18. KAPITEL

Nachdem der Horror zu Ende gegangen war, hatten Michelle und Keith lange geredet. Sie hatten dem Greis etwas versprochen, ohne zu wissen, ob sie ihr Versprechen würden halten können. Hätten sie erwähnen sollen, dass der neue Besitzer, den sie ihm liefern wollten, gar nicht auf der Insel war? War es dem Geist überhaupt möglich, seine Rache über Kontinente hinweg zu transportieren?

„Ich wüsste nicht, was dagegen spricht. Wenn er ein Geist ist, kann er sich doch materialisieren, wo er will“, argumentierte Keith.

„Und was, wenn er an dieses Haus gebunden ist?“, wollte Michelle wissen.

„Ich habe von Spukhäusern in England gelesen und davon, dass Geister sehr wohl an einen bestimmten Ort gebunden sein können. Ich würde die Möglichkeit wenigstens in Betracht ziehen.“

Irgendwann waren alle Argumente ausgetauscht, ohne dass sie zu einem Ergebnis gekommen waren. Letztlich einigten sie sich darauf, dass sie es darauf ankommen lassen mussten. Es war ihre letzte Option.

Bei Sonnenaufgang war es beschlossene Sache. Keith würde Mr. Tirado anrufen und ihm die Aussichtslosigkeit der Lage schildern. Michelle und Thorn waren für die CIA unauffindbar, also würde man den Forderungen der Entführer nachkommen müssen.

Es war neun Uhr morgens, als Keith sich ein Herz fasste und endlich das Telefon in die Hand nahm. In San Diego musste es jetzt in etwa Mitternacht sein und noch länger sollte er mit dem Anruf besser nicht warten. Mit etwas Glück war Mr. Tirado noch wach und musste nicht erst aus dem Bett steigen, um den Anruf entgegen zu nehmen.

Michelle zog es vor, Keith den Anruf allein machen zu lassen und zog sich nach draußen an die Poolbar zurück. Das Tageslicht tat ihr unendlich gut und half ein wenig gegen den tiefsitzenden Schrecken der letzten Nacht. Beim Anblick des wolkenlosen Himmels seufzte sie ergriffen auf und dankte Harry innerlich aus tiefstem Herzen dafür, dass er seine schützende Hand über sie gehalten hatte, als es darauf ankam. Jetzt musste doch alles gut werden. Ganz bestimmt würde Mr. Tirado Keith zustimmen und die notwendigen Schritte veranlassen und dann hatte Thorns letzte Stunde geschlagen.

Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben.

Diesen unwillkommenen Gedanken verscheuchte Michelle, so gut es ging. Sie wollte an etwas Anderes denken, doch es gelang ihr nicht wirklich. Dann kam der Moment, als Keith aus dem Haus kam und erleichtert den Daumen reckte.

„Im Laufe der nächsten Stunden überschreibt Mr. Tirado die Finca an die Offshore-Firma. Ich konnte ihn überzeugen.“

Sie rannte zu ihm und fiel ihm in die Arme. Er hielt sie ganz fest und flüsterte beruhigend in ihr Ohr, dass nun alles gut enden würde. Wenn Michelle es sich hätte aussuchen können, wäre sie ewig so stehen geblieben. Seine Nähe tat so gut und ließ so viel Zuversicht in ihr aufkeimen.

„Es wird ein paar Stunden dauern, bis die Transaktion durch ist. Der Vorgang ist nicht ganz unproblematisch und Mr. Tirado hat sofort, noch während wir telefonierten, eine ganze Armada von Wirtschaftsanwälten darauf angesetzt. Außerdem muss er dazu noch die eine oder andere Gefälligkeit bei beteiligten Behörden und Banken einfordern, aber er ist sehr zuversichtlich, dass alles noch vor Sonnenuntergang über die Bühne gehen wird.“

Sie brauchten nicht darüber zu reden, was geschehen würde, wenn es bis Sonnenuntergang nicht gelangen würde, Thorn zum neuen Besitzer der Finca zu machen. Der alte Mann hatte zwar kein Ultimatum ausgesprochen, aber es konnte kaum ein Zweifel daran bestehen, dass er sie zumindest noch einmal nachdrücklich an ihr Versprechen erinnern würde, sobald es Nacht wurde und er seine Rache immer noch nicht hatte.

Der Tag schritt voran und die Sonne wanderte über den Himmel, passierte den Zenit und näherte sich dem Horizont, hinter dem sie bald verschwinden würde. Der Anruf kam nicht.

„In einer knappen wird die Dämmerung anbrechen“, bemerkte Keith und begann, die Pistole zu reinigen und neu zu laden.

„Das brauchst du nicht zu tun, Keith. Noch einmal werden wir nicht davon kommen, egal, wie viele von ihnen du erwischst. Es sind zu viele und sie sind zu stark.“

„Was zum Teufel soll ich denn sonst tun? Warten und mich abschlachten lassen, wenn es so weit ist?“

„Schrei mich nicht an! Ich kann doch nichts dafür. Ich..“

Die Tränen kamen völlig unvermittelt und nichts konnte sie aufhalten. Den Satz zu Ende zu sprechen, war Michelle unmöglich. Natürlich hatte Keith nicht die Absicht gehabt, sie zu verletzen, doch die Anspannung in seiner Stimme hatte bei ihr das Fass zum Überlaufen gebracht. Ihr Nervenkostüm war ein für alle Mal am Ende.

Genau in diesem Augenblick geschah es: Das Telefon klingelte. Sie hatten es den ganzen Tag immer wieder so verzweifelt angestarrt, als es still und untätig auf dem Pooltisch gelegen hatte und jetzt waren beide völlig überwältigt, dass es tatsächlich klingelte. Unfähig zu reagieren glotzte Keith den Hörer an.

Geh´ schon ran, geh schon ran.

„Geh schon ran verdammt! Keith!“

Das riss ihn aus seiner Starre. Mit zitternder Hand riss er den Hörer hoch und drückte die Annahmetaste.

„Hallo! Mr. Tirado? Was? Oh! Ja, ich verstehe, das ist …das ist wirklich eine tolle Nachricht! Ja sicher. Nein, Sie werden sehen, alles kommt in Ordnung. Mr. Tirado, Sie sind der Größte! Ja, bitte halten Sie uns auf dem Laufenden!“

Mit einem Jubelschrei beendete Keith das Telefonat und sprang auf. Mit einem Schmerzensschrei brach er gleich darauf wieder zusammen.

„Pass´ doch auf! Dein armer Fuß!“

„Scheiß auf den Fuß“, lachte Keith mit schmerzverzerrtem Gesicht und gleichzeitig euphorischem Blick.

„Die Übertragung ist durch! Mr. Jake Thorn ist jetzt glücklicher Besitzer einer exklusiven und geisterverseuchten Finca auf der wunderschönen Insel Mallorca!“

Da Keith vor Schmerzen und Begeisterung beim besten Willen nicht auf die Beine kam, warf Michelle sich neben ihn auf den Boden und küsste ihn zärtlich auf die heiße Stirn.

„Oh, Keith! Lass´ uns beten, dass er auch bekommt, was er verdient.“

„Das wird er ganz sicher. Verlass´ dich drauf!“