15. KAPITEL

Die vier Seiten lasen sie mit zusammengesteckten Köpfen in weniger als zehn Minuten in atemloser Spannung durch. Keith war als Erster fertig, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und pfiff anerkennend durch die Zähne.

„Das ist ja der absolute Hammer!“

Nachdem sie die letzten paar Zeilen überflogen hatte, lehnte auch Michelle sich zurück und begann, laut nachzudenken,

„Jetzt passt endlich alles zusammen. Das Haus bringt seinen Bewohnern Glück, genauso, wie es in dem Buch steht. Aber eine Ausnahme gab es bisher und das war im Jahr 1913.“

„Und wie es aussieht“, warf Keith ein, „ist es mal wieder an der Zeit für so eine Ausnahme. Und ausgerechnet uns muss es treffen. Wir sind schon ganz schöne Glückspilze.“

Ein säuerliches Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Es schien ihm nicht zu gefallen, was sie herausgefunden hatten.

„Nun guck doch nicht so mürrisch. Das ist doch gut für uns!“

Er sah sie an, wie eine Geisteskranke.

„Gut für uns? Vielleicht hast du es ja überlesen, aber diese Familie, die es von hundert Jahren mit dem Haus zu tun bekommen hat, wurde hier abgeschlachtet. Man hat ihre Leichen mit eingeschlagenen Köpfen hier gefunden und das nur einen Tag, nachdem sie das Haus gekauft hatten. Was ist daran gut?“

Vor lauter Fassungslosigkeit bemerkte Keith zunächst gar nicht, wie Michelle belustigt den Kopf schüttelte. Als er es dann doch sah, wurde er noch wütender.

„Was gibt es denn da zu grinsen? Willst du morgen hier mit einem Loch im Schädel liegen und mit der Zahl dreizehn in deinen Körper geritzt? Das ist denen nämlich passiert, Michelle!“

Jetzt wurde es Michelle zu bunt. Sie knallte mit der flachen Hand auf die letzte der vier wiedergefundenen Seiten und rief:

„Wenn du schon etwas liest, Keith, dann mache dir doch auch die Mühe, zu erkennen, was daraus folgt. Der Verfasser hat doch die Vermutung geäußert, dass alle hundert Jahre so eine Ausnahme von der Regel auftritt, nicht wahr? Das Haus wurde 1813 errichtet und 1913 war dann das erste Jahr, in dem die Finca seine Besitzer getötet hat, statt sie zu schützen. Und welches Jahr haben wir?“

„Das Jahr 2013, ich weiß, ich weiß. Das habe ich schon verstanden. Wo steckt denn da der Witz, den ich nicht verstehe?“

Lies doch einfach, was da steht Keith!

Ihr Blick sprach Bände und Keith schien davon beeindruckt zu sein. Statt weiter zu lamentieren, klappte er den Mund wieder zu und nahm sich widerwillig noch einmal die letzte Seite vor. Er las mit voller Konzentration. Seine Stirn lag in Falten und seine Augen waren zusammengekniffen doch von einem Augenblick auf den anderen änderte sich sein Ausdruck plötzlich. So sah es aus, wenn ein Mensch von der Erkenntnis getroffen wurde, dachte Michelle und atmete auf.

„Besitzer! Es geht um die Leute, die das Haus im Jahr 1913 erworben haben! Sie haben nicht einfach nur hier gewohnt, sondern ihnen gehörte dieses verdammte Haus.“

„Jetzt hast du es!“

„OK, lass mich mal sagen, wie ich es verstehe: Du glaubst auch, dass wir zwar ein Problem haben, aber zumindest nicht befürchten müssen, dass uns diese Wesen im Auftrag der Finca umbringen werden, richtig?“

„Absolut“, pflichtete Michelle ihm bei.

„Gut, denn wir sind ja nicht die Besitzer des Hauses. Es geht um die Besitzer. Wer immer in einem Jahr 1913, 2013 oder irgendeinem anderen Jahr, das hundert Jahre nach der Errichtung der Finca liegt im Besitz des Hauses hat, ist in Lebensgefahr.“

Als er merkte, was er da gesagt hatte, schwieg er betreten und sah Michelle zerknirscht an.

„Ich weiß, was du denkst, Keith. Die Tirados besitzen das Haus und deshalb sind sie in Gefahr.“

„Vor allem Juanita“, ergänzte er.

„Aber es passt noch nicht ganz zusammen, findest du nicht? Juanita ist von Jake entführt worden, und der ist aus Fleisch und Blut. Ich glaube nicht, dass die Finca etwas mit der Entführung zu tun hat. Aber dieser Fluch, oder was immer es ist, kann eine Chance für uns sein, Juanita zu retten.“

An dieser Stelle schnalzte Keith anerkennend mit der Zunge.

„Was führst du im Schilde? Raus mit der Sprache!“

„Ich finde, das liegt auf der Hand. Wer das Haus in diesem Jahr besitzt, hat den Fluch am Hals. Momentan ist das Juanitas Familie. Unser Glück, oder das der Tirados, ist, dass Jake Thorn momentan geradezu darum bettelt, diesen Fluch auf sich zu nehmen.“

Bei diesem Gedanken musste sich Keith vor Freude auf die Schenkel schlagen. Ein Kind, das seinen Eltern gerade einen gelungenen Streich gespielt hat, hätte nicht vergnügter wirken können.

Diesen Ausbruch der Freude konnte Michelle zwar bis zu einem gewissen Grad nachvollziehen, doch sie betrachtete Keith mit gemischten Gefühlen. Zwar war sie auch der Meinung, dass sie möglicherweise die Lösung für ihr Problem gefunden hatten, aber zwei Dinge begannen ihr zunehmend penetrant im Kopf herumzuspuken.

„Keith, ich habe trotzdem Angst“, eröffnete sie ihm, was seinen Anfall guter Laune abrupt beendete. Es war nicht so sehr, was sie gesagt hatte, sondern das Wie. In Michelles Stimme hatte etwas Alarmierendes gelegen, das sagen wollte: Wir übersehen vielleicht etwas.

„Wo liegt der Fehler“, wollte er wissen.

“Ich weiß nicht, ob es ein Fehler ist, aber wir sollten zwei Dinge nicht aus den Augen verlieren. Erstens glauben wir ja nur, dass es so ist, wie es der Fremde in seiner Chronik schreibt. Es klingt zwar alles plausibel, aber wir sollten immerhin die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass er völlig daneben liegt. Aber selbst wenn er Recht hat, wie wir hoffen, wissen wir immer noch nicht, ob der Fluch Jake überhaupt etwas anhaben könnte. Er ist nicht hier. Er hält sich tausende von Meilen entfernt in Kalifornien auf. Wie können wir wissen, dass die Macht dieses Fluches so weit reicht? Die Familie damals hat es erwischt, als sie das erste Mal ihr neu erworbenes Haus betreten haben. Ich meine, es war ja nicht so, dass sie schon beim Notar der Blitz getroffen hat.“

Damit hatte sie Keith etwas zum Knabbern gegeben. Er kaute angestrengt nachdenkend auf seiner Unterlippe herum, während er Michelles Einwände abwog. Doch er gab sich noch nicht geschlagen.

„Mag alles sein, Michelle. Aber denkst du nicht auch, dass wir gar keine andere Wahl haben, als es darauf ankommen zu lassen? Die CIA hat nicht den blassesten Schimmer, wo Thorn sich aufhält und ohne ihn werden sie Juanita nicht finden. Die Frist läuft ab. Wir werden seinen Forderungen sowieso nachkommen müssen, ganz egal, ob wir bei der Sache mit dem Fluch richtig liegen oder nicht. Das Einzige, was zählt, ist, dass wir zumindest einige berechtigte Hoffnung haben, dass Juanita am Leben bleibt und es stattdessen Thorn an den Kragen geht.“

Selbstverständlich konnte sie Keith in diesem Punkt nur Recht geben. Mit dem Restrisiko mussten sie leben. Die zweite Sache, die ihr im Kopf herum ging, war aber ohnehin wesentlich beunruhigender. Keith war offenbar noch nicht von selbst darauf gekommen.

Voller Sorge blickte sie an Keith vorbei zum Fenster. Als er bemerkte, dass sie mit den Gedanken ganz woanders war, folgte er ihrem Blick und erstarrte, als er begriff.

„Scheiße, nein!“

Ein resignierter Seufzer war das Einzige, was Michelle als Antwort zustande brachte. Jetzt stand er hinter ihr und hielt ihre Hand. Die Suche nach den fehlenden Seiten war erfolgreich verlaufen. Das Geheimnis des wiederkehrenden Fluches hatte sie entdeckt und eine Möglichkeit, Juanita zu retten, hatte sie möglicherweise auch gefunden. All diese Erfolge hatten sie unvorsichtig gemacht und jetzt bekamen sie die Quittung präsentiert.

Die Sonne war untergegangen.