16. Alan

 

Ginny kam ihm an der Tür entgegen, als er aus der Praxis kam.

»Alan, was ist hier los?«

Ihre Lippen waren leicht geöffnet, wie immer, wenn sie verärgert war, und sie hatte ihre Kontaktlinsen herausgenommen, sodass ihre natürliche blaue Augenfarbe zu sehen war. An diesem Abend war es ein sehr besorgtes Blau.

»Ich weiß nicht.« Es war ein langer Tag gewesen, und er war müde. Er hatte keine Lust auf ein Frage-und-Antwort-Spiel. »Sag du es mir.«

Sie hielt eine Zeitung hoch. »Josie brachte das vorbei.«

Alan ergriff das Blatt und stöhnte auf, als er das Logo sah: The Light. Dann sah er die Schlagzeile auf der ersten Seite: WUNDERHEILUNGEN AUF LONG ISLAND! (Weiter auf Seite 3.)

Es stand alles drin: Fünf seiner Patienten – Henriette Westin, Lucy Burns und andere – beschrieben ihre früheren chronischen oder unheilbaren Krankheiten, die jetzt nach einem Besuch bei Dr. Alan Bulmer geheilt waren. Der Bericht war nicht abwertend. Ganz im Gegenteil. Sie priesen Alan über alles. Jeder, der ihre Kommentare las, musste ebenfalls überzeugt sein, dass er ein Heiliger war.

Er sah auf und fand Ginnys Blick auf ihn fixiert.

»Wie konnte so etwas in Umlauf kommen?«

Alan zuckte die Schultern, kaum in der Lage, ihr zuzuhören. Er war zu mitgenommen, um folgerichtig zu denken. »Ich weiß nicht. Leute reden …«

»Aber sie reden hier über Wunder! Über Gesundbeten!«

Alan überflog zum zweiten Mal den Artikel. Jetzt fand er ihn noch schlimmer.

»Der Reporter schreibt, er hätte mit dir gesprochen. Er zitiert dich sogar. Wie kann das sein?«

»Er kam in meine Praxis und stellte sich als Patient vor. Ich schmiss ihn raus.«

»Warum hast du mir nichts davon erzählt?«

»Ich hielt es nicht für wichtig«, sagte Alan. Eigentlich hatte er vergessen, es Ginny zu erzählen. Vielleicht hatte er es einfach aus seinen Gedanken gestrichen. »Ich dachte, damit sei die Sache erledigt.«

»Hat er dich richtig zitiert?« Sie zog ihm die Zeitung weg und las aus dem Artikel. »Vielleicht ein paar Zufälle. Vielleicht ein Placeboeffekt‹?«

Alan nickte. »Ja. Ich glaube, das habe ich gesagt.«

»Das ist alles?« Ihr Gesicht lief rot an. »Wie wäre es mit ›Völliger Unsinn!‹? Oder ›Bei Ihnen piept’s wohl?‹?«

»Komm, Ginny. Du weißt, so etwas hätten die niemals gedruckt. Es hätte die Story ruiniert.«

»Vielleicht«, sagte sie. »Aber ich sage dir, was die drucken werden, und das ist ein Widerruf!«

Alan fühlte Verzweiflung in sich hochsteigen. »Das würde nur das Problem vergrößern und der Geschichte noch mehr Publizität verleihen, was genau das ist, worauf The Light aus ist. Wenn wir uns einfach weigern, die Geschichte einer Erwiderung zu würdigen, wird das Interesse allmählich erlahmen.«

»Und was sollen wir in der Zwischenzeit machen? Nichts?«

»Immer mit der Ruhe«, sagte Alan, erhob sich und ging auf sie zu.

Sie steigerte sich in einen ihrer Wutanfälle hinein. Er wollte die Arme um sie legen, aber sie stieß ihn weg.

»Nein! Ich will nicht, dass über mich als die Ehefrau des ortsansässigen Wunderheilers geredet wird! Ich will, dass dieser Mist aufhört, und zwar sofort! Sag mir nur, wie … !«

Ihre Stimme erreichte einen kreischenden Ton, der Alans Nerven stark strapazierte.

»Ginny …«

»Sag mir einfach, warum du nicht Tony anrufst, damit er dieses Käseblatt wegen Verleumdung oder Beleidigung oder was auch immer verklagt und einen Widerruf durchsetzt!«

»Ginny …« Alan spürte, dass seine Geduld am Ende war.

»Sag es mir!«

»Weil es wahr ist, verdammt noch mal!« Alan bereute diesen Ausbruch sofort. Er hatte das nicht sagen wollen.

Ginny ging einen Schritt zurück, als hätte sie einen Schlag ins Gesicht bekommen. Ihre Stimme war nur noch ein Piepsen, als sie sprach.

»Was?«

»Es stimmt«, sagte Alan. »Ich habe seit Wochen versucht, dir davon zu erzählen, aber ich wusste, du würdest mir nicht glauben.«

Ginny griff mit einer zitternden Hand hinter sich, fand einen Stuhl und setzte sich.

»Alan, du machst Witze!«

Alan ließ sich auf dem Sofa ihr gegenüber nieder. »Manchmal, Ginny, wünsche ich beinahe, es wäre so. Aber es ist wahr. Diese Leute lügen nicht und sind auch nicht verrückt. Sie wurden wirklich geheilt. Und ich habe es getan.«

Er sah ihren Mund eine tonlose Frage formen.

Er sprach es für sie aus: »Wie? Ich weiß es nicht.« Er erwähnte den Vorfall mit dem Landstreicher nicht. Es war schon so schwer genug zu glauben, auch ohne diese Geschichte und das, was Tony ihm kürzlich über den Mann erzählt hatte. »Alles, was ich weiß, ist, dass ich zu bestimmten Zeiten des Tages Leute heilen kann, egal, was für Beschwerden sie haben.«

Ginny sagte nichts. Alan auch nicht. Ginny beobachtete ihre Hände; Alan beobachtete sie. Schließlich sagte sie zögernd: »Wenn es wahr ist – und ich kann nicht glauben, dass ich hier sitze und auch nur darüber rede –, aber wenn es wahr ist, dann musst du damit aufhören.«

Alan saß wie betäubt da. Er konnte nicht aufhören. Nicht für immer. Er konnte sich eine Zeit lang einschränken oder es zurückhalten, aber er konnte nicht aufhören.

»Es geht um Heilen, Ginny«, sagte er. »Ich weiß nicht, wie lange ich diese Gabe haben werde. Aber solange ich sie habe, muss ich sie anwenden. Das ist der Sinn meines Lebens. Wie soll ich da aufhören?«

Ginny sah schließlich auf. In ihren Augen standen Tränen. »Es wird alles zerstören, wofür wir gearbeitet haben. Bedeutet dir das nichts?«

»Ginny, du musst verstehen …«

Sie sprang auf und wandte sich ab. »Ich sehe, es bedeutet dir wirklich nichts.«

Alan drehte sie sanft herum und zog sie an sich. Sie klammerte sich an ihn, als ob sie im Begriff wäre zu stürzen. Sie standen schweigend da, die Arme umeinander geschlungen.

»Was ist mit uns geschehen?«, fragte er schließlich.

»Ich weiß es nicht«, sagte Ginny. »Aber mir gefällt es nicht, wie die Dinge laufen.«

»Mir auch nicht.«

Während sie sich umarmten, dachte Alan: Es ist so wie früher. Früher war das die simple Antwort auf alles. Ich hielt Ginny fest, und sie hielt mich fest, und es genügte. Alles würde in Ordnung kommen.

»Lass uns heute Abend nicht mehr darüber reden«, sagte sie schließlich und löste sich von ihm. »Ich muss es überschlafen.«

»Wir sollten das aber besprechen, Ginny. Es ist wichtig.«

»Ich weiß, dass es wichtig ist. Aber ich kann im Moment nicht damit umgehen. Es ist zu viel auf einmal. Du redest wie jemand, der in eine Nervenklinik gehört, und ich bin müde und will ins Bett.«

Als Alan ihr nachsah, wie sie die Treppe hinaufging, fiel ihm ein, dass morgen der Siebenundzwanzigste war. Seine Sprechstundenhilfe hatte ihn daran erinnert, dass die Sprechstunde deswegen später beginnen würde. Er fing am 27. Mai immer später an. Jetzt war nicht gerade die beste Zeit zu fragen, aber vielleicht würde Ginny in diesem Jahr mitkommen.

»Ginny? Kommst du mit mir mit?«

Sie drehte sich auf der obersten Stufe um und sah ihn fragend an.

»Es ist der Siebenundzwanzigste.«

Ihr Gesicht wurde plötzlich ausdruckslos, ohne jegliches Gefühl. Sie schüttelte stumm den Kopf und ging weiter.

Er wanderte eine Zeit lang ziellos in der ersten Etage herum. Er fühlte sich verloren und sehr einsam. Wenn er doch nur mit jemandem darüber reden könnte! Der Druck staute sich in ihm in bedrohlichem Maße auf. Wenn er ihn nicht bald rauslassen würde, würde er wirklich verrückt werden.

Er ging in die Küche, machte sich einen Nescafé und nahm ihn mit ins Wohnzimmer. Er blieb verblüfft stehen, als er sah, dass da bereits eine Tasse stand.

Wann hatte er die aufgesetzt?

Mit einem Kopfschütteln schüttete er beide Tassen in der Spüle aus. Er ging zurück ins Wohnzimmer, setzte sich in den Ohrensessel und dachte über die Gabe nach.

Wie konnte etwas, das eine so segenreiche Wohltat sein müsste, sich zu so einem Fluch entwickeln?

Er schloss die Augen und versuchte zu schlafen.