Sie las den Brief schließlich nicht einmal, sondern nahezu ein Dutzend Mal. Michelle konnte sich an seiner Handschrift einfach nicht sattsehen und der betörende Duft seines Rasierwassers, der mit seinem eigenen, unverwechselbaren Geruch gemischt war, ließ sie in süßen Erinnerungen versinken. Sie konnte die Nachricht ihres verstorbenen Gatten über eine Stunde lang nicht aus den Fingern legen.
Jetzt, als sie es endlich geschafft hatte, ihn wieder in die Schublade zu stecken, saß sie da und dachte über das nach, was Harry ihr mit dem Brief wirklich hatte sagen wollen.
Harry forderte sie darin auf, nach einer Phase der Trauer wieder am Leben teilzunehmen und ihn in fröhlicher Erinnerung zu behalten. Das Leben, so schrieb er, musste einfach weitergehen, ganz gleich, was geschah.
Beim ersten Lesen, damals als sie die Nachricht erstmals in den Händen gehalten hatte, war ihr das alles so leicht dahingesagt vorgekommen. Wie, so hatte sie sich gefragt, konnte Harry das ernsthaft von ihr verlangen? Wusste er denn nicht, welch riesige Lücke sein Tod in ihr Leben gerissen hatte? Hätte er nicht beim Schreiben schon wissen müssen, wie das für sie sein würde?
Doch jetzt dachte sie anders darüber.
Michelle verstand, dass Harrys einziger Trost beim Gedanken daran, sie vielleicht allein zurücklassen zu müssen, darin bestanden haben muss, dass er sie mit seinem Brief nicht nur trösten, sondern wirklich würde retten können.
Diese Zeilen waren so etwas wie sein letzter Wille und jetzt endlich begriff sie, dass sie diesen in all den Monaten, die seither vergangen waren, vollkommen ignoriert hatte.
Sie stellte sich vor, was Harry wohl denken mochte, wenn er sie aus dem Jenseits betrachtete.
„Ich wollte dich nicht enttäuschen, mein geliebter Schatz“, flüsterte sie.
Es war an der Zeit, etwas zu ändern. Wenn sie Harry wirklich liebte, war es ihre Pflicht, sich nicht länger gehen zu lassen und sich wieder dem Leben zuzuwenden.
Doch wie sollte das hier gehen? Hier, wo sie durch jede Ecke, jedes Möbelstück und jeden Raum an ihn erinnert wurde? Wenn sie morgens in die Küche kam, konnte sie ihn dort mit einem Kaffee in der Hand sitzen sehen.
Ging sie ins Bad, war es das Bad, in dem er sich rasiert hatte, wo er unter der Dusche gestanden und unter der er sie ab und zu sogar geliebt hatte. „Ich kann das nicht, Harry.“
Ihre Freundin Juanita hätte es vielleicht gekonnt. Sie war in der Lage, die Dinge zu nehmen, wie sie sind und zu tun, was zu tun ist.
Was würde Juanita tun?
Sie wusste es nicht, aber der Gedanke an ihre Freundin brachte sie auf eine andere Idee. Sie musste definitiv hier raus, sonst würde sie nie den Abstand bekommen, den sie brauchte, um Harrys letztem Willen Genüge zu tun. Juanitas Eltern besaßen eine Finca auf Mallorca und Michelle hatte ihrer Freundin bisher immer abgesagt, wenn sie ihr angeboten hatte, die Finca zum Ausspannen zu nutzen. Heute aber schien es Michelle der richtige Tag zu sein, das Angebot anzunehmen.
Sie rappelte sich auf, so schnell es mit ihren vom unbequemen Sitzen versteiften Beinen ging und eilte zum Telefon.
Juanitas Nummer konnte sie immer noch auswendig. Nach so vielen Jahren und all dem, was sie beide als beste Freundinnen zusammen erlebt und durchgemacht hatten, konnte es auch gar nicht anders sein.
Michelles Finger flogen über die Tasten des Telefons und nach nur zweimaligem Klingeln erklang Juanitas Stimme am anderen Ende der Leitung. „Michelle, mein Schatz, was gibt es? Alles in Ordnung bei dir?“
Juanita klang etwas besorgt und Michelle konnte es ihr nicht verdenken. In letzter Zeit war es immer Michelle gewesen, die angerufen wurde und kein einziges Mal hatte sie von sich aus den Kontakt zu ihrer Freundin gesucht.
Michelle gab sich Mühe, fröhlich zu klingen:
„Juanita! Keine Sorge, bei mir ist alles in Ordnung. Ich wollte fragen, ob die Finca deiner Eltern auf Mallorca in der nächsten Zeit frei wäre.“
Juanita jauchzte, so dass Michelle den Hörer kurz vom Ohr nehmen musste. „Michelle, weißt du eigentlich, wie froh ich bin, dass du mich das fragst?“
Michelle musste lächeln. Ihre Freundin war von Grund auf impulsiv, und wenn sie sich freute, dann hielt sie damit nicht hinter dem Berg. Dafür liebte Michelle sie. Juanita war ein Energiebündel und eine unverbesserliche Optimistin und Michelle fand es wunderbar, dass sie ihr anscheinend gerade eine große Freude machte.
„Also Süße, rühr´ dich nicht vom Fleck, OK? Ich renne nur schnell ins Schlafzimmer und rufe meinen Dad mit dem Handy an. Ich bin in einer Minute zurück, Okay?“
„Mach dir keinen Stress, Juanita! Ich laufe nicht weg“, versprach Michelle ihr lachend.
Dann hörte sie ihre Freundin auch schon davonpoltern. Einige Sekunden später konnte Michelle undeutlich hören, wie Juanita in einem Wortschwall auf Spanisch offenbar auf ihren armen Vater einredete. Nicht, dass ihr Vater nur Spanisch verstanden hätte, doch wenn Juanita aufgeregt war, geschah es leicht, dass sie in die Sprache ihrer Kindheit verfiel.
Ihr Vater war mit ihrer Familie aus Spanien nach San Diego gekommen, als Juanita gerade drei Jahre alt war. Als Unternehmer, der damals gerade auf dem amerikanischen Markt Fuß zu fassen begann, war das ein notwendiger, wenn auch für die Familie schwerer Schritt gewesen.
Jetzt hörte Michelle bereits, wie Juanita wieder aus dem Schlafzimmer zu ihrem Telefon im Wohnzimmer zurück gerannt kam.
„Bist du noch da, Süße?“ Juanita wartete die Antwort gar nicht erst ab, sondern begann sofort zu sprudeln:
„Also Daddy sagt, es geht klar! In diesem Jahr ist die Finca nur für die Weihnachtszeit gebucht. Frühling und Sommer hatte er geblockt, für den Fall, dass er mit Mom vielleicht mal wieder hätte hinfliegen wollen, aber das wird ja jetzt nichts, wo er doch die neue Niederlassung in Phoenix aufbauen muss.“
Als Juanita eine kurze Pause machte, um Luft zu holen, warf Michelle ein:
„Juanita, beruhige dich! Ich hatte doch noch gar nicht gesagt, dass ich hin will. Ich hatte nur vorsichtig angefragt, ob sie noch frei wäre und du buchst gleich einen Aufenthalt für mich!“
Michelle musste ein Kichern unterdrücken, um ihre Stimme streng klingen zu lassen. Es gelang ihr kaum.
„Keine Widerrede“ , fiel Juanita ihr ins Wort.„Wenn du es schaffst, morgen noch einen Flug nach Palma zu bekommen, wirst du von unserem Verwalter Keith am Flughafen abgeholt. Es ist alles bereits arrangiert. Das Haus ist in Schuss, das Wetter da drüben ist herrlich, und wenn du willst, kannst du einen Monat lang bleiben, oder auch zwei, wenn du möchtest.“
„Einen Monat? Bist du verrückt? Ich will doch nicht auswandern.“
„Und was hast du hier in San Diego in der nächsten Zeit so dringend zu erledigen“, fragte Juanita spitz.
„Du hast die letzten Monate ja kaum deine Wohnung verlassen, Süße und ich denke nicht, dass du das die nächsten Monate von allein tun würdest, wenn du bliebest, wo du bist, habe ich nicht Recht?“
Michelle gab zu, dass sie Recht hatte. Und so blieb ihr nichts anderes übrig, als sich zu bedanken und das großzügige Angebot anzunehmen.
Als sie aufgelegt hatte, wusste sie noch gar nicht, wie ihr gerade geschehen war. Hatte sie tatsächlich beschlossen, schon am nächsten Tag spontan auf eine Insel in Europa zu fliegen, um dort auf unbestimmte Zeit allein in einem fremden Haus zu leben? Nun, das hatte sie wohl.
Michelle klappte ihr Notebook auf und suchte nach Flügen für den morgigen Tag.
Zu ihrer Überraschung wurde sie schnell fündig und buchte spontan ein One-Way-Ticket.
Wann sie wieder heimfliegen würde, wusste sie ja noch nicht und ein Rückflugticket würde sie dann zu gegebener Zeit eben von Mallorca aus buchen.
Zufrieden und mit einem Gefühl der Vorfreude, dessen sie sich noch vor einer Stunde gar nicht für fähig gehalten hatte, begann sie, ihre Sachen zu packen.