41 . Charles

 

»Ich will verdammt sein«, sagte er laut, als er sich die Computeranalyse der wiederholten PET-Untersuchung anschaute.

Es war immer noch merkbar abnormal, aber der Computer sagte, dass die Glukoseaufnahme im Verlauf der vergangenen vierundzwanzig Stunden angestiegen war im Vergleich zum Szintigramm vom Vortag. Die Verbesserung war für das bloße Äuge nicht sichtbar, aber der Computer sah sie, und das war für Charles gut genug.

Und gute Nachrichten für Bulmer, obwohl es Charles einer Diagnose nicht näher brachte. Er breitete das neue zweistündige EEG auf seinem Schreibtisch aus.

Trotz des pappigen Geschmacks im Mund und der pochenden Kopfschmerzen von zu viel Bourbon hatte er sich erinnert und auf dem Weg zur Stiftung eine Gezeitenkarte für den East River besorgt. Als er sah, dass die Flut um 9:17 fällig war, hatte er ein EEG für 8:30 angeordnet.

Und nun konnte er die gleiche Sinuswellen-Konfiguration sehen, die ihm schon bei dem vierundzwanzigstündigen EEG zwei Tage zuvor aufgefallen war und die ungefähr dreißig Minuten vor dem Scheitelpunkt der Flut einsetzte und dreißig Minuten danach wieder abebbte.

Er empfand eine gewisse perverse Befriedigung in seiner neu gefundenen Fähigkeit, das Erscheinen eines Phänomens vorauszusagen, von dem er sich absolut sicher gewesen war, dass es nicht existierte.

Seine private Leitung klingelte. Er nahm den Hörer ab und fragte sich, wer ihn hier am Sonntagmorgen anrufen würde.

Er erkannte sofort die heisere Stimme des Senators.

»Warum habe ich noch keinen Bericht gesehen?«

»Ich wünsche Ihnen einen schönen Morgen, Senator. Ich werde heute erst mit den Untersuchungen fertig sein.«

»Sie haben genug Tests angestellt. Der Knopf-Fall war Beweis genug für mich.«

»Vielleicht, aber er erklärt nichts.«

»Erklärungen interessieren mich nicht. Können Sie abstreiten, dass er über Heilkräfte verfügt? Können Sie es?«

»Nein.« Es brachte ihn fast um, es zuzugeben.

»Das reicht mir! Ich will, dass Sie –«

»Senator«, sagte Charles scharf. Er musste McCready noch ein wenig länger hinhalten. Er konnte Bulmer jetzt nicht einfach so gehen lassen. »Diese Macht, oder was immer es auch ist, funktioniert nur sporadisch. Aber heute Abend werde ich das genaue Muster ihres Auftretens bestätigt haben. Dann können wir auf die Minute genau voraussagen, wann es funktioniert. Bevor das nicht geschehen ist, tappen wir im Dunkeln. Nur noch einen Tag. Das ist alles. Das verspreche ich.«

»Nun gut«, sagte McCready offensichtlich widerstrebend. »Aber ich habe schon so lange gewartet.«

»Ich weiß. Morgen früh haben Sie Ihre Ergebnisse.«

Charles legte auf und starrte auf Bulmers EEG, ohne es zu sehen. Der Bericht, auf den McCready wartete, lag schon zum Diktat bereit, und morgen würde Marnie ihn in den Hauptcomputer eintippen. Aber Charles hatte das nicht erwähnt, denn er wusste, dass es dem Senator gar nicht auf den Bericht ankam.

Er wollte eine Heilung.

McCready wollte von Alan Bulmer berührt werden und so seine Myasthenia gravis loswerden. Er wurde immer unruhiger, immer ungeduldiger und immer fordernder. Und warum auch nicht? Wenn er wirklich Bulmers Ruf und Glaubwürdigkeit als Arzt wiederherstellen würde, hatte er ein Recht auf diese Berührung.

Aber um Bulmers Reputation wiederherzustellen, benötigte er Charles Axfords Unterschrift unter dem Bericht, in dem stand, dass Dr. Alan Bulmer in der Tat zur richtigen Zeit Unheilbare mit einer simplen Handberührung heilen konnte. Charles wollte aber noch einen letzten unwiderlegbaren Beweis, bevor er bereit war, das zu unterschreiben.

Er beabsichtigte, diesen Beweis heute Abend zu erhalten, irgendwann nach 9.00. Aber vorher wollte er ein Gespräch mit Bulmer unter vier Augen führen.

 

»Das ist also die Stunde der Macht«, sagte Bulmer und sah auf Sinuswellen des auf dem Bett ausgebreiteten EEGs.

»Wenn Sie es so nennen wollen.«

Bulmer schaute zu ihm hoch. »Sie geben sich auch niemals geschlagen.«

»Nicht oft.«

»Und Sie sagen, dass sich mein PET-Szintigramm verbessert hat?«

»Minimal, ja.«

»Dann kann ich also gehen.«

»Nein!«, sagte Charles ein wenig schneller und lauter, als ihm lieb war. »Noch nicht. Ich will Sie heute Abend noch einmal an das EEG anschließen und beobachten, was passiert, während Sie diese sogenannte Gabe an einem Patienten anwenden.«

Bulmer runzelte die Stirn, offensichtlich nicht glücklich über diese Idee. »Dieser Ort geht mir auf die Nerven. Ich langweile mich zu Tode.«

»Sie sind jetzt schon so lange hier. Was macht das jetzt noch für einen Unterschied, ob Sie weitere vierundzwanzig Stunden hier sind?«

Alan lachte. »Wissen Sie, wie oft ich genau die gleichen Worte zu Patienten mit Hospitalismus gesagt habe? Tausendmal!« Er schüttelte den Kopf. »Gut. Einen Tag noch, und dann gehe ich.«

»In Ordnung.« Charles wandte sich zur Tür. Er wollte diese Frage nicht stellen, aber er brauchte eine Antwort. »Nebenbei, wie bringen Sie diese verdammte Macht zum Funktionieren?«

»Welche Macht?«, fragte Bulmer lächelnd. »Die, die nicht existiert?«

»Ja. Genau die.«

Er kratzte sich am Kopf. »Ich weiß es wirklich nicht. Wenn es so weit ist, lege ich einfach eine Hand auf eine Person und … ich will einfach, dass sie gesund wird.«

»Eine flüchtige Berührung im Vorbeigehen reicht nicht aus?«

»Nein. Viele Male ist nichts passiert, während ich jemanden untersucht habe – HNO, Herz, Lunge, Blutdruck und so weiter. Dann habe ich etwas gefunden, wünschte, dass es weggeht« – er zuckte mit den Schultern – »und weg war es.«

Charles sah das Funkeln in Bulmers Augen, und ihm wurde zum ersten Mal bewusst, dass dieser Mann ein wirklicher Heiler war, ob mit oder ohne Gabe. Charles kannte viele Ärzte, die ihren Beruf gern ausüben – die Ursache eines Problems herausfinden und es dann beseitigen. Bulmer war auch so, aber Charles begann allmählich auch noch etwas anderes in ihm zu sehen, eine fast mystische Dimension. Bulmer wollte heilen. Nicht nur einfach eine Krankheit ausmerzen, sondern eine Person wieder ganz machen, und es machte ihn verdammt noch mal glücklich, wenn ihm das gelang. Das Erste konnte man lernen; zu dem Zweiten musste man geboren sein.

Und verdammt, er fing an, diesen Mann zu mögen.

»Müssen Sie die Diagnose kennen?«

»Ich weiß es nicht. Normalerweise kenne ich sie, weil ich mit ihnen spreche und sie untersuche.« Er hob eine Augenbraue, als er Charles ansah. »Eben wie ein richtiger Arzt.«

»Spüren Sie etwas, wenn es geschieht?«

»Oh ja.« Seine Augen bekamen einen abwesenden Ausdruck. »Ich habe niemals Haschisch oder Kokain genommen, aber so ähnlich muss das sein.«

»Ist das gut?«

»Großartig.«

»Und die Patienten? Bekommen die alle Anfalle?«

»Nein. Mr K. hatte vermutlich einen Anfall, weil ganz plötzlich die Metastasen in seinem Hirn verschwunden waren und dadurch irgendwas ausgelöst wurde. Viele scheinen einen kurzen Schmerz im betroffenen Organ zu spüren, aber er ist der Einzige, der einen Anfall hatte. Warum dieses plötzliche Interesse?«

Charles ging wieder zur Tür und sah nicht zurück. »Einfach nur Neugierde.«

 

Da es Sonntagabend war und keine Assistenten mehr erreichbar waren, hatte er das EEG-Gerät selbst in Bulmers Zimmer gebracht und angeschlossen. Das war auch gut so. Er wollte jetzt keine Zuschauer haben. Die Elektroden waren an seiner Kopfhaut angebracht und die Telemetriebox war angeschlossen. Charles legte den Schalter um und startete die Aufzeichnung.

Er sah prüfend auf die Uhr: 21:05. Die Flut sollte um 21:32 kommen. Die Stunde der Macht hatte begonnen, und es war für Charles Zeit, die schwierigste Aufgabe seines Lebens zu bewältigen.

»Ich will Sie jemandem vorstellen«,, sagte er zu Bulmer.

Er ging zur Tür und bedeutete Julie, die draußen wartete, einzutreten.

»Dr. Bulmer«, sagte er, als sie das Zimmer betrat. »Ich möchte Sie mit meiner Tochter Julie bekannt machen.«

Ein verwirrter Ausdruck zog über Bulmers Gesicht, aber dann ging er auf Julie zu, lächelte und gab ihr die Hand.

»Hallo, Miss Axford!«, sagte er mit einer Verbeugung. »Treten Sie näher.«

Julie warf Charles einen unsicheren Blick zu, aber er lächelte auch und winkte sie herein. Er hatte ihr erzählt, dass der Mann Drähte am Kopf haben würde, aber sonst nichts anderes, als dass sie jemanden kennenlernen sollte, den er kannte. Er konnte es nicht über sich bringen, mehr zu sagen, wollte nicht den leisesten Hoffnungsschimmer in ihr aufkeimen lassen, wo er schon selbst kaum zu hoffen wagte.

Bulmer machte viel Wirbel um Julie. Er setzte sie auf seinen Stuhl und fand eine Cola für sie im Kühlschrank.

»Aber ich darf nur fünfzig Milliliter haben«, belehrte sie ihn.

Er machte eine Pause und nickte dann. »Dann wirst du auch nicht mehr bekommen.«

Er stellte ihr den Fernseher an, und als ihre Aufmerksamkeit von einer Sitcom gefesselt war, wandte er sich an Charles.

»Wann ist ihre nächste Dialyse?«

Charles war einen Moment sprachlos. »Hat Sylvia Ihnen etwas erzählt?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich wusste nicht einmal, dass Sie Vater sind. Ich sah, wie blass sie ist, die Ringe um ihre Augen, und dann sah ich zufällig den Shunt, als der Ärmel hochrutschte. Möchten Sie mir mehr darüber sagen?«

Charles fasste die Geschichte kurz zusammen – chronische atrophische Nierenbeckenentzündung aufgrund einer angeborenen Harnleiteratresie, Schrumpfblase, Abweisung von Fremdorganen, hohe zytotoxische Antikörpertiter.

»Armes Kind«, sagte Bulmer, und in seinen Augen lag wirkliches Mitgefühl. Aber es schien nicht nur Julie zu gelten.

»Warum sehen Sie mich so an?«, fragte Charles.

Bulmer tippte mit einem Finger an seine Stirn. »Ich kann mir vorstellen, was es Sie da oben gekostet haben muss, sie zu mir zu bringen.«

Er ging zu Julie, unterhielt sich mit ihr und zog ihr Interesse allmählich vom Fernseher ab. Sie ging auf ihn ein, und schon bald plapperte sie über ihre Dialysebehandlung und wie sie sich täglich die Flüssigkeiten und die unzähligen Tabletten einteilte.

Charles stellte fest, dass Bulmers Art auch ihm imponierte, und wünschte sich fast, trotz seines Ekels bei dem bloßen Gedanken an Praxisarbeit, dass auch er so ein Händchen für Menschen hätte.

Plötzlich ergriff Bulmer die Schultern des Mädchens und schloss die Augen. Er zuckte, und Julie schrie kurz auf.

Charles sprang zu ihr. »Was ist los?«

»Mein Rücken!«

Er spürte, dass er die Zähne fletschte, als er sich zu Bulmer wandte. »Was haben Sie mit ihr angestellt?«

»Ich glaube, ihr fehlt nichts.«

»Mir geht es gut, Vati«, sagte Julie. »Er hat meinen Rücken nicht berührt. Es hat nur wehgetan.«

»Sie haben ganz schön Glück mit der Zeit, wissen Sie das«, sagte Bulmer.

»Wie meinen Sie das?«

»Dass Sie sie genau in der Stunde der Macht hierhergebracht haben.«

»Das war kein Glück. Ich habe die Gezeitentabelle verwendet.«

Bulmer sah ihn an, als ob er verrückt wäre. »Gezeitentabelle. Was hat die damit zu tun?«

»Jetzt ist Flut. Die löst Ihre sogenannte Stunde der Macht aus.«

»Wirklich? Wann haben Sie das herausgefunden? Warum haben Sie mir das nicht gesagt?«

Charles lief ein eisiger Schrecken den Rücken hinunter. »Erinnern Sie sich nicht, dass ich es Ihnen gesagt habe?«

»Natürlich nicht! Sie haben es mir nie gesagt!«

Charles hatte nicht die Absicht, mit ihm zu streiten. Er rief die Radiologie an und ordnete ein weiteres PET für den Morgen an. Dringlichkeitsstufe Eins. Er hatte einen furchtbaren Verdacht, was Bulmers geistige Schwächen und abnormalen Szintigramme bewirken könnte.

Aber jetzt wollte er Julie nach Hause bringen. Es war Zeit für ihre Dialyse.

Sie wünschten dem leicht verwirrten Alan Bulmer eine gute Nacht und eilten zum Aufzug. Er ließ Julie die Knöpfe drücken und sie freute sich wie eine Schneekönigin. Plötzlich beugte sie sich vor und presste die Oberschenkel zusammen.

»Oh, Vati, es tut weh!«

Besorgt bückte er sich zu ihr hinunter. »Wo?«

»Hier!«, schrie sie und zeigte auf ihren Schambereich. Und dann schluchzte sie. »Und es ist alles nass!«

Und dann sah er einen nassen Fleck, der sich über ihre Schenkel ausbreitete und ihre Jeans verfärbte. Die Luft im Aufzug war mit dem unverkennbaren Ammoniakgeruch von Urin erfüllt, der aus einem Kind lief, das seit Jahren nicht mehr als ein paar Tropfen in der Woche produzierte, Urin, der in eine Blase floss, die vergessen hatte, wie man ihn hält.

Charles drückte seine Tochter an sich, als seine Brust fast explodierte. Er schloss die Augen in dem aussichtslosen Versuch, ein Schluchzen zu unterdrücken, das seinen Körper von Kopf bis Fuß durchschüttelte, und die Tränen zurückzuhalten, die über seine Wangen liefen.