Wenn Michelle sich einen Einbruch hätte ausmalen müssen, wäre es auf jeden Fall Nacht gewesen. Außerdem hätten sie schwarze Kleidung, Skimasken und Turnschuhe angehabt. Der Einbruch wäre auch an einem Fenster auf der straßenabgewandten Seite durchgeführt worden und ein Glasschneider oder zumindest ein Stemmeisen hätten eine zentrale Rolle gespielt.
So viel zur Theorie, verspottete sie ihre James Bond Fantasien.
Sie waren einfach mit dem Jeep auf die Auffahrt gefahren, waren zur Haustür gegangen und Keith hatte die Tür mit einem merkwürdig aussehenden Spezialwerkzeug innerhalb von Sekunden mühelos geöffnet. Sie traten ein, als sei es das Normalste auf der Welt. Keith hatte sich kein einziges Mal umgedreht um sich zu vergewissern, ob sie auch nicht beobachtet wurden. Das hatte er auf der Fahrt hierher auch Michelle eingeschärft.
„Nur wenn du dich verdächtig verhältst, bis du auch verdächtig, alles klar?“
Diese Worte klangen ihr noch im Ohr, als sie aus den Augenwinkeln sah, wie ein Polizeiwagen langsam die Straße entlang fuhr. Sie bekam zwar fast einen Herzinfarkt, schaffte es aber, ruhig zu bleiben. Die Polizei fuhr vorbei, ohne langsamer zu werden, bog eine Straße weiter ab und war verschwunden.
Erst als sie im Haus waren, begann Keith, Vorkehrungen zu treffen. Er begann, die Jalousien an den Fenstern herunterzulassen und wies Michelle an, ihm dabei zu helfen.
„Gut, fangen wir an. Wir gehen zimmerweise vor. Ich nehme mir Thorns Arbeitszimmer vor. Ich nehme an, er hat eines. Du kannst gleich hier im Wohnzimmer beginnen. Wie suchen immer zuerst an den offensichtlichen Stellen. Wir schauen uns offen auf den Tischen herumliegende Dokumente an, dann sehen wir in unverschlossene Schubladen, Schränke, und so weiter. Ich gehe nicht davon aus, dass er das, was wir suchen, aufwändig versteckt hat. Warum sollte er auch. Erst wenn wir dann nicht fündig geworden sind, durchsuchen wir typische Verstecke, wie Kühlschrank, Spülkasten, sehen hinter Bilderrahmen und in Couchritzen. Alle verstanden?“
Sie nickte.
„OK, dann los!“
Nachdem Keith das Wohnzimmer zielstrebig verlassen hatte, sah Michelle sich um. Thorn war ein ordentlicher Mann und offen herumliegende Papiere gab es überhaupt nicht. Also begann sie mit den Schubladen in einem großen Schrank rechts der Tür. Auch der Inhalt der Schubladen war fein säuberlich aufgeräumt. Viel befand sich ohnehin nicht darin.
Also dann weiter. Schubladen sind abgehakt, jetzt kommen die Regale im Schrank.
Kaum, dass sie die erste Klapptür geöffnet hatte, rief Keith nach ihr.
„Michelle, ich habe hier was.“
Die Stimme kam von oben. Beim Hereinkommen hatte Michelle gesehen, dass gleich neben der Haustür eine Treppe ins Obergeschoss führte, also eilte sie dorthin und nahm die Treppe. Oben angekommen ging gleich rechts eine Tür von dem kleinen Korridor ab und aus diesem Zimmer klang das rascheln von Papier.
„Ich bin hier drin, komm rein.“
„Was hast du da?“
Ein antik aussehender Foliant lag aufgeschlagen vor Keith auf Thorns Schreibtisch und er war dabei, Seite um Seite vorsichtig umzuwenden. Mit gerunzelter Stirn und unter gelegentlichem Kopfschütteln las er in dem Buch. Geduldig wartete Michelle, bis Keith das Buch zuklappte und sich ihr zuwandte.
„Ich dachte, ich hätte etwas gefunden, aber jetzt glaube ich nicht mehr, dass es von Bedeutung ist. Oder ist dir Thorn als abergläubisch aufgefallen?“
„Was für eine seltsame Frage. Nein, ist er nicht. Jake ist ein knallharter Geschäftsmann, da würde das kaum passen. Wieso? Was hast du denn da?“
Das Buch vor sich hertragend kam Keith zu Michelle hinüber und stellte sich damit neben sie.
„Nimm, setz dich und lies selbst. Ich werde mittlerweile weiter suchen. Es ist ein Hinweis auf die Finca, aber mehr auch nicht, denke ich.“
Das Buch war schwer wie ein Ziegelstein, hatte einen faltigen, ledernen Einband und keinen Aufdruck. Michelle ließ sich auf einem Ledersessel nieder und öffnete den Einband.
Es waren handschriftliche Aufzeichnungen, doch sie waren gut lesbar. Zu jener Zeit hatte man offenbar noch Wert auf eine deutliche Schrift gelegt. Es gab eine Menge zu lesen und Michelle kam zu dem Schluss, dass Keith entweder ein Schnellleser war oder den Inhalt nur überflogen hatte. Sie selbst benötigte zwanzig Minuten, um sich einen vollständigen Überblick zu verschaffen. Am Ende war sie verwirrt aber auch sicher, das Motiv für Juanitas Entführung vor sich zu haben.
Zum größten Teil handelte es sich um eine Chronik aller bisherigen Besitzer der Finca, die bis ins Jahr 1813 zurückreichte. Der wirklich interessante Teil bestand aus den Anmerkungen des Autors der Aufzeichnungen. Daraus ging hervor, dass ausnahmslos alle aufgeführten Familien nach dem Erwerb der Finca bemerkenswert erfolgreich waren. Jeder Einzelne von ihnen hatte es zu ansehnlichem Wohlstand gebracht und war auch sonst im Leben geradezu vom Glück verfolgt worden. Diese Chronik las sich streckenweise wie ein Märchenbuch des Glücks. Der eigentliche Knalleffekt kam dann aber ganz am Ende des Buches. Der anonyme Verfasser zog hier seine ganz persönlichen Schlüsse aus den Fakten:
Dieses Haus ist zweifellos ein fühlendes und denkendes Wesen, das seine Bewohner beschützt wie eine Wölfin ihre Jungen. Undenkbar, dass es sich um bloßen Zufall handeln könnte, bedenkt man die nahtlose Reihe derer, die ihr Lebensglück fanden, nachdem sie in den Besitz dieses Anwesens gelangt waren. Niemand von ihnen hatte vorher nennenswerte Erfolge oder größere Reichtümer vorweisen können. Einige waren zuvor sogar regelrecht vom Pech verfolgt. Nein, hier ist nicht der Zufall am Werk, sondern eine höhere Kraft, dessen bin ich absolut sicher. Wer immer nach meinem Tode diese Chronik liest, der messe meine These an der Realität. Auch später werden neue Besitzer ihr Glück durch die Finca finden.
Was sollte sie davon halten? Sicher, auch die Tirados waren sehr erfolgreich. Genau genommen kam der große geschäftliche Durchbruch von Mr. Tirado auch erst, nachdem er nach Mallorca gegangen war und die Finca gekauft hatte, aber trotzdem. Ihr kam es ganz und gar nicht wie ein Haus vor, das seine Bewohner schützt, wie eine Wölfin ihre Jungen. Wenn das jemals so gewesen sein sollte, dann hatte das Haus seinen Charakter ins genaue Gegenteil verkehrt. Heute griff es seine Bewohner an und terrorisierte sie und auch seinem Besitzer brachte es gerade kein Glück, sondern die größten Sorgen, die man sich denken konnte. Juanitas Entführung konnte man jedenfalls schwerlich als Glück für Mr. Tirado bezeichnen.
Aber Jake glaubt daran. Er weiß ja nichts von dem Terror, den die Finca auf mich ausübt.
Das war plausibel. Das war das Motiv für Juanitas Entführung.
Aus dem Nebenzimmer hörte sie Keith, der dort immer noch nach etwas suchte, das er nicht finden würde. Die Antwort hielt sie hier in den Händen und eine bessere würde er auch dann nicht finden, wenn er das ganze Haus auseinandernahm.
„Keith, du kannst aufhören! Wir haben, was wir gesucht haben.“
Die Geräusche im Nebenzimmer verstummten und Keith kam herüber. Mit verschränkten Armen im Türrahmen angelehnt, maß er sie mit kritischem Blick.
„Du hältst es für möglich, dass Jake Thorn, der König der Unterwelt, sich von diesem Geschreibsel verleiten lässt, eine Entführung durchzuziehen?“
„Weißt du einen anderen Grund, warum er dieses Buch hier haben könnte? Hast du auch nur einen einzigen anderen Hinweis auf die Finca in seinen Unterlagen gefunden?“
„Das heißt aber noch lange nicht, dass es keinen anderen Grund geben kann“, wehrte er mit wenig Überzeugung in der Stimme ab.
„Doch, das heißt es für mich und weißt du was, Keith? Ich glaube sogar, dass dieser anonyme Autor sogar in gewisser Weise der Wahrheit über die Finca sehr nahe gekommen ist, nur dass er sich in einem entscheidenden Punkt geirrt hat“
„Du glaubst diesen Schwachsinn? Michelle, bitte!“
Keith war fassungslos, aber Michelle ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Jetzt war sie so weit, alle Karten auf den Tisch zu legen. Sollte er ruhig glauben, sie sei übergeschnappt, aber jetzt ging es nicht mehr darum, ihr Gesicht zu wahren, sondern um Juanita. In Michelle war ein Plan gereift, wie sie ihre Freundin retten und Jake Thorn bestrafen konnte, doch dazu war es von entscheidender Bedeutung, dass Keith ihr glaubte.
„Ja, Keith. Ich glaube das tatsächlich. Ich glaube, dieses Haus lebt und denkt, ganz so, wie es in diesem Buch steht. Ich habe dort eine Weile gelebt, wie du weißt und ich habe am eigenen Leib gespürt, dass dieses Haus nicht ist, wie andere Häuser. Es gibt nur einen feinen Unterschied zwischen dem, was ich weiß und dem, was da drin steht: Das Haus beschützt seine Bewohner nicht, es jagt sie.“
Es hatte viel Kraft gekostet, das auszusprechen. Angesichts von Keith´ Reaktion würde es aber noch wesentlich mehr Kraft kosten, ihn zu überzeugen, denn er flippte regelrecht aus.
„Verdammt, Michelle, es geht hier um das Leben von Juanita Tirado. Ich brauche keine Gespenstergeschichten von einer verwirrten Witwe aus dem reichen Amerika, ich brauche Lösungen und du wirst sicher verstehen, dass ich mich jetzt lieber ans Telefon hänge und meine Leute in den Staaten auf Thorn ansetze, als hier weiter meine Zeit mit diesem Humbug zu verschwenden.“
Das hatte wehgetan. Unter normalen Umständen hätte sie es nicht zugelassen, dass einer merkte, wie sehr er ihr wehgetan hatte, doch jetzt war ihre Verletzlichkeit der letzte Trumpf, den sie ausspielen konnte, wenn sie Keith richtig einschätzte.
Eine Träne löste sich aus ihrem linken Augenwinkel, rann ganz langsam über ihre Wange und blieb dann kurz an ihrer zitternden Oberlippe hängen, bevor sie sie mit einer trotzigen Handbewegung fortwischte. Sie sah ihn mit einem Ausdruck verletzten Stolzes herausfordernd an. Würde er es wagen, das zu ignorieren? Sie wartete und blickte ihm dabei fest in die Augen.
„Michelle, ich…“, begann er stockend und rang nach Worten. Sie hatte ihn erwischt und für den Bruchteil einer Sekunde fühlte sie sich wie ein manipulatives Miststück.
Nicht locker lassen, es ist für Juanita!
„Ich wollte dich nicht verletzen, OK? Es ist nur so, dass… also ich kann an so etwas nicht glauben. Ich meine, das ist doch verrückt“
„Ich bin also verrückt“, flüsterte sie lauernd.
„Nein, das habe ich doch nicht gesagt. Bestimmt hast du deine Gründe, das alles zu glauben, aber du bist aufgewühlt, hast deinen Mann verloren, bist fremd hier, Thorn hat dich verschaukelt und jetzt ist auch noch deine beste Freundin in Gefahr. Ganz ehrlich: Ich verstehe das.“
„Dann mache ich dir einen Vorschlag, Keith Flemming: Ruf du nur deine Geheimagentenfreunde in Amerika an. Schaden kann es ja nicht. Vielleicht finden sie Thorn, vielleicht nicht. Aber dann tust du mir anschließend einen Gefallen. Einen Gefallen werde ich doch wohl bei dir guthaben, oder nicht?“
Keith war jetzt in der Defensive, das konnte Michelle fast körperlich spüren. Sie hatte ihn da, wo sie ihn haben wollte.
„Sicher, was immer du willst. Ich mache einfach meine Arbeit und dann tue ich, was du verlangst.“
„Ganz einfach“, gab sie mit gespielter Koketterie zurück. „Verbringe eine Nacht mit mir.“
Unfähig zu einer Antwort, starrte Keith sie mit großen Augen an.
„Auf der Finca, du Genie! Verbringe dort eine Nacht mit mir und mache dir einfach ein Bild von der Sache.“
Immer noch glotzte er sie nur mit offenem Mund an. Der Überraschungsangriff hatte gesessen. Es war Zeit, dass er wieder in die Gänge käme.
„Also, was ist? Du hast doch keine Angst vor Gespenstern, oder? Keith Herrgott, nun sag´ schon was!“
„Eine Nacht mit dir auf der Finca? Das ist alles? Ich denke, das kann ich machen. Ja, warum nicht?“
Und das Buch nehmen wir mit!“
„Aber wieso? Lass es doch hier, das bringt doch nichts!“
„Keith!“
„Also gut, wenn du meinst, dann nehmen wir es halt mit. Jetzt ist sowieso schon alles egal.
Jetzt strahlte sie ihn an, denn ihr war wirklich nach Strahlen zumute. Jetzt konnte alles gut werden. Vorausgesetzt, alles würde so laufen, wie sie es sich erhoffte.