19. KAPITEL

Die Augenbinde wurde ihr dieses Mal nicht wieder umgebunden. Bisher hatten sie sie ihr immer wieder von hinten angelegt, wenn sie mit dem Einnehmen der kargen Mahlzeiten fertig war. Sie kamen durch eine Tür, die sich hinter dem Stuhl befinden musste, an den sie gefesselt war und sie verschwanden auch wieder dorthin.

Zu Gesicht hatte sie noch keinen ihrer Peiniger bekommen. Dreimal am Tag öffnete sich die Tür, die Augen wurden ihr verbunden und das Essen wurde ihr auf eine Apfelsinenkiste vor ihrem Stuhl gestellt. Dann wurde ihr die Binde von hinten abgenommen und ihre Fesseln wurden gelöst.

Beim Essen beobachtete sie eine Kamera. Daneben war ein Lautsprecher angebracht, über den eine verzerrte Stimme zu ihr sprach, wann immer sie etwas tat, das ihren Entführern nicht gefiel. Aufstehen gehörte dazu und langsames Essen ebenso. Bereits nach dem ersten Tag hatte sie verstanden, worum es ging. Sie musste nur schnell aufessen, immer sitzen bleiben und um Erlaubnis fragen, wenn sie aufstehen wollte, um ihre Beine und ihren Rücken zu strecken. Einmal alle zwei Stunden wurden ihr dafür fünf Minuten gewährt.

Die Augen wurden ihr wieder verbunden, sobald sie ihre Mahlzeit eingenommen hatte. Auf diese Weise sah sie nicht, wer ihren Teller abräumte.

Dieses Mal war es anders: Sie erwartete das schwarze Stofftuch, doch es kam nicht. Derjenige, der es ihr hätte anlegen sollen, hatte den Raum aber auch nicht wieder verlassen.

Das ist nicht gut.

Juanita schossen tausend Gedanken durch den Kopf, doch keiner davon konnte sie beruhigen. Wie sie es auch drehte und wendete: Wenn man ihr die Augen nicht verband, stimmte etwas nicht. Entweder würde man sie hier allein zurücklassen, oder …

„Juanita Tirado! Endlich sehe ich Sie wieder!“

Diese Stimme kannte Juanita. Das war doch nicht möglich.

„Jake? Jake Thorn, sind Sie das?“

Noch bevor sie den Kopf nach hinten drehen konnte, war Thorn schon um den Stuhl herum und baute sich direkt vor ihr auf. Es war nicht zu glauben. Da stand tatsächlich der Mann, in dessen Laden sie und ihre Freundinnen die besten Partys gefeiert hatten, und starrte sie an, wie ein Hai seine Beute.

„Mr. Thorn, ich verstehe das nicht. Was soll das? Warum halten Sie mich hier fest?“

„Oooh, kleine, süße Juanita! So ängstlich und so verwirrt? Das ist ja gar nicht die wilde Göre, die ich aus dem El Sol de la noche kenne. Ist schon etwas Anderes, wenn man plötzlich nicht damit rechnen kann, dass Papi kommt, wenn es Schwierigkeiten gibt, oder?“

Das war zu viel für Juanita. Mit aller Verachtung, die sie aufbringen konnte, spuckte sie ihm ins Gesicht. Ganz langsam rann ihm der Speichel vom rechten Auge die Wange herunter. Der Schlag kam völlig ansatzlos und mit voller Wucht. Sie wurde vom Stuhl gefegt und knallte auf den Betonboden ihres Gefängnisses. Noch ehe sie sich wieder orientieren konnte, wurde sie am rechten Arm hochgerissen und über den Boden geschleift. Er zerrte sie aus der Zelle in den nächsten Raum.

Ich bin tot. Jetzt bringt er mich um.

Im nächsten Raum ließ er sie los und sie knallte wieder auf den Boden. Stöhnend hob sie den Kopf und sah sich um. Thorn und zwei weitere Männer waren anwesend. Auch die anderen beiden waren nicht maskiert.

„Werden Sie mich jetzt töten?“

Es war nicht zu vermeiden, dass ihre Stimme bei dieser Frage zitterte. Natürlich hatte sie Angst. Wenn das tatsächlich das Ende sein sollte, dann konnte sie nichts mehr tun. Nur mit Würde abzutreten konnte sie versuchen, doch sie war sich keineswegs sicher, ob sie das schaffen würde. Nur schreiend sterben wollte sie nicht und um Gnade betteln schon gar nicht. Würde sie es dennoch tun? Sie vermutete, dass sie genau das tun würde.

Die Männer sahen sie an wie ein Tier im Zoo. Thorn sah belustigt aus.

„Dein Papi ist ein guter Papi, weißt du das? Er hat brav genau das getan, was ich von ihm wollte. Nur schade, dass ich ihn dafür nicht belohnen kann. Wäre zu riskant, du verstehst?“

„Bitte tun Sie mir nichts, Jake! Ich werde Sie nicht verraten, aber bitte, bitte, lassen Sie mich am Leben!“

Es ging nicht anders. Sich einfach in ihr Schicksal zu fügen, war unmöglich. Sie wollte leben und sie war bereit, all ihren Stolz dafür über Bord zu werfen.

„Oh, das tue ich vielleicht sogar, wer weiß? Was würdest du denn dafür tun? Würdest du auch ganz lieb zu mir sein? So richtig lieb?“

Das dreckige Lachen seiner Kumpane heizte ihm so richtig ein. Juanita wusste bereits, was er wollte, noch bevor er begann, an seinem Gürtel zu nesteln.

„Komm her, mein Kätzchen und zeig Papa Jake, wie lieb du bist!“

Unter Tränen und mit rasendem Herzen begann sie, auf allen Vieren auf ihren Peiniger zuzukrabbeln. Wenn das die einzige Chance war, dann musste es sein.

Ein Poltern an der schweren Eisentür auf der gegenüberliegenden Seite des fensterlosen Raumes brachte Jake aus dem Konzept.

„Was zum Geier ist das? Los, seht nach, was da los ist“, herrsche er seine Handlanger an. Die eilten hin und wussten nicht recht, was jetzt zu tun war. Die Tür verfügte über keinen Spion, durch den sie hätten sehen können, wer davor stand und unablässig dagegen trat.

„Sollen wir aufmachen Chef“

„Seid ihr bescheuert, oder was? Wenn das die Bullen sind, seid ihr genauso geliefert wie ich. Wir müssen sehen, dass wir wegkommen. Wir verschwinden durch den angrenzenden Keller.“

Dann wandte er sich wieder Juanita zu, die bereits neue Hoffnung schöpfte.

„Vergiss es, Fräulein, deine Retter kommen zu spät!“

Thorn zog eine Schrotflinte aus einer Haltevorrichtung an der Wand und drückte Juanita den Lauf ins Gesicht. Sie schrie in Panik um ihr Leben und klammerte sich verzweifelt an Thorns Beine, so dass er ins Taumeln geriet und sein Gewehr verriss. Ein Schuss löste sich und schlug in die Decke ein.

„Du verdammtes Miststück“, kreischte er völlig von Sinnen. Gerade als er die Flinte erneut in Anschlag bringen wollte, wurde die Stahltür aus der Verankerung gesprengt und begrub Thorns Komplizen unter sich.

„Was zum Teufel?“

Weiter kam er nicht, denn angesichts dessen, was jetzt durch die Tür kam, verlor er beinahe den Verstand. Mit offenem Mund glotzte er die Horrorwesen an, die sich durch den Eingang drängten. Seine Blase versagte und er nässte sich ein, ohne auch nur Notiz davon zu nehmen.

Juanita robbte entsetzt von Thorn weg, bis sie in der hintersten Ecke des Raumes ankam, wo sie sich mit schreckweiten Augen zusammenkauerte, indem sie ihre Arme um die Knie schlang und versuchte, in der Wand zu verschwinden. Von dort aus beobachtete sie, wie sich vier der Horrorgestalten auf Thorn stürzten und ihn zu Boden warfen. Jeder Funken Selbstbeherrschung wich aus Thorn und er zappelte brüllend unter den knochigen Armen seiner Häscher, doch für ihn gab es kein Entrinnen. Sie packten ihn, hoben ihn hoch und warfen ihn auf ein Feldbett, das an der einen Seitenwand stand. Die letzten Tage hatten seine beiden Kumpane abwechselnd darin geschlafen, während sie zu zweit Wache vor Juanitas Verlies gehalten hatten. Jetzt würde es zu Jake Thorns letzter Ruhestätte werden. Was die Wesen genau mit ihm vorhatten, wollte Juanita sich gar nicht ausmalen, doch dass sie ihn umbringen würden, war ihr vollkommen klar. Blieb nur die Frage, was danach mit ihr geschehen würde. Sie war außer Stande, darüber nachzudenken.

Thorn rastete vor Panik und Ekel völlig aus. Bei dem Versuch, sich den Griffen der Monster zu entwinden, brach er sich hörbar mehrere Finger, kugelte sich eine Schulter aus und schlug mit dem Kopf mehrfach gegen das Metallgestell des Feldbettes. Erbarmen kannten die Wesen keines. Sie hatten Stricke mitgebracht und mit diesen fesselten sie Thorns Arme und Beine an das Bettgestell. Als sie an seinem ausgekugelten Arm zerrten, um ihn an das Kopfende zu binden, schrie Thorn wie ein Wahnsinniger und bettelte wie ein kleines Kind um Gnade für seine geschundenen Knochen. Es nützte ihm nichts.

Nach einem erbitterten Kampf, der ewig zu dauern schien, lag Jake Thorn körperlich und nervlich am Ende wie horizontal gekreuzigt auf einem schmutzigen Feldbett und wartetet auf sein Ende.

Die Untoten waren jetzt alle vom Bett zurückgetreten und versammelten sich wieder an der Tür. Dort lag ein Jutesack, den sie mitgebracht hatten und einer von ihnen griff nun hinein und verteilte den Inhalt an die Anderen. Jeder von ihnen hielt schließlich eine Art Altarkerze in den Händen und jeder Zweite bekam zusätzlich noch ein Räucherstäbchen. Derjenige, der die Utensilien verteilt hatte, zückte ein Feuerzeug, woraufhin Einer nach dem Anderen zu ihm kam und er ihnen Kerzen und Räucherstäbchen entzündete.

Jedes der Wesen begann, sobald es drangekommen war, mit einem Singsang, der entfernt an gregorianischen Gesang erinnerte, und schritt zu Thorns Lagerstätte zurück.

Der Gesang der Geschöpfe jagte Juanita einen Gänsehautschauer nach dem anderen über den Rücken. Hinzu kam noch, dass es geradezu unerträglich eisig geworden war, seit diese Monster aufgetaucht waren. Der erste Strom polarkalter Luft war schon in den Raum geströmt, als die Tür aus den Angeln geplatzt war und sie hereindrängten. Mittlerweile hatte sich schon Raureif an den Wänden gebildet.

Thorn war jetzt vollständig umring und der Gesang schwoll weiter an.

Diejenigen, die Räucherstäbchen hatten, fächerten den Rauch aufs Bett, so dass ihr Opfer begann, nach Luft zu schnappen. Von einer Sekunde auf die andere riss der Gesang plötzlich ab und nur Thorns Winseln und Keuchen war noch zu hören. Auf ein unhörbares Kommando hin reckten alle gleichzeitig die Hände mit den Kerzen zur Bettmitte, direkt über den entblößten Bauch ihres Opfers und drehten sie um.

Das heiße Wachs aus einem halben Dutzend Kerzen ergoss sich über Thorns Bauch, der sofort wieder begann, unter ohrenbetäubendem Brüllen zu toben und an seinen Fesseln zu zerren.

„Neeiiin, neeeiiiin, neeiiiiin“, kreischte er immer wieder, bis ihm eines der Ungeheuer den Mund zuhielt und seinen Schrei damit erstickte. Ein Anderer schob Thorns Hemd noch ein Stück höher, bis auch seine Brust freilag. Plötzlich blitze ein Dolch auf und sein Besitzer beugte sich ganz tief zu Jake hinunter. Er sah ihm mit seinem toten Haifischaugen direkt ins Gesicht, während sich die Hand mit dem Dolch an Jakes Brust zu schaffen machte. Thorn traten die Augen aus den Höhlen, sein ganzer Körper versteifte sich wie ein Brett und seine Füße flatterten wie Schmetterlingsflügel in ihren Fesseln.

Juanita war inzwischen auf die Beine gekommen. Sie stand in ihrer Ecke und wollte einen guten Moment abpassen, in dem sie quer durchs Zimmer und durch die Tür würde rennen können. Jetzt aber konnte sie nur auf die blutige Zahl auf Jake Thorn bebender Brust starren. Sie hatten ihn gezeichnet. Die Unglückszahl Dreizehn prangte dort und würde ewig dort bleiben, bis ihm das Fleisch von den Knochen fiel.

Das war der Moment, in dem Thorn begann, zu weinen. Vorher hatte er gebrüllt, gekreischt, gefleht und gebettelt, doch jetzt weinte er wie ein kleines Kind.

Gerade als Thorns Not am größten war und Juanita damit rechnete, dass sie ihn jetzt umbringen würden, traten sie alle von dem Bett zurück. Sie begaben dich zur Tür und formierten dort ein Spalier.

Nachdem sie alle ihre Plätze eingenommen hatten, drang von draußen ein Licht in den Raum, das Michelle und Keith sofort wiedererkannt hätten. Der Anführer der Untoten trat ein, doch für Juanita war es nur ein weiteres Monster und noch dazu eines, das sie daran hinderte, ihren Fluchtplan umzusetzen.

Er schritt durch die Reihen deiner Gefolgsleute und hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Sein Gesichtsausdruck war feierlich, als er sich dem gefesselten Jake Thorn auf seinem Feldbett näherte. Der bemerkte den Greis zunächst überhaupt nicht, weil er mit geschlossenen Augen vor sich hin weinte und schluchzte. Der Alte trat noch einen Schritt näher an ihn heran und sprach:

„Sieh mich an, du Wurm. Ich bin gekommen, um Gerechtigkeit walten zu lassen.“

Thorn schlug die Augen auf und glotzte ihn tränenblind an. Juanita verfolgte das Schauspiel derweil mit fasziniertem Grauen und dann erhob der Mann seine Stimme wieder:

„Du, Jake Thorn, wirst heute hier dein Ende finden, um dem Zyklus der Gerechtigkeit einen neuen Anfang zu geben. Hundert Jahre lag ein Segen auf dem Haus, hundert Jahre wird wieder neuer Segen darauf liegen. Heute aber erfülle sich mein Fluch, auf dass ich wieder ruhen kann, bis ich erneut erwache.“

Mit einer ausladenden Bewegung führte er seine Hände hinter seinem Rücken hervor nach vorn. In seiner Rechten hielt er einen faustgroßen Stein. Seine Hände trafen sich vor seinem Bauch und seine Linke ergriff nun ebenfalls den Stein.

Nach einer Sekunde der Stille begann er, den Findling mit beiden Händen ganz langsam vor seinem Körper in die Höhe zu heben. Gleichzeitig begannen die anderen wieder mit ihrem Singsang, der noch einmal düsterer und apokalyptischer klang, als beim ersten Mal.

Jetzt stand der Anführer mit dem hoch über seinen Kopf erhobenen Gesteinsbrocken da und betrachtete Jake Thorn, der ihn mit schreckensweiten Augen anstarrte. Es war der letzte Moment im Leben des erfolgreichen Nachtclubbetreibers und Unterweltpaten, den Juanita mit ansehen musste. Sie realisierte diese Tatsache eine Sekunde zu spät, um sich noch abwenden zu können. Ohne weitere Vorwarnung hieb der unheimliche Anführer der Untoten mit dem schweren Brocken auf den Kopf seines Opfers ein. Das Geräusch klang, als würde ein riesiges gekochtes Ei aufgeschlagen und es vermischte sich mit Thorns Todesschrei zu einem Klang, den Juanita nie wieder vergessen würde. Ihr wurde übel, doch sie konnte sich immer noch nicht abwenden.

Ein letztes Zittern ging durch Thorns Körper und dann war es vorbei. Die Situation veränderte sich nicht langsam, sondern schlagartig. Das Licht, das den Mörder ständig umgeben hatte, wurde zu einem grellen Leuchten, breitete sich wie eine Springflut im ganzen Raum aus und verschluckte alles. Es dauerte einige endlose Sekunden, bis Juanitas Augen nach diesem Schock wieder funktionierten.

Sie blickte sich um und sah außer dem toten und geschundenen Körper von Jake Thorn niemanden mehr. Alle waren verschwunden, als wäre alles nur ein böser Traum gewesen.

Die Tür stand offen. Mehr brauchte sie nicht zu sehen. Das war alles, was jetzt zählte. So schnell, wie noch nie in ihrem Leben rannte sie auf die Freiheit zu und fühlte doch, dass etwas von ihr in diesem Gefängnis gestorben war. Ihre unbekümmerte Art würde sie nie mehr ganz zurückbekommen, doch es war ihr egal. Zeit, erwachsen zu werden, Juanita.