35. Alan

 

»Ich kann es jetzt nicht tun«, sagte Alan und sah zu Charles Axford auf, der seine Verärgerung kaum verbarg.

»Nun, und wann können Sie es dann tun?«, fragte Axford.

Alan sah in seinen Notizen nach. Gott sei Dank, dass er sie hatte. Ohne seine Notizen konnte er sich an nichts erinnern. Die Stunde der Macht war am Montag zwischen 16:00 Uhr und 17:00 Uhr gekommen; jetzt war Donnerstag, das hieß, sie war zwischen 19:00 Uhr und 20:00 Uhr zu erwarten. Er sah auf seine Armbanduhr.

»In ungefähr einer Stunde ist es so weit.«

»Ist ja toll.« Er dehnte die Worte, um seinem Verdruss Ausdruck zu geben. »Machen Sie es sich so lange gemütlich.« Er erhob sich. »Ich werde in der Zwischenzeit ein paar Dinge überprüfen.«

Damit war Alan allein in Charles Axfords Büro. Er wollte nicht hier sein, er hatte gar nicht zur McCready-Stiftung gehen wollen. Aber Sylvia hatte darauf bestanden. Sie war mit Jeffy und McCreadys Vorschlag von der Stiftung nach Hause gekommen und hatte ununterbrochen den ganzen Nachmittag auf ihn eingeredet und argumentiert, er würde nie wieder Ruhe haben, könnte nie wieder ordentlich Medizin praktizieren, dass er es sich selbst schuldig sei, seinen Stammpatienten, den Menschen, denen vielleicht nur er wirklich helfen könnte, und so weiter, bis er aus reiner Erschöpfung kapituliert hatte.

Diese Frau war verdammt hartnäckig.

Aber er liebte sie. Darüber bestand kein Zweifel. Sie brachte ihn dazu, sich gut zu fühlen, ihre Beziehung gut zu finden, die ganze verdammte Welt zu mögen. Er wollte nicht ohne sie sein, nicht einmal für die paar Tage, die nötig waren, um sich dieser klinischen Untersuchung in der Stiftung zu unterziehen. Er war mindestens so sehr für sie wie für sich hier. Das musste Liebe sein.

Weil er eigentlich nicht hier sein wollte.

Das Gebäude war ganz annehmbar. Mit der Fassade aus Stahl und Granit und der Art-déco-Lobby war es sogar ganz eindrucksvoll. Aber sobald man einmal über die Lobby hinaus war, waren alle zwanzig Stockwerke komplett renoviert und mit Medizintechnik vom Feinsten vollgestopft.

Trotzdem fühlte er sich durch das alles kein wenig besser. Er hasste es, wie eine Laborratte erforscht, studiert, untersucht und behandelt zu werden. Das war zwar alles noch nicht passiert, aber es würde kommen. Er konnte es spüren. Er hatte eine Verzichtserklärung auf Schadenersatzansprüche unterschrieben, sich einverstanden erklärt, hier zu schlafen und sich für die Dauer des Testens in den Gebäuden der Stiftung aufzuhalten, um die Variablen klein zu halten, die durch äußere Einflüsse auftreten konnten.

Er seufzte. Welche Wahl blieb ihm auch?

Alan wollte es wissen – für Sylvia, für die Welt, aber in erster Linie für sich. Weil die Gabe etwas mit ihm machte. Er wusste nicht genau, was, aber er wusste, er war nicht mehr die gleiche Person wie damals im Frühjahr, als er damit angefangen hatte. Axfords Ergebnisse würden ihm vielleicht nicht gefallen, aber zumindest würde er Bescheid wissen, und vielleicht würde ihm das Wissen helfen, eine gewisse Kontrolle über sein Leben zurückzugewinnen. Er hatte in letzter Zeit verdammt wenig Kontrolle darüber.

 

Die Digitalanzeige der Schreibtischuhr zeigte 7:12, als Axford wiederkam.

»Sind Sie nun bereit?«, fragte er auf seine arrogante Art.

»Ich weiß es erst genau, wenn ich es versuche.«

»Dann lassen Sie es uns versuchen. Ihretwegen machen meine Sekretärin und ein paar andere Überstunden. Ich hoffe doch, dass Sie uns nicht enttäuschen.«

Axford führte ihn zum Aufzug und dann in den entgegengesetzten Flügel des Gebäudes, wobei er die ganze Zeit redete.

»Ein Mann, der für Sie nur Mr K. sein wird, hat sich einverstanden erklärt, sich von Ihnen ›untersuchen‹ zu lassen. Er weiß nichts über Sie – er hat nie von Ihnen gehört, kennt Ihr Gesicht nicht aus der Zeitung, weiß nichts von Ihnen außer der Tatsache, dass Sie ein weiterer Arzt sind, der ihn untersuchen wird und vielleicht etwas zu seiner Therapie beiträgt.«

»Kommt ziemlich nahe an die Wahrheit heran, nicht?«

Axford nickte. »Ich lüge Leute nicht an, die hierher in Behandlung kommen.«

»Aber Sie versuchen auch, jeden Hinweis auf einen Placeboeffekt zu vermeiden.«

»Verdammt richtig. Und wir haben im Zimmer Mikrofone und Kameras installiert, und wir werden Sie über Video beobachten, um sicherzugehen, dass Sie nicht versuchen, ihn für ein Wunder zu begeistern.«

Alan musste lächeln. »Es freut mich, dass Sie alle Möglichkeiten ausschalten. Wie lautet die Diagnose?«

»Adenokarzinom an der Lunge, mit Metastasen bis ins Gehirn.«

Alan zuckte zusammen. »Und was wurde bislang versucht?«

»Es ist eine ziemlich komplizierte Geschichte – und da sind wir auch schon.« Er legte die Hand auf den Türgriff. »Ich werde Sie jetzt vorstellen und Sie dann mit ihm allein lassen. Von da an sind Sie auf sich gestellt. Aber vergessen Sie nicht – ich werde Sie auf dem Monitor beobachten und Ihnen zuhören.«

Alan verbeugte sich: »Ja, Big Brother.«

 

Mr K. war groß, sehr dünn, und totenblass. Aber seine Augen leuchteten. Er saß mit nacktem Oberkörper und hängenden Schultern auf dem Untersuchungstisch und zeigte mehr Lücken als Zähne, wenn er lächelte. An der Kehle oberhalb des Brustbeinausschnitts hatte er eine mehrere Zentimeter große Narbe, die zwei oder drei Monate alt war – Mediastinografie – kein Zweifel. Alan bemerkte auch die knorrigen Geschwülste oberhalb des rechten Schlüsselbeins – von metastasiertem Krebs angeschwollene Lymphknoten. Mr K. keuchte manchmal beim Sprechen und hustete ununterbrochen.

»Welche Art von Arzt sind Sie?«

»So etwas Ähnliches wie ein Therapeut. Wie fühlen Sie sich?«

»Nicht schlecht für einen lebenden Leichnam.«

Die Antwort verwirrte Alan. So lässig und exakt.

»Wie bitte?«

»Hat man es Ihnen nicht gesagt? Ich habe Lungenkrebs, und es geht bis zum Kopf.«

»Aber es gibt Strahlentherapie, Chemotherapie –«

»Da scheiß ich drauf! Keine Todesstrahlen, keine Gifte! Ich will als Mann von der Bühne abtreten und nicht als kotzender Schwächling.«

»Was machen Sie dann hier in der Stiftung?«

»Ich habe ein Geschäft mit denen gemacht.«

Er zog eine Packung Camel hervor. »Stört es, wenn ich rauche?«

»Nachdem ich Sie untersucht habe, wenn es geht.«

»Auch gut.« Er steckte sie weg. »Jedenfalls habe ich eine Abmachung getroffen. Ihr füttert mich durch und sorgt dafür, dass ich keine Schmerzen habe.« Er senkte die Stimme. »Und dann helft ihr ein bisschen nach, wenn die Zeit gekommen ist, wenn Sie verstehen, was ich meine. Dafür könnt ihr mich und die Auswirkungen von meinem Krebs untersuchen. Also werde ich dauernd untersucht und die testen, was mit meinen geistigen Fähigkeiten, meinen Stimmungen, meinen – wie sagen die doch gleich? – ach ja, meinen motorischen Fähigkeiten passiert. Alles so was. In den letzten zweiundfünfzig Jahren habe ich nicht viel aus meinem Leben gemacht. Ich dachte, wenn ich jetzt abtrete, könnte ich mal was Sinnvolles tun. Der Mensch muss doch irgendwann in seinem Leben mal für was gut sein, nicht wahr?« Alan starrte Mr K. an. Entweder war er einer der mutigsten Menschen, die er je kennengelernt hatte, oder ein kompletter Idiot.

»Aber das wissen Sie doch alles längst«, sagte Mr K. »Oder?«

»Ich finde die Dinge lieber selbst heraus. Aber sagen Sie mir, wenn aus irgendwelchen Gründen Ihr Krebs einfach verschwinden würde und Sie könnten dieses Gebäude als gesunder Mann verlassen, was würden Sie als Erstes tun?«

Mr K. zwinkerte ihm zu. »Mit dem Rauchen aufhören!«

Alan lachte. »Das ist gut. Ich werde Sie jetzt untersuchen.«

Er legte seine Hände auf beide Gesichtshälften von Mr K. Es gab kein Warten. Die schockähnliche Ekstase erfüllte ihn. Er sah, wie sich Mr K.s Augen weit öffneten, dann rollten sie nach oben, als er einen epileptischen Anfall bekam.

Axford hastete ins Zimmer.

»Was haben Sie mit ihm angestellt, verdammt noch mal?«

»Ihn geheilt«, sagte Alan. »Das wollten Sie doch, oder?«

Es wurde Zeit, Axford diesen selbstgefälligen überheblichen Blick auszutreiben.

»Sie Hurensohn!«

»Es geht ihm gut.«

»Es geht mir gut«, sagte Mr K. vom Fußboden. »Was ist passiert?«

»Sie hatten einen Anfall!«, sagte Axford.

»Wenn Sie meinen.« Er ignorierte Axfords Anweisungen, ruhig auf dem Boden liegen zu bleiben und stand auf. »Ich spüre nichts.«

»Untersuchen Sie ihn morgen«, sagte Alan und fühlte mehr Zuversicht gegenüber der Gabe als je zuvor. »Er ist geheilt.«

»Ich will verdammt sein, wenn ich bis Morgen warte!«, sagte Axford und führte Mr K. zur Tür. »Ich werde die Techniker, die Bereitschaft haben, sofort anpiepen lassen! Wir werden noch heute Abend sehen, ob eine Röntgenaufnahme des Brustkorbs, ein EEG und die Computertomografie des Schädels uns etwas, zu sagen haben!«