Das herrliche Frühlingswetter machte Kaliforniens Ruf als Staat, in dem es niemals regnet, alle Ehre. Die Temperaturen waren warm aber noch angenehm. An den Stränden tummelten sich Surfer. Europäische Touristen stürmten mit Luftmatratzen und Boogie-Boards in die Brandung des Pazifiks.
Nur Michelle Penn hatte für das Frühlingserwachen, das ihre Heimatstadt San Diego ergriffen hatte, keinen Sinn.
Seit ihr Mann Harry vor heute genau achtzehn Monaten im Irak gefallen war, fand sie eigentlich an gar nichts mehr Gefallen.
Durch das gekippte Badezimmerfenster klang das Lachen der Nachbarskinder zu ihr. Mr. Freeling, der zwei Häuser weiter lebte, hatte wieder einmal seinen Rasenmäher angeworfen. Der pubertierende Junge der Baldwins im Bungalow auf der anderen Straßenseite hatte die Boxen seiner Stereoanlage direkt ans geöffnete Fenster seines Zimmers gestellt, sodass er sie ganze Straße mit Hip-Hop beschallte.
Michelle nahm nichts davon wahr. Sie stand an ihrem Waschbecken und betrachtete sich im Spiegel. Sie hatte sich im letzten Jahr stark verändert.
Sie hatte Augenringe und ihr Teint sah ungesund grau aus.
Das Antlitz einer Sechsundzwanzigjährigen jedenfalls sah anders aus oder sollte es zumindest.
Sicher, sie hatte viel geweint in den letzten anderthalb Jahren, und ja, sie hatte gewiss die eine oder andere Nacht zu wenig geschlafen. Doch das Gesicht einer Sechsundzwanzigjährigen sollte eigentlich anders aussehen.
„Harry würde mich verachten“, sagte sie sich.
Komisch, heute spürte sie bei dem Gedanken an ihren verstorbenen Mann gar keine Tränen hochkommen, wie sonst. Sie hatte sich schon Sorgen gemacht, dass sie die Trauerphase niemals hinter sich bringen würde, und wie aus dem Nichts war heute plötzlich irgendwas anders.
Vielleicht lag es daran, dass sie seinen Namen endlich wieder einmal laut ausgesprochen hatte, statt nur an ihn zu denken oder ihn mit tränenerstickter Stimme in ihr Kopfkissen zu wimmern.
Was immer der Grund war: Heute verkroch sie sich nicht in ihre eigene kleine Welt, sondern nahm auf einmal alles um sich herum deutlicher wahr. Sie hörte das Kinderlachen von draußen. Der Krach des Rasenmähers drang ebenso in ihr Bewusstsein, wie die wummernden Bässe aus dem Zimmer des Baldwin-Jungen.
„Harry“, flüsterte sie, und der Anflug eines Lächelns huschte über ihr müdes Gesicht. Der Klang seines Namens erzeugte ein Gefühl der Wärme, das sich von ihrer Brust über den Hals bis auf ihre Wangen ausbreitete. Ein Strom von Bildern aus ihren glücklichen Tagen tauchte vor ihrem inneren Auge auf.
Harry, wie er auf dem Abschlussball der Highschool charmant lächelnd ihre Hand nahm und sie auf die Tanzfläche führte. Harry, der im Diner um die Ecke plötzlich seinen Stuhl zurückschob, aufstand und feierlich vor ihr auf die Knie ging, um sie zu fragen, ob sie seine Frau werden wolle. Sein muskulöser, makellos gebräunter Körper, der auf ihrer Hochzeitsreise auf Hawaii aus den Fluten stieg und viele, viele weitere Szenen aus ihrer gemeinsamen Zeit.
„Harry“! Laut und deutlich schmetterte sie den geliebten Namen ihrem Spiegelbild entgegen und als Antwort bekam sie ein strahlendes Lächeln zurück.
War es nun endlich so weit? Würde es nun besser werden? War das Tal der Tränen jetzt durchschritten?
Aus dem Korridor erklangen Schritte. Die Wohnzimmertür knarrte, als sie geöffnet wurde und erneut, als sie vorsichtig wieder zugezogen wurde. Michelle kannte dieses Geräusch genau und, es war kein Irrtum möglich. Jemand war in der Wohnung.
Sie wusste, dass sie eigentlich Angst bekommen sollte. Ihrem Verstand war vollkommen klar, dass ein Fremder in der Wohnung nichts anderes, als Gefahr für eine alleinstehende Frau bedeuten konnte. Jetzt sollte eigentlich Panik in ihr aufsteigen, ihre Knie sollten zittern und sie sollte auch verdammt noch mal um Hilfe rufen. Durch das gekippte Fenster hätte Mr. Freeling sie sicher gehört, denn den Rasenmäher hatte er vor einer knappen halben Minute abgestellt. Sämtliche Nachbarn würden ihr augenblicklich zur Hilfe eilen, denn in diesem Viertel kümmerte man sich umeinander.
Aber Michelle schrie nicht. Sie bekam auch keine Panik. Die Angst kam ebenso wenig, wie zuvor die Tränen, als sie Harrys Namen zum ersten Mal seit langer Zeit wieder laut und deutlich ausgesprochen hatte.
Stattdessen machte ihr Herz einen Sprung und ihre Wangen begannen zu glühen. Es war Harry. Harry war nach Hause gekommen, kein Zweifel möglich. Schlagartig wurde ihr klar, dass sie die Schritte, die aus dem Flur gekommen waren, gleich erkannt hatte. Es war Harrys einzigartige Weise zu gehen, die sie soeben gehört hatte.
Michelle wirbelte vom Spiegel zur Badezimmertür herum und stürmte los.
Sie rannte durch den Flur, sah die Wohnzimmertür angelehnt, wie sie sie hinterlassen hatte und stieß sie mit angehaltenem Atem auf, als sie mit wenigen Schritten dort war. Sie schloss die Augen und sammelte sich.
Michelle wusste in diesem Augenblick mit unerschütterlicher Gewissheit, dass sie jetzt niemand anderen als Harry sehen würde, sobald sie ihre Augen öffnen würde.
Er würde sie einfach nur ansehen und dann würden sie sich in die Arme fallen und sich mit tausend Küssen endlich wieder vereinen, nach all diesen Monaten.
Natürlich war alles nur ein tragischer Irrtum gewesen. Harry war natürlich nicht tot. Man hatte ihn fälschlich für tot erklärt, als man seinen ausgebrannten Patrouillenpanzer am Rande der Nachschubroute gefunden hatte. In Wirklichkeit war er einfach von Aufständischen gefangengenommen worden und jetzt war eben wieder frei und zurück bei ihr.
Michelle öffnete ihre Augen.
Der Raum war leer. Sie hatte so gehofft, ihn zu sehen und sie spürte einen bitteren
Schmerz. Natürlich war er leer. Harry war tot und würde es für immer bleiben.
Jetzt rollte doch eine Träne über ihr Gesicht. Eine einzelne Träne nur, doch sie reichte aus, Michelle in die Realität zurückzuholen. „Verdammt Harry, hättest du es nicht sein können?“
Es klang wie ein Vorwurf und es war auch als Vorwurf gemeint. Das Zimmer schwieg sie an.
Dann fiel ihr Blick auf die Kommode, auf der ihr Flatscreen Fernseher stand.
Die untere Schublade war halb geöffnet.
Ihr Herz setzte für einen Schlag aus. Dann begannen ihre Schläfen zu pulsieren.
Es war also doch jemand hier gewesen. Diese Schublade hatte Michelle seit vielen Monaten nicht mehr angefasst, da war sie tausendprozentig sicher. Und doch glaubte sie auch jetzt noch nicht an einen Einbrecher.
In dieser Schublade lag der Brief, der ihr mit Harrys anderen Habseligkeiten übergeben worden war, nachdem man sie von seinem Tod in Kenntnis gesetzt hatte.
Die meisten Briefe dieser Art mussten niemals zugestellt werden. Die Soldaten brachten ihren Einsatz hinter sich, kamen nach Hause und lebten mit ihren Familien weiter, ohne dass sie jemals etwas von dem erwähnten, was sie in diesen Briefen aufgeschrieben hatten. Diese Briefe wurden einfach vernichtet und die Männer begruben das darin Gesagte zusammen mit ihren teils traumatischen Erlebnissen aus dem Einsatz in irgendeiner abgelegenen Ecke ihres Unterbewusstseins.
Doch manchmal musste ein solcher Brief eben doch an die Hinterbliebenen ausgehändigt werden.
Starb ein Soldat im Einsatz, wurde sein Spind geöffnet, die persönlichen Sachen wurden gesichert, und wenn ein solcher Brief unter den Sachen war, dann sorgte die Einheit auch dafür, dass er seinen Adressaten zusammen mit den anderen Hinterlassenschaften des Gefallenen erreichte.
Michelle hatten die beiden Offiziere, die damals vor ihrer Tür gestanden hatten, den Brief persönlich und getrennt von dem kleinen Paket mit Harrys übrigen Sachen ausgehändigt.
„Ma´am, ich bin sicher, ihr Mann hätte gewollt, dass sie das hier bekommen“, hatte der ältere der beiden gesagt und ihr den schlichten Umschlag mit einer unsicheren Handbewegung überreicht.
Michelle erinnerte sich später vage, dass dies der Moment gewesen war, als sie zusammengebrochen war.
Gelesen hatte sie den Brief, als der Notarzt, den die beiden Offiziere gerufen hatte, ihr eine Beruhigungsspritze gegeben hatten und sie halbwegs wieder bei sich war,
In diesem gedämpften Zustand konnte sie ihn lesen. Ohne diese Injektion wäre sie bis heute nicht in der Lage gewesen, ihn zu lesen.
Als die Wirkung des Mittels damals langsam nachgelassen hatte, war Michelle klar geworden, dass sie die Kraft kein zweites Mal aufbringen würde, und hatte ihn in eben diese Schublade gesteckt.
Jetzt stand sie halb offen und legte stumm Zeugnis darüber ab, dass hier etwas vor sich gegangen war, als sie allein im Badezimmer gewesen war.
Nun bemerkte sie auch, dass nicht nur die Schublade der Kommode offen stand. Auch das Wohnzimmerfenster war nur angelehnt.
Einem Impuls folgend stürzte Michelle zum Fenster und riss die Gardine beiseite.
Sie lehnte sich weit hinaus und starrte die Straße hinunter. Mr. Freeling saß in seinem Vorgarten, eine Dose Bier in der Hand und winkte ihr grüßend zu, als er sie sah.
Doch Michelle sah ihn nicht. Sie starrte die lange Avenue hinauf, in die Richtung, in der die Straße in einer Sackgasse endete. Dahinter gab es einen hohen Drahtzaun mit einer Tür, die in den dahinterliegenden, kleinen Canyon führte, in dem die Kinder aus der Nachbarschaft so gern ihre Abenteuerspiele spielten. Die Eltern waren zwar nicht begeistert davon, weil sich durchaus einmal eine Klapperschlange dorthin verirren konnte, doch man konnte seine Kinder schließlich nicht pausenlos beobachten und bisher war auch noch nie etwas geschehen.
Dort hinten stand jemand. Er hatte die Tür im Zaun bereits geöffnet und war gerade im Begriff, hindurchzugehen, als er sich noch einmal umdrehte.
Als sie erkannte, wer da stand, verkrampfte sich ihre Brust. Zwar konnte sie das Gesicht des Mannes auf die Entfernung nicht erkennen, doch Statur und Kleidung ließen keinen Zweifel. Es war Harry.
Die Gestalt schaute direkt zu ihr hinüber und schließlich hob sie ganz langsam den rechten Arm und winke ihr zu. Es war eine melancholisch wirkende Geste und Michelle kam die Szene gleichzeitig völlig real und auch komplett unwirklich vor.
Gerade als der Mann – Harry?- den Arm wieder senkte und sich endgültig zum Gehen wandte, kamen zwei Kinder den Weg aus dem Canyon hochgestürmt.
Sie erreichten die Tür und rannten hindurch, ohne sich um den Mann, der ihnen den Weg versperrte, zu kümmern. Sie rannten einfach durch ihn hindurch, als sei er überhaupt nicht da.
Dann war der Mann verschwunden und die Kinder kamen die Straße entlang gelaufen, als sei nichts gewesen. Michelle wurde kalt und sie begriff nicht, was sie dort draußen gerade gesehen hatte.
„Einen wunderschönen guten Morgen, Mrs. Penn“, rief Mr. Freeling gutgelaunt von der anderen Straßenseite und prostete ihr mit seinem Bier zu.
Michelle grüßte geistesabwesend zurück und taumelte rückwärts vom Fenster weg.
Dabei stieß sie gegen die Schublade und geriet ins Straucheln. Um ein Haar wäre sie darüber gestürzt, doch sie schaffte es, sich mit der linken Hand auf der Kommode abzustützen und im Gleichgewicht zu bleiben.
Sie starrte hinunter und konnte sehen, dass der allzu vertraute Umschlag in der Schublade ganz obenauf lag.
„Das kann nicht sein“, stammelte sie verwirrt.
„Ich habe zuerst den Brief hineingelegt und dann noch Zeitschriften draufgelegt, das weiß ich genau.“
Sie kniete sich hin und zog die Lade vollständig auf. Mit zitternden Fingern nahm sie ihn heraus, zog den zusammengefalteten Zettel daraus hervor und verlor abermals beinahe das Bewusstsein, als ihr der Geruch von Harrys Rasierwasser aus dem Umschlag entgegenströmte.
Michelle ließ sich aus der Hocke auf die Knie fallen und las den Brief ihres toten Mannes zum ersten Mal seit achtzehn Monaten.