MAI

 

 

 

11 . Charles Axford

 

McCready hatte ihn für ein weiteres »informelles Gespräch« – so bezeichnete der Senator es gern – zu sich in das obere Büro bestellt. Charles nannte diese Sitzungen Verhöre.

Genau das waren sie nämlich. Als Namensgeber der Stiftung schien McCready es als sein Vorrecht anzusehen, mit seinem Direktor der neurologischen Forschungsabteilung zusammenzusitzen und ihn über die neuesten Entwicklungen auf diesem Gebiet auszufragen. Vielleicht stimmte das. Aber Charles wusste, dass die Stiftung das Letzte war, woran der Senator dachte, wenn er Fragen über neurologische Krankheiten stellte. Das Interesse war rein persönlich.

Während er auf McCready wartete, trat er an das riesige Fenster, das die Außenseite des Eckbüros bildete. Wenn er die Stirn an die linke Fensterscheibe legte, konnte er die Park Avenue und ihre grünen Inseln zwanzig Stockwerke unter sich sehen.

Die Tür öffnete sich, und McCready humpelte herein. Er ließ sich in den großen gepolsterten Stuhl hinter seinem Schreibtisch fallen. Zurzeit sah er alles andere als gut aus. Seine Gesichtszüge waren noch schlaffer als sonst, und er musste den Kopf in den Nacken legen, um zwischen den herunterhängenden Lidern hindurchsehen zu können. Charles rechnete im Geist schnell durch: Noch sechs Monate, und er sitzt im Rollstuhl.

Er kannte diesen Mann schon seit Jahren; er verdankte ihm seine gegenwärtige finanzielle Absicherung und eine mit viel Prestige verbundene Stellung; trotzdem konnte er nicht ein Quäntchen Mitleid für James A. McCready aufbringen. Er fragte sich, warum. Vielleicht lag es daran, dass er wusste, was diesen Mann antrieb, der mit mehr Geld geboren war, als er in zwei Leben ausgeben konnte. Er hatte den Senator in einigen seiner intimsten Momente erlebt und die nackte Machtlust durchscheinen sehen. Er war ein Mann, der Präsident werden könnte, einfach indem er sich zur Kandidatur entschied. Doch er konnte nicht kandidieren, und Charles gehörte zu den wenigen Menschen, die den Grund kannten.

Vielleicht war es für alle das Beste. Männer wie McCready hatten Großbritannien an den Rand des wirtschaftlichen Ruins gebracht; daher war es wohl ein Glück für Charles’ Wahlheimat, dass gerade dieser Senator an einer unheilbaren Krankheit litt.

Er setzte sich und hörte den Fragen zu: Es war immer das Gleiche. Irgendwelche neuen Entwicklungen? Irgendwelche vielversprechenden Forschungsvorhaben, die wir unterstützen können?

Charles gab seine übliche Antwort: Nein. Die Computer der Stiftung halfen ihm, weltweit die gesamte medizinische Literatur zu verfolgen. Sobald sich etwas von geringstem Interesse für den Senator in der unbekanntesten medizinischen Zeitschrift im rückständigsten Nest zeigte, wurde es dokumentiert und ihm vorgelegt. Der Senator konnte die Informationen genauso schnell abrufen wie Charles – wahrscheinlich schneller, denn schließlich waren das seine Computer –, aber er zog ein »persönliches Gespräch« vor.

Mit anderen Worten, er wollte von Charles die Informationen gefiltert und erklärt haben.

Sei’s drum. Charles hielt sich sowieso diesbezüglich auf dem Laufenden. Es war ein kleiner Preis, den er für den Spielraum, der seinen Forschungsarbeiten bei der Stiftung eingeräumt wurde, zahlte.

Die Unterhaltung lief in gewohnten Bahnen, und Charles wollte gerade aufstehen und gehen, als der Senator ein neues Thema anschnitt.

»Welchen Eindruck hatten Sie von Dr. Alan Bulmer, als Sie ihn trafen?«

Seine Stimme wurde immer schwächer und krächzender, je weiter der Nachmittag fortschritt.

»Wen?« Eine Sekunde lang konnte Charles mit dem Namen nichts anfangen.

McCready gab ihm das Stichwort. »Sie haben ihn letzten Monat auf der Party von der Nash kennengelernt.«

»Ach, der Hausarzt! Ich habe …« Und dann wurde Charles stutzig. »Woher wissen Sie, dass ich ihn getroffen habe?«

»Es wird über ihn geredet.«

»Inwiefern? Das hängt doch nicht mit seiner Aussage vor dem Komitee zusammen, oder?« Charles wusste, es war nicht gut, sich mit Senator James McCready schlecht zu stellen.

»Überhaupt nicht, überhaupt nicht. Das ist aus und vorbei, weg und vergessen. Dieser Klatsch hat was mit Heilungen zu tun. Wundersame Heilungen, so etwas.«

Charles stöhnte innerlich. Also wieder mal: ein weiterer Versuch einer verdammten Wunderheilung.

McCready lächelte. Es schien ihm eine Menge Mühe zu bereiten. »Aber, aber, mein geschätzter Dr. Axford – bekommen Sie ja nicht diesen zynischen Gesichtsausdruck. Sie wissen, ich gehe gern jedem dieser Gesundbeter auf den Grund. Irgendwann einmal …«

»Bulmer ist kein Gesundbeter. Er ist ein verflucht gewöhnlicher Hausarzt. Und ich betone das Wort gewöhnlich. Sie machen uns noch beide verrückt, wenn Sie sich ständig nach einem Wunder umsehen!«

McCready lachte. »Ich könnte Ihnen den ganzen Tag zuhören, Charles. Ich wünschte, ich hätte einen britischen Akzent.«

Es überraschte Charles immer wieder, wie einfach Amerikaner mit einem britischen Akzent zu beeindrucken waren. Es klang für sie immer nach gehobener Klasse. Aber er wusste, dass man in London aus seinem Akzent sofort das Arbeiterviertel Paddington heraushören würde.

»Trotzdem«, sagte der Senator, der weiter am Thema festhielt, »wird darüber geredet.«

»Wie meinen Sie das?«

»Sie wissen doch, wie Dinge bekannt werden. Da fällt die eine oder andere Bemerkung im Waschsalon und vor der Kasse im Supermarkt und schließlich schnappt das ein Zuträger oder ein Reporter auf, der für eine meiner Zeitungen arbeitet. Dann kommt es zu mir.«

»Schön. Aber Gerede worüber?«

»Über Leute mit langwierigen Gebrechen, chronischen Beschwerden, fortgeschrittenen Krankheiten, akuten Erkrankungen – jede Art von Erkrankung –, die geheilt wurden, nachdem er sie auf bestimmte Weise berührt hat.«

»Das ist verdammter Blödsinn!«

McCready lächelte wieder. »Mag sein. Aber war da nicht etwas mit einer ziemlich blutigen Wunde, die sich ein gewisser Mr Cunningham bei diesem gewissen Ereignis zugezogen hat?«

»Oh, Gott verdammt … ! Hatten Sie einen Spion auf der Party?«

»Natürlich nicht. Aber es wäre ziemlich blöd von mir, eine Kette von Zeitungen zu besitzen und all diese Herausgeber und Reporter zur Verfügung zu haben und mich nicht ihrer Fähigkeiten zu bedienen, wenn man sie braucht, meinen Sie nicht?«

Charles nickte schweigend. Der Gedanke, dass ihm jemand in seiner Freizeit hinterherschnüffelte, benagte ihm nicht, aber es würde ihm auch nichts nützen, wenn er dagegen protestierte.

McCready schien seine Gedanken zu lesen. »Machen Sie sich keine Sorgen, Charles. Sie waren nicht das Objekt meines Interesses. Ich habe nur Erkundigungen über diesen Vorfall zwischen meinem geschätzten Kollegen, dem Kongressabgeordneten Switzer, und dem MTA-Chef dieser schönen Stadt erfahren. Ich finde, man kann effektiver mit seinen Kollegen umgehen, wenn man sich über ihre Ungeschicklichkeiten und Unbedachtheiten auf dem Laufenden hält.«

Charles nickte wieder. Auf der Suche nach Schmutz bei Switzer, dachte er. Aber er sagte: »In Stiftungen funktioniert das genauso.«

»Natürlich. Bedauerlicherweise kann man dem Abgeordneten bestenfalls ankreiden, dass er nicht die andere Wange hingehalten hat, sondern auf dem Gebiet tätlicher Gewalt mit gleicher Münze zurückgezahlt hat. Viele seiner Wähler würden das eher als Tugend denn als Manko ansehen. Also wurde die Untersuchung eingestellt.«

Er hielt einen Augenblick inne. Der ausgedehnte Monolog zehrte offensichtlich an seinen Kräften.

»Aber rein zufällig kam da noch etwas anderes zutage. Eine Augenzeugin, die den Vorfall beobachtet hatte, erwähnte bei der Befragung, dass sich Cunningham bei dem Sturz eine tiefe Platzwunde zugezogen hat. Sie sprach von Blut, das wie … wie ein Geysir floss, so drückte sie sich aus, glaube ich. Als jedoch dieser unbekannte Mann – später als Dr. Alan Bulmer identifiziert – seine Hand auf die Wunde legte, hörte sie auf zu bluten und schloss sich von selbst.«

Charles lachte. »Sie war wahrscheinlich betrunkener als Cunningham!«

»Möglich. Das dachte auch der Reporter. Aber nur kurz darauf hörte er vages Geschwätz über ›Wunderheilungen‹ in einer Arztpraxis auf Long Island. Bei dem Namen Bulmer machte es Klick, und er informierte seinen Herausgeber, und der kam zu mir.« Seine Augen bohrten sich unter seinen halb geschlossenen Lidern in Charles’ Augen. »Sie waren dort. Was haben Sie gesehen?«

Charles dachte einen Augenblick nach. Es war tatsächlich eine Menge Blut gewesen. Er sah es noch vor sich, wie es gegen den Kaminmantel und die Wand spritzte. Aber als er die Wunde gesehen hatte, war es nur ein Kratzer gewesen. Konnte es …?

»Ich sah eine Menge Blut, aber das hat nichts zu bedeuten. Kopfwunden bluten unverhältnismäßig stark im Verhältnis zu ihrer Größe und Tiefe. Ich habe Köpfe gesehen, die buchstäblich mit Blut von einer zwei Zentimeter großen, kaum einen Zentimeter tiefen Fleischwunde bedeckt waren. Verschwenden Sie nicht Ihre Zeit in der Hoffnung auf eine Wunderheilung durch Alan Bulmer.«

»Ich verschwende niemals meine Zeit, Charles«, sagte der Senator. »Niemals.«