16. KAPITEL

Der Nachthimmel war sternenklar. Unter normalen Umständen wäre es ein zauberhaft romantischer Anblick gewesen. Die eine oder andere Sternschnuppe würde man sicher auch entdecken können, wenn man nur lange genug den Himmel beobachtete. Die zwei Liebenden aber, die diesen Himmel durch das kleine Fenster im Obergeschoss der Finca sahen, konnten keine romantischen Gefühle aufbringen. Es war nackte Angst, die es in ihnen auslöste.

Michelle wurde die Kehle eng. Sie hatte nie mit Asthma zu tun gehabt, aber so musste sich ein Anfall anfühlen. Ihr Atem ging pfeifend und raste flach dahin, ohne dass eine nennenswerte Menge Sauerstoff ihre Lungen erreichte. Ohne es zu bemerken, hatte sie Keith´ Hand so fest umklammert, dass sich ihre langen Fingernägel in seine Haut bohrten. Vorsichtig entwand er sich ihrem Griff, ging zum Fenster und zog die Vorhänge zu. Auf dem letzten Stück, bevor er ganz geschlossen war, verhakte er sich in der Führungsschiene. Zwar zerrte Keith energisch daran herum, doch es half nichts. Er musste auf die Fensterbank steigen und das Problem an der Quelle beheben. Michelle beobachtete seine Bemühungen und wurde zusehends nervöser.

Mach, dass es zu geht, mach, dass es zu geht, mach …

Ein spitzer, panischer Schrei, der sich überhaupt nicht nach Keith anhörte, riss sie aus ihrem Mantra. Es war Keith, der da schrie und dabei mit einem gewaltigen Satz rückwärts von der Fensterbank weg in den Raum sprang. Er kam ungünstig und unkontrolliert auf dem Boden auf. Das Reißen der Bänder in seinem Fuß war laut wie ein Peitschenknall und zog einen weiteren Aufschrei nach sich, der in ein verzweifeltes, schmerzerfülltes Brüllen überging.

Michelles Hände pressten sich reflexartig gegen ihre Ohren. Sie hätte sich die Augen zugehalten, wenn sie es sich hätte aussuchen können, doch so musste sie sehen, was Keith von einer Sekunde auf die andere in totale Panik versetzt hatte.

Von außen presste sich ein Gesicht gegen die Scheibe und leere Augenhöhlen glotzen durch den Schlitz des Vorhanges zu ihnen herein. Vom Kopf standen dem Wesen ein paar spärliche, weiße Haarbüschel ab und die Lippen waren aufgesprungen, wie nach einem Marsch durch sie sengende Hitze der Wüste.

Das Gesicht hing einfach da an der Scheibe, als hätte sich ein loser Kopf mit den Lippen daran festgesaugt. Diese Lippen waren weit aufgerissen und entblößten einen weitgehend zahnlosen Mund, in dem nur noch einige abgebrochene Stümpfe vorhanden waren.

Der Schrei, der die ganze Zeit aus ihr heraus wollte, steckte noch fest, doch als das Wesen den Kopf ein Stück zurücknahm, um dann mit voller Wucht erneut seinen Kopf gegen die Scheibe zu knallen, wurde es ein Kreischen, das sie einfach nicht stoppen konnte.

Etwas packte sie am Knöchel und sie rastete vollkommen aus. Mit allen Gliedmaßen schlug und trat sie um sich wie eine Furie, doch sie konnte diese Bewegungen in keiner Weise kontrollieren. Es war, als würde Elektrizität durch ihren Körper jagen und ihre Muskeln in wilde Zuckungen versetzen. Sie konnte die Hand von ihrem Knöchel nicht abschütteln und stürzte zu Boden. Gleich würde sich etwas auf sie stürzen und unaussprechliche Dinge mit ihr tun.

Keith sah ihr mit tränenden Augen aus einiger Entfernung ins Gesicht.

Keith???

Er hatte sich an ihr festgeklammert und er tat es immer noch, als sie jetzt am Boden lag. Jetzt erst ließ er sie los, damit sie ihr Bein zu sich heranziehen konnte, um sich aufzusetzen. Sie mussten aus diesem Raum – weg von diesem Monster, dass sie durch das Fenster hindurch immer noch gierig anstarrte. Jedenfalls vermutete Michelle, dass es das tat. Hinzusehen wagte sie nicht mehr. So oft, wie sie in den letzten Tagen schon gestürzt war, hatte sie mittlerweile eine gewisse Übung darin, sich wieder aufzurappeln. Sie selbst war körperlich halbwegs intakt, wenngleich sie sich fühlte, als müsse sie jeden Moment an einer Herzattacke oder an einem Hirnschlag sterben.

Keith dagegen hatte es wirklich schlimm erwischt. Er hatte es irgendwie geschafft, seinen rechten Schuh abzustreifen und hatte die Socke dabei zur Hälfte mit abgestreift. Der Fuß sah aus, wie ein grotesk angeschwollener Ballon. Einen Knöchel konnte Michelle in diesem Klumpen nicht mehr erkennen. Wie sollte sie ihn nur hier raus schaffen? Diesen Fuß konnte er unter keinen Umständen auch nur mit einem Gramm seines Körpergewichts belasten.

Es blieb ihr keine andere Wahl, als ihn an seinen Armen auf dem Boden durch das Zimmer zu schleifen. Keith half nach Leibeskräften, indem er sich immer wieder mit den Händen abstützte und versuchte, sich selbst vorwärts zu ziehen, doch es blieb eine unglaubliche Plackerei. Den stärksten Körperbau hatte Michelle nie gehabt und ihre verletzte Schulter behinderte sie zusätzlich. Zu allem Überfluss stöhnte und schrie Keith jedes Mal auf, wenn es ein Stück weiter voranging und sein verletzter Fuß über den Boden schleifte.

Nach einer gefühlten Ewigkeit hatten sie es endlich aus dem Arbeitszimmer in den Korridor geschafft. Michelle legte die Arme des halb ohnmächtigen Keith behutsam ab und beeilte sich dann hektisch, die Tür zum Zimmer zu schließen. Für einen Nervenzusammenbruch blieb ihr jetzt keine Zeit. Sie staunte selbst, dass sie offenbar fähig war, sich das auszusuchen.

Hey, wie wäre es mit einem schönen Blackout? Nein? Gut, dann verschieben wir das.

In Extremsituationen war man zu Dingen fähig, die weit über das hinausgingen, was man sich im normalen Alltag vorstellen konnte. Diese Erfahrung hatte Harry im Einsatz sicher oft gemacht. Michelle machte sie gerade zum ersten Mal.

„Keith, geht es? Ich weiß nicht, wie ich dich noch weiter schleppen soll.“

„Wir sind weit weg von allen Fenstern, das ist erst mal das Wichtigste. Du kannst aber etwas für mich tun. Unten im Abstellraum, oben auf dem Regal über dem Sicherungskasten liegt meine Ausrüstung. Darunter findest du einige Medikamente, unter anderem ein starkes Schmerzmittel. Das brauche ich.“

„Hattest du da auch deine Pistole versteckt?“

„Ja, hatte ich. Mein Geheimagentenpaket." Er brachte es fertig, über seinen eigenen Witz zu lachen. Das nahm Michelle als Zeichen, dass sie ihn wirklich für einen Moment allein lassen konnte.

Die kleine Umhängetasche, in der sich die gesuchten Medikamente befanden, war mit ein paar Plastiktüten zugedeckt, und nur weil sie wusste, wo sie zu suchen hatte, wurde sie schnell fündig. Bevor sie wieder nach oben rannte, besann sie sich noch kurz und holte eine Flasche Mineralwasser aus der Küche, damit Keith die Pillen herunterspülen konnte. Dabei achtete sie darauf, keinen Blick auf die Fenster zu werfen. Sie bewegte sich rückwärts darauf zu und tastete nach einem Zipfel des Vorhanges. Als sie ihn hatte, zog sie ihn hinter ihrem Rücken zu und wiederholte das Ganze dann mit dem Zweiten. Die ganze Zeit spürte sie förmlich, wie sie etwas durch die Scheibe bei ihrem Tun beobachtete. Hätte sie sich umgedreht, wäre ihr Verstand augenblicklich in Flammen aufgegangen, denn draußen drängte sich ein halbes Dutzend dieser untoten Monster und starrten hinein.

Nachdem sie sicher war, dass niemand mehr durch das Fenster in die Küche sehen konnte, rannte sie wieder los, um Keith endlich sein Schmerzmittel zu bringen.

Ihre Ankunft wurde schon sehnsüchtig erwartet. Keith riss ihr die Packung mit den erlösenden Pillen regelrecht aus der Hand. Gleich drei auf einmal schluckte er und spülte alles mit nur einem einzigen Schluck Wasser hinunter. Erleichtert ließ er sich daraufhin wieder flach auf den Boden sinken. Sein Atem ging schwer und sein Gesichts zeigte deutlich, dass er wahnsinnige Schmerzen auszustehen hatte.

„Nur ein paar Minuten, Michelle, dann wird es gehen“, murmelte Keith am Rande der Erschöpfung und dann schlief er ein.

„Ruh´ dich aus, mein Liebster. Ich werde die Sache für uns gemeinsam durchstehen.“

Behutsam schob sie sein Hemd hoch und zog vorsichtig die Pistole aus seinem Hüftholster. Sie würde sich und ihn mit allem verteidigen, was sie hatte. Ob sie eine Chance hätte, wenn es hart auf hart ging, wusste sie nicht. Sie vermutete, dass sie nicht die besten Karten hatte, aber was konnte sie schon ändern?

Die Situation ist, wie sie ist. Ich bin auf mich gestellt und ich werde nicht kampflos abtreten.

Von unten hallte ein klirrendes Geräusch durch das Haus.

Ein Fenster! Sie kommen rein!

„Nein, ihr Bastarde“, schrie sie und stürmte mit der Waffe in der Hand los. Sie zu entsichern gelang ihr im vollen Lauf, ohne dass sie darüber nachdenken musste, wie das ging. Vielleicht leitete eine höhere Macht ihre Hand, vielleicht hatte sie auch einfach nur Glück und den richtigen Handgriff zufällig ausgeführt. Tatsache war, dass sie bereit war, mit der Waffe in der Hand zu sterben, aber nicht, ohne ein paar von diesen Mistviechern mitzunehmen. Hätte sie sich selbst retten wollen, wäre sie in das nächstbeste Zimmer ohne Fenster geflohen und hätte sich dort verbarrikadiert. Aber es ging nicht um sie und ihr Leben. Seit der Vision von Harry hinter dem Haus hatte sie ihre Angst vor dem Tod ohnehin verloren. Es ging um Keith.

Er lag schutzlos oben im Korridor. Sie durfte nicht zulassen, dass sie ihn in dieser Lage erwischten.

Das Klirren konnte von überall her gekommen sein. Sie musste sich entscheiden, ob sie Richtung Wohnzimmer oder Richtung Küche laufen wollte. Spontan entschied sie sich für die Küche.

Mit vorgehaltener Waffe stürmte sie durch die Tür. Wäre es tatsächlich dieses Fenster gewesen und die Monster wären bereits eingedrungen, dann hätte sie jetzt ein Problem gehabt. Sie war ohne nach rechts oder links zu sehen einfach mitten in den Raum gestürmt. Als sie jetzt feststellte, dass dieses Zimmer in Ordnung war, realisierte sie ihren taktischen Fehler. Natürlich hätte einer von denen bereits hinter der Tür lauern können und dann hätte sie den Gegner jetzt im Rücken gehabt.

Ich muss vorsichtiger vorgehen.

Die nächste Möglichkeit war das Wohnzimmer. Höchstwahrscheinlich war es eines der Fenster gewesen, denn für die Terrassentür mit ihren massiven Scheiben war das Klirren nicht laut genug gewesen.

Auf Zehenspitzen schlich sie durch den Korridor. Vor dem Abstellraum blieb sie stehen und atmete tief durch. Sie musste hineinsehen, um sicherzugehen, dass sich keines der Wesen darin versteckt hatte, denn sonst hätte es sie von hinten angreifen können, sobald sie daran vorbei war. Vorsichtig aber zu allem entschlossen legte sie die Hand auf die Klinke. Jetzt musste alles sehr schnell gehen. Mit einem Ruck riss sie die Tür auf und zielte mit der Waffe in den kleinen Raum. Um ein Haar hätte sie einfach geschossen, doch sie schaffte es, den Abzug nicht zu berühren. Ein Schuss hätte sie augenblicklich verraten.

„Nichts“, murmelte sie bedauernd.

Etwas in ihr hatte gehofft, dass sie die Gelegenheit bekommen würde, ein großes Loch in eine dieser Gestalten zu schießen, doch die neu entdeckte Killerin in ihr musste sich noch gedulden. Nachdem sie die Tür wieder leise zugezogen hatte, ging sie weiter in Richtung Wohnzimmer. Sicher wäre es besser gewesen, wenn sie den Raum zu zweit hätten betreten können, denn sie konnte nicht gleichzeitig den Raum links und rechts von der Tür im Auge haben, wenn sie eintrat.

Da es aber nicht zu ändern war, trat sie ein und entschied sich für die linke Seite. Sie schnellte um die Ecke und riss die Waffe hoch. Etwas traf sie am Kopf. Mit einem Aufschrei warf sie sich zurück, riss die Waffe wieder hoch und feuerte im Fallen zwei Schüsse in schneller Folge ab. Dann schlug sie auf dem Boden auf, doch dieses Mal war sie geistesgegenwärtig genug, sich elegant abzurollen. Alles, vom Hereinstürmen über das Schießen bis zum Abrollen lief völlig automatisch und ohne Nachdenken ab.

Direkt aus der Abrollbewegung drückte sie sich wieder in den Stand und visierte sofort wieder ihr Ziel an. Doch sie hatte es bereits mit den ersten zwei Schüssen erledigt.

„Verdammte Scheiße“, schrie sie wütend.

Sie hatte das schmale Bücherregal, das neben der Tür an der Wand gestanden hatte, erschossen. Die Bücher lagen kreuz und quer über den Boden verstreut. Das Regal war an zwei Stellen gesplittert und lag verdreht zwischen den verstreuten Büchern.

Die Fensterscheiben waren vollkommen intakt. Auch die Terrassentür war heil.

Wo zum Teufel sind sie dann reingekommen.

Eine Berührung an der Schulter ließ sie herumwirbeln. Der Anblick von Keith´ erschrockenem Gesicht brachte sie zurück in die Realität.

„Nimm bitte die Waffe aus meinem Gesicht.“

„Um ein Haar hätte ich dich erschossen! Was ist bloß los mit dir“, schrie sie ihn an.

Dann fiel sie ihm um den Hals und küsste erleichtert sein Gesicht ab.

„Au, Michelle, ich kann dich nicht halten. Mein Fuß!“

Sofort ließ sie ihn los und trat von ihm zurück.

„Oh, das tut mir leid. Entschuldige. Du kannst ja gehen!“

„Hüpfen trifft es eher“, entgegnete er lakonisch. „Die Tabletten beginnen zu wirken. Ich muss kurz weggetreten gewesen sein. Als ich wieder zu mir gekommen bin, habe ich gemerkt, dass meine Kanone weg ist. Als ich die Treppe runter gehinkt bin und ich die Schüsse gehört habe, hast du mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt“

Es klang eher anerkennend als tadelnd, wie er das sagte. Michelle war froh, dass er ihr die Sache mit der Pistole anscheinend nicht krummnahm.

„Hast du etwas gesehen, als du die Treppe runter kamst? Irgendwo ist eine Scheibe zerbrochen, deshalb bin ich runter, um nachzusehen. In der Küche und hier ist aber alles normal. Ich frage mich, wo das hergekommen ist.“

Keith dachte nach. Dann packte er sie plötzlich bei den Schultern und blickte ihr direkt in die Augen.

„Ist die Tür zum Wäscheraum abgeschlossen?“

Natürlich! Der Wäscheraum! Im hinteren Teil der Küche befand sich noch ein kleiner Zwischenkorridor, der zu einer Stahltür führte. Dahinter war der Raum, in dem die Waschmaschine und einige Vorräte standen. Von dort aus wiederum gelangte man durch eine weitere Zwischentür direkt in die Garage. Außer der Tür gab es im Wäscheraum noch ein kleines Fenster zur Garage hin. Das musste es gewesen sein.

„Ja, sie ist abgeschlossen. Ich habe die Tür bei meinem letzten Rundgang durch das Haus noch extra kontrolliert.“

Ohne ein Wort zu sagen, drehte sich Keith um und hüpfte auf dem linken Bein davon. Michelle beeilte sich, ihm zu folgen. Sie musste zu der Verbindungstür und sie zusätzlich sichern. Danach mussten sie sich dann schleunigst um die anderen Fenster im Haus kümmern. Zuerst unten und dann auch im Obergeschoss. Sie bezweifelte allerdings, dass sie genug Zeit hätten, bevor der Angriff richtig losging. Einen Angriff auf das Haus würde es mit Sicherheit geben. Heute war die Nacht, in der sie sich nicht mehr zurückhalten würden, das konnte sie spüren.

Die Tür schien intakt zu sein. Keith hielt sein Ohr dagegen und lauschte.

„Da rumort etwas“, flüsterte er. „Anscheinend sind da drin mehrere von ihnen. Keine Ahnung, was die machen. Schaffst du es, den kleinen Tisch mit der Marmorplatte aus dem Wohnzimmer herzuschaffen?“

„Ich muss es schaffen. Damit verbarrikadieren wir dann die Tür, richtig?“

Ja, allerdings stellen wir ihn nicht einfach davor. Der Tisch ist länger, als die Tür breit ist. Wir können ihn also an beiden Seiten noch mit der Wand verdübeln. Das müsste dann halten.“

„Die Bohrmaschine ist im Arbeitszimmer?“

Michelle hatte nicht die geringste Lust, noch einmal dort hineinzugehen. Der Vorhang war noch immer halb offen und wenn sie sie sahen, würden sie vielleicht die Scheibe eindrücken, um sie allein zu erwischen.

„Nein, sie ist im Abstellraum. Ich hole sie selbst, während du den Tisch herbringst.“

Es war ihr deutlich anzusehen, wie sehr sie darüber erleichtert war, nicht nach oben zu müssen. Keith nickte ihr aufmunternd zu.

„Die Treppe ist dann die nächste offene Flanke, die wir schützen müssen.“

„Keith, die Fenster“, erinnerte sie ihn.

„Die Fenster hier unten machen wir, wenn wir diese Tür und die Treppe gesichert haben. Und jetzt los!“

Der Transport des Tisches ging leichter vonstatten, als Michelle es befürchtet hatte. Unter den Tischbeinen waren Filzgleiter angebracht, so dass er sich mühelos über die Fliesen schieben ließ. Das Anschrauben der Tischplatte links und rechts der Türzargen war innerhalb weniger Minuten erledigt. Offenbar passte es den ungebetenen Gästen in der Garage und der Wäschekammer nicht, was sie hörten. Noch während Keith mit den Bohrungen beschäftigt war, warf sich etwas mit Wucht von außen gegen die Tür. Sie war allerdings zu stabil, um auch nur einen Zentimeter nachzugeben. Wenn sich das Ganze aber viele Male wiederholen würde, konnten sie nicht sicher sein, ob der Rahmen nicht doch nachgeben würde. Die zusätzliche Sicherung war also eine wertvolle Maßnahme.

Blieb noch das Problem des Treppenaufgangs. Wie sollten sie die ganze Treppe so blockieren, dass es niemandem gelingen konnte, sie zu überwinden? Michelles technisches Vorstellungsvermögen reichte nicht aus, sich vorzustellen, wie sich das bewerkstelligen ließe.

„Hast du eine Idee, wie wir das machen sollen? Möbel auf die Treppe stellen und hoffen, dass diese Monster sich die Beine brechen, wenn sie drüber stolpern?“

Keith schnaubte verächtlich.

„So einfach werden wir es diesen Bastarden sicher nicht machen. Komm mit, ich zeige dir, was ich vorhabe.

Anscheinend hatten die Schmerzmittel ihre Wirkung jetzt voll entfaltet, denn Keith kam zügig aus dem Sitzen auf die Beine und humpelte durch die Küche in Richtung Wohnzimmer. Dabei konnte er sogar seinen rechten Fuß wieder ein wenig belasten, so dass er schneller vorankam, als wenn er nur hätte hinken können.

Was auch immer Keith vorhatte – der Schlüssel dazu befand sich offenbar in dem kleinen Schränkchen neben dem Kamin. Dort musste er ein wenig herumwühlen, bis er gefunden hatte, was er suchte. Michelle war hinter ihn getreten und erwartete gespannt, was Keith zutage fördern würde. Mit einem Schuhkarton in der Hand drehte er sich zu ihr um. Als er den Deckel abhob, begann Michelle zu verstehen.

„Ist das Brennspiritus?“, fragte sie ihn.

„Allerdings. Es wird zwar nicht empfohlen, damit einen Kamin anzufeuern, aber es geht halt schön schnell.“

In dem Karton befanden sich insgesamt sechs volle, kleine Plastikfläschchen mit dem Brandbeschleuniger. Genug, um damit Brände im ganzen Haus zu legen, wenn man es darauf anlegte.

Keith reichte ihr den Karton und zog sich wieder hoch.

„Also gut, hier ist der Plan: Wir nehmen jetzt das ganze Kaminholz und schaffen es rüber zur Treppe. Da schichten wir es dann auf halbem Weg nach oben auf und verteilen den Spiritus darüber. Alles klar?“

Diese Idee gefiel Michelle ausgezeichnet. Sie konnte die Biester schon förmlich brennen sehen. Dann fiel ihr etwas ein, das unbedingt bedacht werden musste.

„Werden wir uns nicht das Haus über dem Kopf anzünden, wenn wir Feuer auf der Treppe machen?“

„Im Abstellraum ist ein Feuerlöscher. Noch einer befindet sich in der Garage, also kommen wir da nicht dran. Ich glaube aber, dass wir mit dem einen schon etwas ausrichten können, wenn sich die Flammen nicht zu weit ausbreiten, bevor wir mit dem Löschen beginnen.“

Es war ohnehin die einzige Möglichkeit, die Treppe in kürzester Zeit zu sichern und so machten sie sich unverzüglich ans Werk. Die meiste Arbeit blieb natürlich an Michelle hängen, doch das war ihr nur recht. Alles war in dieser Situation besser, als untätig zu warten und auf sein Glück zu vertrauen. Die Nacht war noch lang und die Gegner zahlreich.

Es dauerte eine knappe viertel Stunde, bis das gesamte Holz auf den Treppenstufen aufgeschichtet und mit Spiritus getränkt war. Die Dämpfe breiteten sich schnell aus und machten das Atmen unangenehm.

„Ich hoffe, wir überleben die Verpuffung, wenn wir das Feuer anzünden“, gab Michelle zu bedenken, doch Keith winkte nur lässig ab.

„Die Dämpfe werden sich natürlich entzünden, aber das wird kein großes Problem werden. Je weiter von der Treppe entfernt, desto geringer die Konzentration in der Luft. Es wird keinesfalls weiter als einen oder zwei Meter durchzünden. Kein Grund zur Sorge also.“

Das beruhigte Michelle ein wenig, wenngleich sie nicht völlig überzeugt war. Vor Feuer hatte sie einen angemessenen Respekt und Keith mochte ja ein Geheimagent mit Kampfausbildung sein, aber ob ihn das auch zu einem Brandsachverständigen machte? Nun, es blieb ihnen ja ohnehin nichts übrig, als darauf zu vertrauen, dass ihr Plan funktionierte, ohne dass sie sich dabei selbst grillten.

„Jetzt die Fenster“, erinnerte Keith.

„Natürlich, du hast Recht. Was tun wir?“

Michelle wusste, dass es am wirkungsvollsten wäre, die Fenster von innen mit Holzlatten zu vernageln, doch sie wusste auch mit ziemlicher Sicherheit, dass sie so etwas nicht im Haus hatten. Es war also wieder einmal an Keith, eine geniale Idee zu entwickeln. Sie hoffte, dass sein Einfallsreichtum ihn auch jetzt nicht im Stich ließ.

„Panzerband!“

Michelle verstand nicht. Panzer? Ihr Gesicht musste Bände sprechen, denn Keith verdrehte leicht amüsiert die Augen und zeigte dann auf die untere Schublade des Massivholzschrankes auf der anderen Seite des Kamins.

„Da drin ist Panzerband. Bestimmt zwanzig Rollen, wenn ich mich nicht irre. Das ist einfach nur besonders stabiles Klebeband. Damit verkleben wir die Scheiben. Es wird sie nicht aufhalten, aber es verschafft uns vielleicht die entscheidenden Sekunden, die wir brauchen, um reagieren zu können, wenn sie kommen.“

 

Tatsächlich befanden sich genügend Kleberollen in der Schublade, um damit alle Fenster im Erdgeschoss inklusive der Terrassenfenster abkleben zu können. Das Problem dabei war nur, dass sie dazu die Vorhänge beiseiteschieben und den Monstern in die Gesichter würden sehen müssen. Der Gedanke machte Michelle fast wahnsinnig, als er sich erst mal in ihrem Gehirn eingenistet hatte. Es war völlig ausgeschlossen, dass sie das durchstehen würde und Keith schien daran überhaupt noch nicht gedacht zu haben.

„Warte“, schrie sie panisch, als Keith auf das erste Fenster zuging, um die Vorhänge zurückzuziehen.

Mitten in der Bewegung erstarrte er. Jetzt schien auch bei ihm der Groschen gefallen zu sein, denn er begann, sich rückwärts hinkend vom Fenster weg zu bewegen. Dann drehte er sein Gesicht in Michelles Richtung. Er war blass vor Schreck.

„Meine Güte, was ist los mit mir? Ich hätte glatt aufgemacht und sie eingeladen, sich sofort durch die Scheibe auf mich zu stürzen. Danke für die Warnung!“

„Wir können das nicht tun, Keith! Das musst du einsehen, oder?“

„Natürlich nicht“, gab er zerknirscht zu. Was sollten sie also tun? Jetzt schien auch Keith mit seinen Einfällen am Ende zu sein. Michelle wurde klar, dass es jetzt an ihr war, einen vernünftigen Vorschlag zu machen und sie begann, sich das Gehirn zu zermartern. Im Geiste ging sie alle Zimmer und Schränke, in die sie bisher gesehen hatte noch einmal durch. Irgendwo musste eine Lösung zu finden sein. Dann, als sie mit ihrer geistigen Inventur beim Abstellraum angekommen war, weiteten sich plötzlich ihre Augen und sie stürmte los. Sie ließ Keith einfach stehen, ohne ein Wort der Erklärung. Eile war geboten, und wenn sie sich irrte, würde sie das früh genug merken.

Die Tür zum Abstellraum war wieder geschlossen, doch dieses Mal wusste sie, dass keines der Wesen darin lauern konnte. Sie riss sie auf und hämmerte auf den Lichtschalter. Dieses Mal interessierte sie sich nicht für den Beutel mit den Ausrüstungsgegenständen, die Keith auf dem obersten Regal versteckt hatte. Sie suchte fieberhaft den Boden ab und entdeckte den kleinen Werkzeugkasten, an den sie sich erinnert hatte. Er stand offen und obenauf lag, was sie suchte.

Sie riss es heraus, griff sich noch zwei der schweren Pappschachteln, die darunter lagen und eilte zurück ins Wohnzimmer, wo Keith ihr gespannt entgegen blickte.

„Hier! Damit geht es“, jubilierte sie, indem sie ihre Beute triumphierend in die Höhe reckte.

„Ein elektrischer Tacker!“ Seine Stimme überschlug sich fast vor Begeisterung.

„Ja, genau. Wir tackern die Vorhänge rundherum an den Wänden fest. Das verschafft uns genauso einen Vorsprung, als wenn wir die Fenster selbst verkleben würden!“

„Ja, und das Klebeband nutzen wir zusätzlich“, ergänzte Keith euphorisch.

„Erst tackern und dann zusätzlich verkleben. Das funktioniert. Das muss funktionieren“

In Windeseile machten sie den Tacker einsatzbereit und legten los. Keith zog den Vorhang straff und Michelle jagte eine Krampe nach der anderen durch den Stoff in die Wand. Danach klebten sie alles noch rundherum doppelt mit dem Panzerband ab. Das Ergebnis konnte sich sehen lassen. Auf jeden Fall war es wesentlich besser, als die Fenster komplett ungeschützt zu lassen. Sie wiederholten den Vorgang nach und nach an allen Fenstern im Erdgeschoss und auch die großen Terrassenfenster bekamen sie damit in den Griff.

Hochbefriedigt sahen sie sich an, als das Werk vollbracht war. Jetzt hieß es, auf der Hut zu sein.

Keith postierte sich in einem Lehnstuhl unweit der Treppe. Er hatte aus einem der Holzscheite eine kleine Fackel gemacht, die er nun brennend in der Hand hielt. Sobald etwas die Treppe runter käme, würde ein gezielter Wurf den gesamten Treppenaufgang in ein loderndes Flammenmeer verwandeln und alles verbrennen, was versuchte, hindurch zu gelangen. Die Pistole hatte er Michelle überlassen. Ihre Aufgabe war es, die Ohren offen zu halten und zu erkennen, durch welches Fenster sie es zuerst versuchen würden. Sobald sich etwas tat, musste sie dann möglichst schnell hinrennen und versuchen, die Eindringlinge aufzuhalten. Sie konnte dabei nur hoffen, dass sich die Wesen davon beeindrucken ließen, wenn sie einen oder zwei der Ihren verloren. Sicher war das aber keinesfalls. Es war ja nicht einmal sicher, ob man sie überhaupt würde erschießen können.

Als sie jetzt nur noch angespannt warten konnten, bemerkte Michelle, wie still es geworden war. Das Kratzen und Klopfen an den Fenstern hatte aufgehört. Kein Geräusch, außer dem gelegentlichen Knacken der Fackel war zu hören.

„Was haben die vor“, flüsterte sie unsicher.

„Sie werden bald kommen. Das ist die Ruhe vor dem Sturm“, antwortete Keith ebenfalls flüsternd.

Michelle fröstelte und sie hatte einen Kloß im Hals. Ihr ganzer Körper rebellierte gegen die Ruhe, zu der sie sich zwang. Sie verbot es sich, nervös vor sich hin zu pfeifen und sie hielt sich auch sonst im Zaum. Am liebsten wäre sie auf und ab gelaufen wie eine Tigerin, doch das hätte ihre Aufmerksamkeit geschwächt. So völlig regungslos und innerlich hellwach würde ihr auch das kleinste Geräusch nicht entgehen, da war sie sicher.

Die Zeit dehnte sich gefühlt ins Unendliche. Nur das Abbrennen der Fackel in Keith´ ebenfalls unbeweglicher Hand zeigte an, dass höchstens Minuten, statt der gefühlten Stunden vergangen waren, seit das Warten begonnen hatte.

„Was hast du gesagt?“

Seine Stimme riss sie aus ihrer Konzentration.

„Ich habe gar nichts gesagt, Keith!“

Doch dann hörte sie es auch. Keith hatte es zuerst gehört, weil er in seinem Stuhl der Quelle näher war. Es kam aus der Küche. Michelle rannte trotzdem nicht einfach los. Was sie jetzt hörten, war das Wispern und nicht das Geräusch berstender Fensterscheiben. Wenn es sich steigerte, würden sie ihre Ohren schützen müssen. Taten sie das allerdings, wäre ihnen jede Chance genommen, weiterhin aufzupassen, wo sie versuchen würden, ins Haus zu gelangen.

Wir werden es nicht aushalten, ohne die Ohren zu verstopfen. Diese verdammten Schweinehunde wissen, dass sie uns damit am Haken haben.

Zum gleichen Schluss schien auch Keith gelangt zu sein, denn er winkte Michelle zu und deutete auf die Couch, wo die restliche Watte lag.

„Beeil dich, Michelle. Dieses Mal wird es schneller gehen, bis sie uns die volle Dröhnung geben!“

Da sie auch keine bessere Idee hatte, beeilte sie sich, seiner Aufforderung nachzukommen. Ein Gefühl der Hilflosigkeit kam in ihr auf. Sie hatten einen wirklich guten Plan entwickelt und hätten vielleicht sogar Aussicht auf Erfolg gehabt, und nun das. Wie konnten diese Wesen wissen, was sie geplant hatten? Woher stammte ihr Wissen, dass sie hier drin auf ihr Gehör angewiesen waren, wenn sie ihren Plan umsetzen wollten?

„Michelle, verdammt, los jetzt!“

Bereits jetzt war das Getöse so intensiv geworden, dass klares Denken kaum noch möglich war. Nie hätte sie geglaubt, dass diese Stimmen binnen Sekunden ein solches Ausmaß an destruktiver Kraft entwickeln könnten und doch war es so.

Noch bevor sie sich selbst die Watte hineinstopfte, warf sie Keith die Hälfte davon in hohem Bogen zu und der verschwendete keine Zeit. Sobald er versorgt war, entspannten sich seine Gesichtszüge auch schon wieder und er konzentrierte sich unerschütterlich auf die Treppe. Wenn Keith die Situation nehmen konnte, wie sie war, dann konnte sie das auch. Weinend zusammenzubrechen wäre keine Alternative gewesen und alles Jammern würde ihre Situation keinen Deut verbessern.

Mit verstopften Ohren schaffte es Michelle, ihre Gedanken neu zu ordnen und die Alternativen abzuwägen. Der bisherige Plan bestand darin, dass sie an einem fixen Punkt wartete und lauschte. Diese Option konnte sie jetzt vergessen. Die Alternative konnte daher nur lauten, dass sie ihren Posten aufgeben und von jetzt an Patrouille laufen musste. Sie ging den Grundriss des Erdgeschosses im Geiste durch. Wenn sie sich im leichten Laufschritt bewegte, dürfte es kein Problem sein, jedes Fenster alle zwei Minuten zu inspizieren. Eine reine Sichtkontrolle reichte da natürlich nicht aus. Sie musste jeweils überprüfen, ob die Vorhänge noch straff gespannt waren und ob sich irgendetwas bereits gelöst hatte und repariert werden musste.

Also los jetzt. Genug gegrübelt.

Natürlich hatte sie gewusst, dass es mit ihrer Fitness nicht weit her war, aber sie war dennoch überrascht, wie schnell sie außer Atem kam, obwohl sie nicht mal ein mittleres Jogging-Tempo anschlug. Große Sorgen bereitete ihr das aber nicht, denn etwas sagte ihr, dass sie nicht mehr allzu lange würde durchhalten müssen. Der Showdown stand unmittelbar bevor, das konnte sie mit jeder Faser ihres Körpers spüren. Kaum, dass sie das gedacht hatte, ging auch schon alles ganz schnell.

Als Erstes fiel wieder die Temperatur. Fallen war dieses Mal aber kaum das richtige Wort – die Temperaturen stürzten regelrecht ab. Schon konnte Michelle ihren Atem in der Luft kondensieren sehen, wie an einem kalten Wintertag im Freien.

Ihre Hände wurden von der Kälte besonders aggressiv angegriffen und es bereitete ihr regelrechte Schmerzen, die Waffe umklammert zu halten.

Durchhalten Michelle, durchhalten! Es dauert nicht mehr lang. Bald geht alles zu Ende, du musst nur durchhalten.

Die Vorhänge im Wohnzimmer waren alle in Ordnung. In der Küche angekommen stellte sie fest, dass auch hier bisher nichts geschehen war, worüber man sich sorgen musste. Sie wollte sich gerade vom Zustand der Stahltür zum Wäscheraum überzeugen, als trotz der Watte in ihren Ohren ein durchdringender und Beachtung gebietender Schrei aus dem Wohnzimmer zu ihr drang:

„Es geht los! Sie kommen! Michelle, komm, und zwar jetzt!“

Mit einem Mal wurde sie noch eine ganze Stufe ruhiger. Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen und neue Hitze durchströmte ihren Körper. Es war die Hitze des Zorns.

Ihr kommt also, ja? Dann wartet, bis ihr mir begegnet!

Mit ihrer Wut und der entsicherten Waffe stürmte sie los. Jetzt galt es. Jetzt gab es kein Zurück.