Michelle passierte mit ihren zwei Rollkoffern den Zoll und gelangte in den Terminal, von wo sie abgeholt werden sollte. Es waren viele Touristen hier, aber kaum Amerikaner, wie sie feststellte.
Michelle suchte die Menschenmenge ab, jedoch ohne Hoffnung, in dem allgemeinen Gedränge jemanden entdecken zu können, der ihretwegen hier war. Natürlich hatte sie völlig vergessen, Juanita nach einer Beschreibung des Mannes zu fragen, der hier auf sie warten und sie zur Finca fahren sollte. Sie verfluchte sich dafür, doch dann stutzte sie.
Ein Mann, vielleicht drei Jahre älter als sie, stand mit einem Gepäckwagen mitten in der Menge und hielt ein Schild mit der Aufschrift „Mrs. Penn“ in die Höhe. Auch er suchte den Ankunftsbereich ab.
Michelle musste zugeben, dass dieser Verwalter optisch erheblich mehr hermachte, als sie erwartet hatte. Keith Flemming war sportlich, leger, aber mit Jeans und weißem Hemd durchaus stilsicher gekleidet und hatte eine struwwelige, blonde Lockenmähne auf dem Kopf. Michelle vermutete seine Vorfahren in Skandinavien, wozu ja auch sein Familienname passen würde.
Sie setzte sich mit ihren Koffern wieder in Bewegung und ging auf ihn zu.
Er bemerkte sie und sprach sie an.
„Sie müssen Mrs. Penn aus San Diego sein, richtig? Mein Name ist Keith Flemming. Ich bin hier, um Sie abzuholen. Geben Sie mir ihr Gepäck, dann lege ich es hier drauf.“
Flemming deutete auf die Transportkarre. Michelle stellte die Koffer ab Lund ächelte.
„Das ist sehr nett, Mr. Flemming. Wie haben Sie mich denn erkannt?“
„Mrs. Tirado war so freundlich, mir ein Foto von ihnen zu mailen. Ich hoffe, das war Ihnen recht. Ich lösche es natürlich sofort wieder von meinem Handy, wenn sie es wünschen. Es hat ja seinen Zweck jetzt erfüllt.“
Er machte eine kurze Pause und der Anflug eines lausbübischen Grinsens huschte über sein Gesicht.
„Wobei es natürlich schade um das Bild wäre. Sie sind darauf nämlich wirklich sehr gut getroffen.“
Dieses Grinsen hatte Harry auch manchmal gehabt. Michelle konnte nicht umhin, auch in Flemmings Statur und sogar in seinen Augen einige Details zu erkennen, die sie an Harry erinnerten.
Er gefiel ihr, aber auf eine ganz andere Art, als ihr Männer sonst gefielen. Diese Ähnlichkeit zu Harry ließ ihn in ihren Augen nicht als begehrenswert erscheinen, sondern einfach wie einen guten und vertrauenswürdigen Menschen, den man sicher gern um sich hatte.
„Ach nicht doch, Mr. Flemming, ich habe nichts dagegen, dass mein Bild auf ihrem Handy ist. Sie werden damit ja keine Dummheiten machen, denke ich.“
„Nennen Sie mich doch bitte Keith, Mrs. Penn. Ich bin so viel Förmlichkeit vonseiten der Gäste nicht gewohnt.“
Wieder dieses spitzbübische Grinsen. Michelle fühle sich wirklich wohl in der Gegenwart dieses Mannes.
„OK, Keith, dann nennen Sie mich aber auch Michelle. Männer, die ein Foto von mir auf ihrem Handy haben, tun das im Allgemeinen und so viele sind das nicht, das kann ich Ihnen versichern.“
„Ich wäre auch tief getroffen, wenn es anders wäre, Michelle. Na, dann wollen wir mal!“
Er griff sich Michelles Koffer, verstaute sie auf dem Gepäckwagen, auf den ohne Weiteres die dreifache Menge gepasst hätte und wenig später waren sie auf dem Parkplatz angekommen, von wo aus es mit einem VW-Bulli in Richtung Alcudia ging.
Die Finca lag etwas außerhalb der Stadt, abseits der Landstraße. Nach einer gut vierzigminütigen Fahrt hatten sie das Anwesen erreicht. Von der Landstraße führte ein kleiner Weg ein ganzes Stück weit feldeinwärts. Er endete an einem großen, schmiedeeisernen Tor, das in eine bestimmt zweieinhalb Meter hohe Feldsteinmauer eingefügt war.
„Die Mauer dient nur als Sichtschutz zur Straße hin“, erklärte Keith, als er Michelles erstauntes Gesicht sah.
„Von allen anderen Seiten ist das Grundstück ohne weitere Barrieren zu betreten. Die Mauer hat Mr. Tirado nachträglich errichten lassen. Sie soll dem Haus von der Straßenseite her einen festungsähnlichen Eindruck verleihen und Einbrecher abschrecken.“
„Es ist gar nicht mal die Mauer, Keith. Es ist das, was ich durch das Tor jetzt schon erkennen kann. Mein Gott, das Haus muss ja riesig sein!“
Keith lachte amüsiert auf: „Ja, für eine Finca ist es eher groß, aber riesig wirkt es nur, weil man von hier aus, durch das Tor, nur den imposanten Eingangsbereich sehen kann. Das relativiert sich, sobald man auf dem Grundstück ist, glauben Sie mir, Michelle.“
Keith behielt Recht. Als sie durch das Tor traten, sah Michelle, was Keith gemeint hatte. Zur Eingangstür hinauf führte eine bestimmt fünf Meter breite Treppe mit sechs Stufen. Das gesamte Entree war überdacht und das Vordach wurde von vier steinernen Säulen getragen. Auf diese Weise wirkte die Frontansicht ziemlich wuchtig.
Die Eingangstür nahm sich dagegen fast winzig aus. Als sie mit Keith das Haus betrat, bemerkte sie allerdings, dass das eine optische Täuschung war. Sie passten beide nebeneinander durch die Tür und Keith trug dabei noch in jeder Hand einen von Michelles Koffern.
„Es ist kalt hier drin“, bemerkte Michelle unbehaglich, als sie drinnen waren.
„Sie wollen mir doch nicht krank werden, Michelle“, fragte Keith überrascht.
„Hier drin herrschen momentan bestimmt fünfundzwanzig Grad. Ich muss erst noch die Klimaanlage einschalten, um es hier ein wenig angenehmer zu machen.“
„Um Gottes willen nein“, protestierte sie.
„Vielleicht bin ich wirklich etwas angeschlagen, oder es ist einfach der Jetlag. Mir ist jedenfalls kalt. Ich schalte die Klimaanlage bei Bedarf lieber selbst ein, wenn es Ihnen recht ist, Keith.“
Es war ihm recht und er zeigte ihr kurz das entsprechende Bedienfeld, das sich gleich neben der Tür im Flur befand.
Michelle hörte nur mit halbem Ohr zu. Sie fröstelte immer noch, aber sie fühlte sich nicht im Geringsten erkältet. Es war mehr wie ein Schauder, der ihr über den Rücken lief, als wolle ihr Körper sie vor einer Gefahr warnen, die schon hinter der nächsten Tür lauern konnte.
Sie schüttelte sich und verscheuchte diesen albernen Gedanken.
„Gut, dann würde ich mir gern den Rest des Hauses ansehen, Keith.“
Michelle gab sich alle Mühe, fröhlich zu klingen und Keith schien ihr die Unbekümmertheit abzunehmen.
„Wenn Sie mir dann bitte folgen wollen, Ma ´am“, näselte Keith mit gespielter Vornehmheit und reichte Michelle den rechten Arm, woraufhin sie sich lachend bei ihm einhakte.
Die Besichtigung war nach einer viertel Stunde abgeschlossen, und nachdem Keith sich verabschiedet hatte, sank Michelle erschöpft auf die Couch und schlief beinahe auf der Stelle ein.
Es war ein kurzer und unruhiger Schlaf. Hätte sie jemand beobachtet, wäre demjenigen sofort der Gedanke gekommen, dass die junge Frau sich mit schlimmen Träumen quälte. Kurz bevor sie aufwachte, begann Michelle Penn im Schlaf zu weinen.
Sie bemerkte ihre tränennassen Wangen und schaute sich verschlafen um. Die Wanduhr verriet ihr, dass sie nur eine knappe halbe Stunde geschlafen hatte.
Offenbar war sie noch zu aufgewühlt, um lange zu schlafen. Ein wenig frische Luft würde ihr guttun, dachte sie und erinnerte sich an die Poolbar hinter dem Haus. Dorthin ging sie und nahm eine Flasche Rotwein aus der Bar im Wohnzimmer mit.
Dort saß sie die nächsten zwei Stunden und leerte die Flasche, bis sie sich beschwipst fühlte und beschloss, das letzte Glas lieber doch nicht mehr zu trinken.
Auch wenn es erst früh am Abend war, hatte sie jetzt die nötige Bettschwere. Michelle beschloss, es noch einmal mit etwas Schlaf zu versuchen. Vielleicht würde sie sogar bis zum nächsten Morgen durchschlafen können.
Das Schlafzimmer lag im Obergeschoss der Finca und es war geschmackvoll und gemütlich. Michelle zog die Vorhänge zu, zog sich aus und schlüpfte unter die Decke. Es dauerte keine fünf Minuten, und sie war eingeschlafen.