sah noch mehrmals zu ihr hin, dann erklärte er in gebrochenem Deutsch:

»Sie weiß nicht. Gutes Frau. Ich nehme mit.«

Wie konnte er wissen, was sie wußte? Vielleicht hatten sie hier eine Abhöranlage, und der Chef saß gemütlich oben im Sessel oder lag auf der Couch und hörte sich wie ein Hörspiel an, was seine Typen hier aus den Opfern herausfolterten.

Der schöne Vlado erwiderte etwas. Er schüttelte den Kopf. Der Alte entgegnete kurz und heftig. Dann brüllte Vlado einen kurzen Befehl.

Der Magere flitzte nach draußen und kehrte gleich darauf mit einem langen, schwarzen Cashmeremantel und einem schwarzen, lackglänzenden Herren-Ledermantel zurück. Bruno half dem Alten in den Cashmere, der ließ sich den Ledernen reichen und hielt ihn Britta hin. Sie schlüpfte hinein, gab sich mühe, dabei beweglich zu wirken, obwohl ihr jedes einzelne Glied weh tat, nicht zu reden von der Wunde, die ihr der schreckliche Vlado beigebracht hatte. Nur das alte Scheusal nicht verärgern!

Immerhin schien er ihre einzige Chance zu sein, falls ihn nicht reiner Zynismus leitete.

Sie wurde durch den Laden geführt. Der fischige Geruch schlug ihr dick entgegen. Ihr wurde übel. Gleichzeitig aber meldete sich ein wütender Hunger beim Anblick der Kaviardosen und einer Kiste mit auf Eis gelagerten Muscheln, die wie für ein malerisches Stillleben vorbereitet wirkten. Schließlich hatte sie seit einer kleinen Ewigkeit weder etwas gegessen noch getrunken.

Der Magere öffnete die Tür ein wenig, spähte nach draußen in beide Richtungen und riß sie dann diensteifrig weit auf.

Britta trat ins Freie. Es regnete leicht. Die frische Luft, wie reingewaschen, füllte ihre Lungen und wirkte wie ein Schock. Als sie strauchelte, ergriff der Alte energisch ihren Arm. Flüchtig sah sie einen kleinen Kombi-Lieferwagen mit der Aufschrift ›Seafood Murmansk‹, rote Buchstaben auf blau-weiß gestreiftem Grund.

Ihr monströser Begleiter dirigierte sie zu einem schwarzen Mercedes in Überlänge. Er führte sie am Ellenbogen, und für harmlose Beobachter sah es wahrscheinlich so aus, als ließe sich ein schütterer Opa von seiner Enkelin stützten. Aber Britta spürte die Krallenhand, sehr fest und kräftig, und sie verbannte den Gedanken an Flucht, der blitzartig aufgetaucht war. Hier gab es kein Entkommen.

Der Alte schob sie in den Fond des Wagens und ließ sie zur anderen Seite durchrutschen. Drinnen duftete es nach Leder und Zigaretten und Herrenparfüm, und sie dachte beinahe belustigt, daß es gleich nicht mehr so gut riechen würde. Am Steuer saß der Mann, der sie – ihr schien: vor langer, langer Zeit, in einem anderen, noch vergleichsweise glücklichen Leben – hergefahren hatte. Aber vielleicht ähnelten diese dienstbaren Ganoven einander für ihre Augen auch nur wie ein Chinese dem anderen.

Von dem schönen Neffen, der also Vlado hieß, konnte man das allerdings nicht sagen. Er sah beinahe unwirklich aus, wie das Klischee eines schönen Mannes. Und der Onkel war ebenfalls einmalig, eben unbeschreiblich häßlich, bis auf die Augen. Ja, die Augen waren überraschend in dem verwüsteten Gesicht, wie eine Rose auf dem Müll.

Als sie bei Rot an einer Ampelkreuzung halten mußten, stoppte genau neben dem Mercedes ein Polizeifahrzeug. Der junge Polizist am Steuer hörte offenbar Popmusik, denn er klopfte rhythmisch mit einer Hand aufs Steuer und zuckte mit Kopf und Schultern, dazu hatte er ein kleines Lächeln aufgesetzt, den Mund leicht geöffnet. Vielleicht schwelgte er in netten Erinnerungen.

Britta beschwor ihn in Gedanken. Schau her zu mir, du mußt sehen, was sie hier mit mir machen. Sie versuchte, all ihre Kraft auf diesen Wunsch zu konzentrieren. Es gab doch so etwas wie Gedankenübertragung. Jetzt mußte es funktionieren. Sie würde ihm ein winziges Zeichen machen. Er mußte ihren flehenden Blick bemerken, ihr ramponiertes Aussehen, das in so einem Wagen doch sicher auffiel.

Solche Luxusschlitten – mit Chauffeur! – fuhren doch sonst nur in Werbespots, wenn die Dame im Fond Appetit auf irgendeine Kleinigkeit bekam und die männliche Perle am Steuer die Nascherei aus dem Geheimfach vorfahren ließ.

Bitte, dachte Britta inbrünstig, bitte, sieh her!!

Und er tat es wirklich. Er wandte den Kopf, schaute in Brittas Richtung, schaute wieder geradeaus und fuhr an, genau wie der Mercedes. O Gott, er hatte nur automatisch nach dem Nebenfahrzeug gesehen, um den Abstand zu prüfen, aus purer Gewohnheit.

Britta sah zu ihrem Nebenmann hin. Er lächelte sie an. Hatte überraschend ebenmäßige Zähne. Wohl ein Gebiß. Er schwieg, aber Britta wußte, daß er etwas gemerkt hatte. Und sie fürchtete hellsichtig, daß er sie dafür bestrafen würde.

Sie war nahe daran, in Tränen auszubrechen, aber dann sagte sie sich, daß ihre einzige Chance darin lag, den Rest bezaubernder Weiblichkeit auszuspielen. Sie lächelte zurück.

So ein Lächeln hatte früher die Männer gefügig gemacht. Nick Lederman hatte sie manchmal ›bright Britta‹ genannt, strahlende Britta. O ja.

Sie fuhren eine lange Strecke, hinaus aus der Stadt. Daß ihr die Augen nicht verbunden worden waren, konnte ebenso ein freundliches Zeichen sein wie eins dafür, daß sie sowieso nie Gelegenheit erhalten würde, ihr Ziel preiszugeben.

Angst erfüllte sie, saß kalt in ihrem Bauch, lähmte ihren Atem, machte den Mund trocken und ließ die Augen brennen. Vor allem steckte sie wie ein Schraubstock in ihrem Rücken.

Nie vorher hatte Britta wirklich Angst gehabt. Der Alte sprach nicht zu ihr. Er hatte die schweren Lider fast geschlossen. Sein Kopf pendelte, die vorgebeugte Haltung hielt ihn beinahe in der Waagerechten.

Endlich hielten sie an. Eine breite Einfahrt war sichtbar, sehr großzügig und solide wirkend. Ein Tor öffnete sich automatisch. Sie fuhren eine breite Allee entlang, eine dieser wundervollen Alleen in den neuen Bundesländern mit Bäumen, deren Kronen sich wie gotische Spitzbogen zusammenfügten.

Als der Wagen knirschend auf dem Kies anhielt, erblickte Britta eine Villa, eher ein Schloß, mit einer breiten Freitreppe und Fronten sehr hoher Fenster an beiden Seiten. Zwei Männer traten an ihren Wagen heran und öffneten die Türen.

Beide Männer trugen helle Hemden, Jeans und schwarze Lederwesten. Der auf ihrer Seite verzog keine Miene, als sie herauskletterte in ihrer Wolke von Gestank.

Der Alte war, erstaunlich behende, ebenfalls ausgestiegen und packte nun wieder ihren Arm. Er führte sie zu der Treppe, nahm die Stufen elastisch und so schnell, daß sie nur mühsam mithalten konnte in ihrem geschwächten Zustand. Die breite Flügeltür führte unmittelbar in einen riesigen Raum. Britta hätte ihn als Saal bezeichnet. Er sah wahrhaftig aus wie einer der Räume bei einer Schloßbesichtigung.

Der Onkel sagte etwas zu einem der Männer, und es bestand kein Zweifel daran, daß er hier zu sagen hatte. Britta meinte den Namen Juri als Anrede herauszuhören. Juri – falls er wirklich so hieß –, nickte und ergriff nun anstelle des Alten ihren Arm. Er führte sie aus dem Saal hinaus, durch einen langen Korridor mit vielen Türen. Er sah aus wie der Gang in einem Hotel, und vielleicht war dies ja auch eins?

Sie wurde in einen Raum geführt, der wirklich ein Hotelzimmer teuerster Kategorie hätte sein können. Die Tür zum Bad stand offen, ganz in Weiß, Marmor, Frottee, Flausch auf dem Boden, ein Riesenspiegel. Ein Wunder. Noch wunderbarer erschien ihr der weiße Bademantel auf der Lehne eines weißen Sessels, auf den ihr Begleiter zeigte.

Nur jetzt nicht schwach werden. Nerven behalten. Der Mann drehte stumm die goldenen Wasserhähne über der Wanne auf, sie wagte zu sagen: »Danke, Juri.« Er nickte und ging hinaus.

Er ging! Sie war allein! Sie lauschte, ob sich der Schlüssel im Schloß drehte oder ein Riegel vorgeschoben wurde. Nichts zu hören. Ihr fiel ein Film ein, den sie vor einiger Zeit gesehen hatte. Ein perverser Kerl hatte da in allen Wohnungen seines Mietshauses Kameras versteckt und konnte so jederzeit beobachten, was die Mieter taten.

Wenn es hier so war, dann konnte sie es ja auch nicht ändern. Sie zog sich nackt aus, schüttete Badelotion ins Wasser, achtete auf die richtige Temperatur. Noch vor kurzem hatte sie sich dem Tode sehr nahe gefühlt, nun legte sie Wert auf parfümiertes Badewasser. Wie seltsam. Verrückt!

Angst hatte sie immer noch. Aber sie erkannte, daß man eine Todeskandidatin wohl kaum noch würde baden lassen. Vielleicht wollte Onkelchen sich ihrer Talente als Kurier bedienen?

Sie badete nur kurz, weil sie nicht nackt in der Wanne überrascht werden wollte, schrubbte sich energisch ab, ließ das Wasser ablaufen und duschte erst heiß und dann eiskalt. Sie fühlte sich besser.

Der Bademantel war ihr viel zu groß, doch zu große Bademäntel sehen an einer Frau rührend und niedlich aus, wenn sie die Ärmel aufkrempelt und den Gürtel eng bindet. Das hatte Britta schon mehrmals ausprobiert.

Ihre Kleidung rollte sie zu einem Bündel zusammen, die saubersten Sachen nach außen, weil sie der Gedanke genierte, irgendwer könne das Zeug sehen, anfassen, daran riechen gar. Sie kämmte sich mit einem grobzinkigen, weißen Kamm und spülte den Mund aus, versuchte auch, mit dem Zeigefinger reibend, die Zähne zu putzen.

Es klopfte an der Tür, und Juri trat ohne weiteres mit einem Tablett ein, das er auf den Tisch stellte. Auf einem Teller waren zwei Brotschnitten mit Schinken und eine Weinrebe nett angerichtet. Eine kleine Kanne mit belebend duftendem Kaffee und ein Kännchen mit Kaffeesahne standen daneben. Tischlein deck dich.

Juri war schon wieder gegangen, scheinbar ohne sie zu beachten. Brittas Vitalität siegte. Sie setzte sich und aß mit Appetit, ja, sie verschlang die ersten Bissen förmlich, verbrannte sich den Mund am Kaffee und verschluckte sich fast daran. Ihr Leben war aus der Bahn geraten, doch innerhalb ihrer unglücklichen Verfassung ließ ihr diese Mahlzeit den Spielraum für einen animalischen Genuß.

Wieder öffnete sich die Tür; diesmal war vorher nicht angeklopft worden. Eigentlich hatte Britta die ganze Zeit geahnt, was nun kam. Der Alte trat ein. Er war in eine Art braunen Pyjama gekleidet, braun mit weißen Pünktchen, offenbar aus reiner Seide, eine Eleganz, die in geradezu obszönem Widerspruch zu seiner häßlichen Erscheinung stand.

»Ah, mein Neffe sagt, du sein sehr zäh, viel Widerstand, das gefällt mir, komm mit, wir wollen das nun probieren«, sagte er.

Ohne Mütze sah er ganz anders aus, weniger vogelartig, dafür gefährlicher, knochiger, mit einem blanken, gebräunten Schädel, auf dem nicht ein Haar wuchs, während über der Oberlippe ein breiter Bürstenbart saß, lackschwarz, wohl gefärbt. Wie alt mochte er sein? Wenn Vlado um die Dreißig oder jünger war … vielleicht war der Alte kaum fünfzig? Nein, er war ein Greis, gebeugt von der Zeit, mit brüchigen Knochen und saftloser Haut.

Das flüchtige Wohlgefühl war vergangen. Britta erhob sich voller Angst.

»Komm mit Onkel Kolja. Du sagen Onkel Kolja!«

»Ja, Onkel Kolja.«

Er nahm wieder ihren Ellenbogen und führte sie hinaus auf den Gang. Sie war sich sehr stark ihrer Nacktheit unter dem Bademantel bewußt. Ihr war auch klar, daß es sich hier um eine Inszenierung handelte, in der sie eine Rolle zu spielen hatte. Eine schreckliche Rolle?

Der unheimliche Onkel führte sie in einen Raum mit dunklem Mobiliar, viel geschnitztem Holz, sehr schweren Möbeln. Unter einem gewaltigen Tisch lag auf dem blanken Parkett ein naturfarbener Teppich. Fünf hohe Fenster gingen in einer Front auf einen Park hinaus. Sie waren ohne Gardinen. Britta sah Baumwipfel und etwas Himmel.

Vor allem aber war da der Hund. Eine gelbe Dogge. Sie erhob sich geschmeidig vom Boden zwischen zwei Fenstern, wie entschlossen zu Sprung und Angriff. Doch auf eine Handbewegung ihres Herrn hin ließ sie sich wieder auf dem Boden nieder.

An der Wand gegenüber der Fensterfront stand als einziges Möbel ein sehr breites Bett, bedeckt mit einer braunen Felldecke. An der Wand dahinter war an einem Haken mit einem goldblanken Kettchen eine Gerte aufgehängt, auf die der Alte nun gebieterisch zeigte, während er Britta mit einem Ruck den Bademantel abnahm und sie sich beeilte, den Knoten des Gürtels gleichzeitig zu lösen.

»Nehmen!«

Britta fühlte sich einen Augenblick lang wie eine Zuschauerin der merkwürdigen Szene, doch kroch sie über die Bettdecke auf die Gerte zu, nahm sie herunter und ließ sie sich von dem Alten aus der Hand nehmen. Er schlug sofort zu, nicht sehr hart, aber schnell und ausdauernd. Britta sank flach auf das Fell. Stärker als den sich steigernden, zunehmend brennenden Schmerz empfand sie die Demütigung der Züchtigung, besonders, als er verlangte, sie solle »Danke, Onkel Kolja« sagen, bis sie es schließlich, nach einer trotzigen Pause, immer wieder hinausschluchzte, weinend wie ein Kind. »Danke, Onkel Kolja, danke, Onkel Kolja!«

Er drehte sie sanft auf den Rücken und betrachtete forschend ihr Gesicht. Dann nahm er sie, ohne sich auszukleiden, erstaunlich kraftvoll, keine Spur von dem gebeugten Greis, den Britta als jenseits von Gut und Böse eingestuft hätte.

Er erhob sich.

»Die Schöne und das Biest!«

Er lachte und ging. Die Dogge rührte sich nicht, schaute aber unverwandt zu Britta hin.

»Guter Hund«, rief Britta ihr zu. Jetzt war schon alles egal. Sie hatte ja gewußt, daß sie hier nicht zur Sommerfrische war. Und dies war wahrscheinlich die einzige Möglichkeit für den unheimlichen Onkel: Er brauchte das angstvolle Opfer, den Landsknechtssieg über das erbeutete Weib. So etwas las man ja. Von so etwas hörte man manchmal. Doch so etwas passierte einem nicht. Glaubte man. Sie lachte hysterisch. Die Dogge schaute weg, schien wahrhaftig peinlich berührt zu sein.

Britta überlegte: Was sollte sie jetzt machen? Aufstehen, einen Angriff des reizenden Tieres riskieren, das da auf dem Sprung lag? Bestenfalls hinausgehen und das Zimmer von vorhin suchen? Nein. Abwarten. Den Schmerz ignorieren. Stark sein. Das imponierte Onkel Kolja. Nur wenn sie Courage behielt, hatte sie Chancen. Sie versuchte, sich aufzurichten und nach dem Bademantel zu greifen, aber der Hund wandte sofort wieder aufmerksam den Blick in ihre Richtung.

Endlich, es mochten zehn Minuten oder zwei Stunden vergangen sein, klopfte es kurz, und Juri trat ein. An seinem Blick erkannte sie, daß es ihn nicht gleichgültig ließ, sie nackt zu sehen, aber er tat unbewegt. Die Dogge erhob sich elegant und schritt zu ihm hin. Er streichelte sie flüchtig. Dann hob er den weißen Bademantel auf und hielt ihn Britta hin. Er sagte nichts, schien ihre malträtierte Kehrseite nicht zu bemerken, offenbar kannte er die Praktiken seines Herrn und Meisters. Er nahm die Gerte und hängte sie wieder mit dem güldenen Kettchen an den Haken. Wie oft mochte er das schon getan haben? Ein anderes Mädchen, dieselbe Gerte? Und was wurde jeweils aus dem Mädchen? Britta hatte einen Ansturm von Furcht zu überstehen.

Juri führte sie stumm hinaus, zurück in das helle Zimmer von vorhin. Dort stellte er den Fernseher an und reichte ihr die Fernbedienung.

»Juri, was wird jetzt mit mir?«

Er zuckte mit den Schultern. War er stumm? Hatte man ihm die Zunge herausgerissen? War sie hier in de Sades Reich gelandet?

Juri ging. Britta legte sich bäuchlings auf das Bett. Es stand ebenfalls den Fenstern gegenüber und war bedeckt mit einer weißen Waffelpikeedecke. Zwischen zwei Fenstern stand der Fernsehapparat. Es gab Werbespots: Waschpulver und Knusperflocken, Parfüm, Sex und Schokolade.

Die Schöne und das Tier – oder das Biest? Oder die Bestie? Der herrliche Cocteau-Film mit Jean Marais – ach, das hier war gar nicht romantisch.

Aber noch lebte sie ja. Machte sie das Beste draus: guckte sie in die Glotze.

Doch gleich darauf war Britta eingeschlafen. Sie schlief bis zum nächsten Morgen.